Bogotá. Der jüngste Anschlag auf den Präsidentschaftsvorkandidaten Miguel Uribe Turbay hat ein Thema wieder ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt, das viele lieber vermeiden: die anhaltende politische Gewalt in Kolumbien. Auch wenn manche behaupten, wir lebten in einer voll entwickelten Demokratie, bleibt die Realität bestehen: In Kolumbien riskiert man nach wie vor das Leben, wenn man Politik macht.
Die Geschichte Kolumbiens ist geprägt von der Ermordung von Präsidentschaftskandidaten, Oppositionsführern, Gemeinderäten, Bezirksvertretern und Sprechern der Bevölkerung. Von den politischen Attentaten auf Obando, Sucre, Uribe Uribe, Gaitán, Pardo Leal, Jaramillo, Galán, Pizarro und Gómez bis hin zu den Hunderten ermordeter Friedensunterzeichner und sozialer Führungspersonen – diese Gewalt ist nicht verschwunden. Sie hat sich lediglich verändert, wurde in bestimmten Phasen abgeschwächt, verlagerte sich in andere Regionen – trifft aber weiterhin vor allem diejenigen, die über keine große Sichtbarkeit verfügen.
Zwischen 2016 und 2024 wurden laut einer Auswertung von Datensätzen mindestens 74 Kandidaten für öffentliche Ämter ermordet. 53 von ihnen kandidierten für Gemeinderäte, die Mehrheit in ländlichen Gebieten oder in mittelgroßen Städten. Neun waren Frauen, viele von ihnen mit Wurzeln in der Basisarbeit oder in gemeinschaftlichen Prozessen. Es handelt sich nicht um nationale Persönlichkeiten mit staatlichem Personenschutz, sondern um lokale Führungskräfte, die sich täglich mit staatlicher Vernachlässigung, krimineller Gewalt und politischer Intoleranz konfrontiert sehen.
Diese Menschen kandidierten für öffentliche Ämter, waren aber zugleich Gemeindesprecher, Verteidiger ihrer Territorien, Umweltaktivisten oder Sprachrohre ihrer Gemeinden. Viele begleiteten soziale Prozesse oder regionale Wahlprojekte. Gerade in dieser Schnittstelle zwischen sozialem Engagement und politischer Beteiligung konzentriert sich in Kolumbien ein Großteil des Risikos – als wäre dieser Anspruch auf Mitgestaltung ein Todesurteil.
Trotz der im Friedensabkommen formulierten Zusage der Nicht-Wiederholung ist politische Gewalt weiterhin präsent. Und sie äußert sich nicht nur in Morden, sondern auch in Form von Drohungen, Stigmatisierungen, Sabotagen, willkürlichen Strafverfahren und der systematischen Ausgrenzung unbequemer Stimmen – sei es auf lokaler oder auf nationaler Ebene.
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Mit Blick auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen reicht es nicht aus, Garantien für bekannte oder medial präsente Kandidaten zu fordern. Es müssen reale Bedingungen für Sicherheit und Teilhabe geschaffen werden – für diejenigen, die aus den Randzonen Politik machen, für lokale Führungspersonen ohne Netzwerke, für Frauen ohne finanzielle Rückendeckung, für indigene und afrokolumbianische Gemeinden, die Repräsentation einfordern, und für all jene sozialen Sektoren, die in der Politik ein Werkzeug der Veränderung sehen – nicht des Geschäfts.
Deshalb sind folgende Forderungen dringend notwendig:
- Kollektive Schutzmechanismen für soziale Führungspersonen, die sich zur Wahl stellen, insbesondere in Hochrisikogebieten, müssen gestärkt werden.
- Der gleichberechtigte Zugang zu Wahlkampffinanzierung, zu Medien und zu Sicherheitsgarantien muss gewährleistet werden, damit nicht nur diejenigen ohne Angst kandidieren können, die über staatliche Unterstützung oder politische Netzwerke verfügen.
- Politisch motivierte Straftaten müssen konsequent untersucht und bestraft werden, um den Kreislauf der Straflosigkeit zu durchbrechen.
- Eine öffentliche Bildungsarbeit gegen politische Stigmatisierung muss von staatlichen Institutionen, Parteien und Medien getragen werden.
- Der Grad an Garantien in von illegalen Wirtschaften oder bewaffneten Konflikten betroffenen Gebieten sollte als Bewertungskriterium für demokratische Wahlen gelten.
Politische Gewalt ist kein Relikt der Vergangenheit – sie ist ein aktuelles und strukturelles Problem. Gleichzeitig birgt sie eine Chance: den Aufbau einer Demokratie, die nicht nur auf dem Papier existiert, sondern in den Territorien gelebt und verteidigt wird. Das Leben derjenigen zu schützen, die ihre Gemeinden politisch vertreten wollen, heißt auch, die Demokratie selbst zu schützen. Und das geht uns alle an.