Chile / Politik

Referendum in Chile: Progressive Verfassung abgelehnt

62 Prozent der Wahlberechtigten stimmen gegen die Reform. Präsident Boric lädt alle politischen Parteien zur Zusammenarbeit ein, um gemeinsam einen neuen Verfassungsprozess in Gang zu bringen

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Chile beim Wählen - trotz Fahrrad und Jugend wurde auch an dieser Wahlurne die neue Verfassung abgelehnt
Chile beim Wählen - trotz Fahrrad und Jugend wurde auch an dieser Wahlurne die neue Verfassung abgelehnt

Santiago. Autokorsos in den wohlhabenden Vierteln der Hauptstadt: Es ist lang her, dass die reiche und meist rechte Bevölkerung der Oberschichtviertel gefeiert hat. Nun sei "Chile vom Kommunismus" befreit, heißt es dort. Denn deutlich lehnte am Sonntag eine Mehrheit von knapp 62 Prozent den Entwurf für eine neue Verfassung ab.

"Die Intoleranz, der Fanatismus und der Geist der Neugründung des Landes wurden heute besiegt", sagte der Sprecher der "Amarillos por Chile", Christian Warnken, gegenüber den Medien.

Mit der neuen Verfassung sollten soziale Rechte eingeführt, feministische Grundsätze in den Aufbau des Staates übernommen und das Land in einen plurinationalen Staat verwandelt werden. All dies ist nun auf vorerst vorbei.

"Es war eine große Vereinfachung der Realität zu denken, die chilenische Bevölkerung würde einen radikalen Wandel wünschen, doch so war es seit Oktober 2019", meint der Anwalt und Kolumnist Carlos Peña in El País.

Das Wahlergebnis ist ein herber Rückschlag für die politische Linke und die linksreformistische Regierung von Präsident Gabriel Boric, die mit aller Macht versucht haben, Chile zum "Grab des Neoliberalismus" zu machen. Gegen diesen Reformwillen stemmte sich eine breite Koalition aus rechten Parteien und wichtigen politischen Figuren der ehemaligen Mitte-Links-Regierungskoalition Concertación, die sich entgegen der Entscheidung ihrer Parteien gegen die neue Verfassung stellten.

Mit dem Wahlsieg sei auch die "ideologische, radikale Linke" besiegt worden, meint der ehemalige rechte Abgeordnete des Verfassungskonvents, Christian Monckeberg, gegenüber den Medien.

Schon vor der Wahl sagten alle Umfragen einen Sieg des gegnerischen Lagers voraus. Allerdings lag die Hoffnung der Befürworter:innen darin, dass die erstmals wieder eingeführte obligatorische Wahlteilnahme mit automatischer Einschreibung im Wahlregister eine Voraussage erschweren würde. Doch anstatt das Ergebnis dadurch in Richtung einer Zustimmung zur neuen Verfassung zu bewegen, geschah genau das Gegenteil: die Umfragen sagten einen Wahlsieg von etwa 55 Prozent für das Gegner:innenlager voraus, das tatsächliche Ergebnis liegt jedoch sogar sieben Prozentpunkte drüber.

Während manche die Gründe der Wahlschlappe hinter einer breit angelegten Desinformationskampagne sehen, gehen andere davon aus, dass der Reformwillen des Verfassungskonvents tatsächlich zu radikal war. Am Abstimmungsabend erklärte Präsident Boric in einer Ansprache: "Die chilenische Bevölkerung hat gesagt, dass sie nicht mit dem Entwurf einverstanden ist. Man verlangt von uns mit mehr Eifer, Dialog, Respekt und Zuneigung an einer neuen Verfassung zu arbeiten."

Der Präsident selbst lud gleich nach Bekanntwerden der ersten Abstimmungsergebnisse alle Parteien zu einer Sitzung am Montag ein. Ziel sei es, einen neuen verfassungsgebenden Prozess anzustoßen. Denn, so die Interpretation, mit der Abstimmung sei nur dieser eine Verfassungsentwurf abgelehnt worden. Da aber im Oktober 2020 einer deutliche Mehrheit von knapp 80 Prozent gegen die aktuelle Verfassung und für eine Neue gestimmt hätten, sei der Auftrag klar: Weiterhin muss eine neue Verfassung ausgearbeitet werden.

Wie das stattfinden soll, ist aber derzeit unklar. Schon jetzt lehnten die rechten Parteien die Einladung zur gemeinsamen Sitzung ab.