Chiles Verfassungsentwurf: Ein Beitrag für den Weltfrieden

Beschluss der Mitgliederversammlung der International Association of Lawyers against Nuclear Arms (IALANA )vom 05.-06.08.2022

Die deutsche Sektion der IALANA begrüßt den Verfassungsentwurf als großen Erfolg und bedeutsame Chance zur Überwindung historischer Ausgrenzung und Unterdrückung sowie einer friedensrechtlichen Fortentwicklung des Verfassungsrechts – und das nicht nur für Chile. Die Friedensbewegung und Menschenrechtsorganisationen sind gleichermaßen aufgerufen, den Erfolg des Verfassungsentwurfs im Plebiszit am 4. September zu unterstützen.

In Chile steht eine neue Verfassung zur Abstimmung. Der am 4. September 2022 per Plebiszit abzustimmende Entwurf soll die Verfassung von 1980 ablösen. Die dafür erforderliche Mehrheit scheint allerdings aktuell nicht sicher. Dabei betrifft die innerchilenische Entscheidung nicht nur diesen südlichsten Staat der Welt. Denn wenngleich es sich um eine nationalstaatliche Verfassung handelt, ist die Entscheidung von regionaler und globaler Bedeutung – dies nicht zuletzt aus historisch informierter friedenspolitischer Perspektive.

Schon die ILO-Verfassung von 1919 beginnt ihre Präambel mit der Feststellung, dass dauerhafter und universeller Frieden nur auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit erreichbar ist. Ein Erfolg des Plebiszits könnte einen symbolischen und rechtlich-institutionellen Bruch mit 500 Jahren kolonialer Unterdrückung der indigenen Völker und Ausbeutung der Natur sowie 50 Jahren neoliberaler Marginalisierung weiter Teile der Bevölkerung über die Grenzen Chiles hinaus signalisieren. Ein Scheitern dagegen könnte den 1973 von der Militärjunta Augusto Pinochets eingeschlagenen neoliberalen und repressiven Pfad verstärken.

Der von Pinochet angeführte Staatsstreich des Militärs vom 11. September 1973 beendete nicht nur den während des kalten Krieges bedeutendsten Versuch in Lateinamerika, auf demokratischem Weg die die ganze Region kennzeichnende extreme soziale Ungleichheit einschließlich der Ausgrenzung und Enteignung der indigenen Völker zu überwinden sowie soziale Rechte für die gesamte Bevölkerung zu institutionalisieren. Die Militärdiktatur leitete zugleich mit der Privatisierung des Rentensystems und dem Verbot überbetrieblicher Gewerkschaften sowie der Minimalisierung arbeitsrechtlicher Schutzmechanismen die globale neoliberale Epoche ein.

Die Rolle des Militärs wurde hier – wie in anderen Teilen Lateinamerikas – funktional neu bestimmt: An die Stelle der Verteidigung vor äußeren Feinden trat die gewaltsame Unterdrückung sozialer Bewegungen und Autonomie suchender indigener Gruppen. Nicht nur die Verhinderung sozialer Neuverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, sondern auch die Neu-Institutionalisierung einer privatisierten Sozialordnung wurde militärisch, d.h. durch institutionalisierte physische Gewalt durchgesetzt.

Seit über 40 Jahren wird Chiles politische, ökonomische und soziale Ordnung von einer Verfassung bestimmt, deren Kern in den 1970er Jahren hinter verschlossenen Türen von einer Gruppe weißer westlicher Experten auf Geheiß der Militärjunta erarbeitet wurde, auch mit deutscher Beteiligung. Diese Verfassung stand ursprünglich für die Verfolgung und Unterdrückung politischer Gegner:innen und sozialer Bewegungen, für die dauerhafte Einführung eines neoliberalen Wirtschaftssystems, die Unterwerfung indigener Völker sowie eine Herrschafts- und Kontrollfunktion des Militärs. Sie selbst sah den Übergang in eine formale Demokratie ab Ende der 1980er Jahre vor.

Wenngleich die Verfassung von 1980 nach dem Ende der Diktatur in einigen Bereichen grundlegend reformiert wurde, war dies aufgrund der erforderlichen Mehrheiten nur im Konsens zwischen konservativen und moderaten Kräften möglich. Daher blieben bei den Reformen strittige Themen wie die neoliberale Wirtschaftsverfassung, die Einführung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte sowie die Rechte der indigenen Bevölkerung, aber auch die Sonderstellung des Militärs weitestgehend unberührt. Die Aufhebung des Parteienverbots, die partielle Rehabilitierung von Opfern des Putsches, die Wiederzulassung von Gewerkschaften oder die Ratifizierung des ILO-Übereinkommens 169 zum Schutz indigener Völker änderten daran wenig.

Das zeigt nicht zuletzt der mit kurzen Unterbrechungen seit Jahrzehnten währende Ausnahmezustand im Süden Chiles (Araucanía). Das vor allem dort lebende indigene Volk der Mapuche, die größte der rund 11 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachenden indigenen Nationen Chiles, wehrt sich seit Ankunft der spanischen Conquistadores im 16. Jahrhundert gegen Landgrabbing (Landraub) und Zerstörung ihrer Ländereien durch große Forstwirtschaftsunternehmen und Ausbeutung von Bodenschätzen sowie Wasservorkommen in der Region. Ihr Widerstand wird von Seiten des Staates als terroristisch gebrandmarkt, ihr Verständnis von Eigentums- und Besitzrechten, Selbstorganisation, Umwelt- und Naturschutz sowie Spiritualität werden marginalisiert und ignoriert.

Vom Rest der Welt weitgehend unbeachtet befindet sich Chile so seit Jahrzehnten in einem latenten Krieg, der kein Bürgerkrieg ist, weil die Angehörigen der ursprünglichen Völker Chiles ohne Aufgabe ihrer kulturellen Identität de facto nicht als vollwertige Bürger:innen akzeptiert wurden – und nicht zuletzt nicht an der Erarbeitung der bisherigen chilenischen Verfassungen beteiligt waren.

Der im Oktober 2019 beginnende Estallido social, der Aufstand der Bevölkerung, mündete mit dem 2021 gewählten Verfassungskonvent in einem Kompromiss der sozialen Bewegungen mit dem tradierten Herrschaftsregime. Der ausgearbeitete Verfassungsentwurf hat, trotz der kurzen Frist für die Ausarbeitung sowie des Kompromisscharakters vieler Formulierungen das Potential, für den Frieden in Chile sowie das regionale und globale Verhältnis des historischen Globalen Nordens und Südens wesentliche Signale zu senden.

Aus friedensorientierter Partizipationsperspektive ist bereits sein Zustandekommen bedeutsam: erstmals gab es eine geschlechterparitätisch besetzte verfassungsgebende Versammlung und eine proportionaler Vertretung der indigenen Bevölkerung.

Der Verfassungsentwurf (im Folgenden: VE) hebt sich von der Verfassung von 1980 als Manifest des Friedens und der gesellschaftlichen Teilhabe ab. Dem bisherigen nationalen „Einheitsstaat“ (Art. 3, 5) wird der "soziale und demokratische Rechtsstaat" als "plurinationaler , interkultureller, regionaler und ökologischer" Staat mit "inklusiver und paritätischer Demokratie" entgegengesetzt, der die Menschenrechte als "Fundament" und Orientierungsgröße betrachtet, einschließlich der staatlichen Pflicht, alle Personen in die Lage zu versetzen, gleichermaßen in ihren Genuss zu kommen (Art. 1 VE).

Erstmals werden indigene Völker und Nationen als koexistierend anerkannt, deren freie Selbstbestimmung einschließlich repräsentativer Teilhaberechte in den staatlichen Wahlkörperschaften garantiert wird (Art. 5 VE).

Die paritätische Vertretung von Männern und Frauen in Gremien und Institutionen werden ebenso garantiert wie die substantielle Gleichheit der unterschiedlichen Geschlechter (Art. 6 VE). Neben der Anerkennung der Interdependenz von Menschen und Natur (Art. 8 VE) werden auch der Natur eigene Rechte zugestanden (u.a. Art. 19 Abs. 3, 98, 103 VE). Der Verfassungsentwurf bietet so Antworten auf die wesentlichen Friedensfragen der nächsten Jahrzehnte: das Verhältnis zwischen (historischem) Globalem Norden und Süden, sowie zwischen Mensch und Natur.

Der Verfassungsentwurf bedeutet einen Umbruch in der Funktion des Militärs. In der noch geltenden Verfassung von 1980 stehen sieben Artikel zu Streitkräften und Nationalem Sicherheitsrat (Art. 101-107) sowie weitere sechs Artikel zu Ausnahmezuständen (Art. 39-45) drei Artikeln zu Grund- und Menschenrechten (Art. 19-21) gegenüber. Im Verfassungsentwurf wird die Funktion der Streitkräfte auf die Verteidigung gegen äußere Aggressionen nach dem in der Charta der Vereinten Nationen etablierten Maßstab begrenzt (Art. 299 VE).

Die Beschränkung von Grund- und Menschenrechten wird von bislang fünf Notstandsformen (äußerer und innerer Krieg, Aufruhr, Notfall und Katastrophe) auf die Fälle internationaler bewaffneter Konflikt, interner bewaffneter Konflikt nach Maßgabe der VN sowie den Katastrophenfall (Art. 300 f. VE) reduziert und materiell- sowie verfahrensrechtlich stark beschränkt.

Der Verfassungsentwurf institutionalisiert zudem in einem ausführlichen Kapitel zu Grund- und Menschenrechten ein rechtliches Gerüst mit dem Ziel substantieller Gleichstellung historisch exkludierter und marginalisierter Menschen einschließlich des Schutzes der Natur. Während die Verfassung von 1980 bei Privatisierung des Wassers ausdrücklich das privatnützige Eigentumsrecht daran garantiert (Art. 19 Nr. 24), deklariert die neue Verfassung Wasser als Gemeineigentum und schließt eine Privatisierung aus (Art. 134 Nr. 2 VE).