Schritt für Schritt zur Aufarbeitung der Geschichte

Langsam aber stetig schreitet in Venezuela die Aufarbeitung der staatlichen Repression früherer Zeiten voran. Neue Anklagen wegen des Caracazo

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"Kein Vergessen, kein Vergeben" für den Caracazo fordern Demonstranten (Februar 2010)
"Kein Vergessen, kein Vergeben" für den Caracazo fordern Demonstranten (Februar 2010)

Caracas. Verschiedene Initiativen in Venezuela zielen darauf ab, die größten Verbrechen der Zeit der sogenannten "Vierten Republik" von 1958 bis 1998 juristisch aufzuarbeiten. Anfang Februar hatte die Generalstaatsanwältin des südamerikanischen Landes, Luisa Ortega Díaz, erklärt, insgesamt 1.600 Fälle zu untersuchen, bei denen Venezolaner in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren verschwanden, hingerichtet oder gefoltert wurden.

Nach der Installation der repräsentativen Demokratie 1958 hatten sich Sicherheitskräfte des Staates immer wieder Menschenrechtsverbrechen schuldig gemacht. Insbesondere während der Präsidentschaft des Sozialdemokraten Raúl Leoni (1964 bis 1969) entwickelte sich das Verschwindenlassen zu einer gängigen Praxis der Aufstandsbekämpfung. In den achtziger Jahren hingegen gingen vier Massaker an der Zivilbevölkerung in die Geschichte ein, die bis heute nicht juristisch aufgearbeitet wurden: In Cantaura (1982), Yumare (1986) und El Amparo (1988) folterten und töteten Sicherheitskräfte Aktivisten der Linken und Zivilisten, die sie für solche ausgaben. Während der Niederschlagung des Caracazo am 27. Februar 1989 schließlich töteten Polizei, Armee und Nationalgarde unabhängigen Schätzungen zufolge mehrere Tausend Menschen.

Vor knapp drei Wochen kündigte Ortega Díaz zwei neue Verfahren in diesem Fall an. Dem ehemaligen Kommandanten der Nationalgarde, Freddy Maya Cardona, und dem ehemaligen stellvertretenden Kommandanten der Polizei von Groß-Caracas (Policía Metropolitana), Luis Guillermo Fuentes Serra, wird eine Mitschuld am Tod von 21 Menschen vorgeworfen. Bisher laufen lediglich drei weitere Verfahren im Zusammenhang mit diesem Massaker an der Zivilbevölkerung. Auch gegen den damaligen Präsidenten Venezuelas, Carlos Andrés Pérez, hatte die venezolanische Justiz einen internationalen Haftbefehl erwirkt. Er wird jedoch nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können: "CAP" starb im Dezember in den USA.

Eine weitere Initiative der Geschichtspolitik wurde Anfang Februar von Überlebenden des Massakers von Yumare angestoßen. Bei einem Treffen mit Parlamentspräsident Fernando Soto Rojas überreichten sie einen Entwurf für ein "Gesetz gegen die Straffreiheit". Ziel des Gesetzes sollten drei Aspekte sein, so die Überlebenden: Die Aufarbeitung der historischen Geschehnisse, die Etablierung von Gerechtigkeit und die Entschädigung der Opfer. Auch sei die Einrichtung einer Wahrheitskommission geplant, so Luis Machado, einer der Überlebenden. Am 8. Mai 1986 waren bei besagtem Massaker in der Nähe der Ortschaft Yumare neun Menschen durch die venezolanische Geheimpolizei (DISIP) gefoltert und ermordet worden.

Zu Widersprüchen innerhalb des chavistischen Lagers führte unterdessen der Einzug von Roger Cordero Lara in die neue Nationalversammlung. Der Abgeordnete der sozialistischen Partei (PSUV) für den Bundesstaat Guárico wird von Menschenrechtsgruppen beschuldigt, 1982 am Massaker von Cantaura beteiligt gewesen zu sein. So forderte die venezolanische Menschenrechtsorganisation PROVEA das Präsidium des Parlaments auf, die Immunität Cordero Laras aufzuheben und seine Vergangenheit zu untersuchen. Heikles Detail: Auch der Vater des Parlamentspräsidenten Fernando Soto Rojas, Victor Soto Rojas, war in den achtziger Jahren Opfer der staatlichen Repression geworden. Sicherheitskräfte hatten ihn in den sechziger Jahren aus einem Hubschrauber geworfen.