Chile / Politik

Der 11. September in Chile: Gedenken auf höchster Ebene

Mit offizieller Veranstaltung der Regierung und vielen lokalen Aktivitäten gedachte Chile des Endes der sozialistischen Regierung Allende durch den blutigen Militärputsch vor 50 Jahren

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Präsident Gabriel Boric begleitete den traditionellen Marsch durch Santiago zum Hauptfriedhof
Präsident Gabriel Boric begleitete den traditionellen Marsch durch Santiago zum Hauptfriedhof

Santiago. Am Montag bestimmte der offizielle Festakt der Regierung von Chile unter Beteiligung von inländischen Persönlichkeiten und ausländischen Gästen die Nachrichten. Mit den Präsidenten von Mexiko, Kolumbien und Bolivien, Andrés Manuel López Obrador, Gustavo Petro und Luis Arce waren bedeutende Vertreter der lateinamerikanischen Politik angereist. Mit dem ehemaligen Präsidenten von Uruguay, José Mujica und dessen Ehefrau Lucía Topolansky, nahmen zwei aktive Zeitgenossen des Kampfes gegen die lateinamerikanischen Diktaturen der 1970er-Jahre teil.

Bereits tags zuvor fand der traditionelle Marsch durch Santiago zum Hauptfriedhof statt, der ein kurzes Stück von Präsident Gabriel Boric begleitet wurde. Am späten Nachmittag versammelte sich eine große Anzahl Menschen vor dem Nationalstadium, das bereits am Tage des Putsches in ein Konzentrationslager verwandelt wurde.

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"Nunca más": Tausende Frauen zogen um den Präsidentenpalast
"Nunca más": Tausende Frauen zogen um den Präsidentenpalast

Am Abend organsierten tausende Frauen einen Trauermarsch rund um den Präsidentenpalast La Moneda. Die Frauen in schwarzer Bekleidung und mit Kerzen skandierten den in diesen Tagen immer wieder gehörten Ruf "Nunca más" (nie wieder).

Während in ganz Chile hunderte lokale Gedenkveranstaltungen stattfanden, begingen rechte und ultrarechte Kreise Provokationen und fanden große Aufmerksamkeit in den Massenmedien.

Der jährliche Marsch von Menschenrechtsorganisationen, politischen Parteien und linken Organisationen anlässlich des 11. September konnte nach langer Zeit wieder an der Pforte "Morande 80", die Tür an der Ostseite des Präsidentenpalastes La Moneda, vorbeiziehen, durch die 1973 die Militärs eindrangen, um den Leichnam Allendes abzutransportieren. An dieser Stelle reihte sich Boric ein. Als der Zug bereits den Ort passiert hatte, begannen vermummte Jugendliche die Außeneinrichtungen der Moneda zu demolieren und lösten ein erstes Einschreiten der Polizei aus. Die einmal zerstreute Gruppe trat in der Nähe des Hauptfriedhofs erneut auf den Plan, ein Demonstrant wurde brutal niedergeschlagen. Das unverhältnismäßige Vorgehen der Polizei mit Wasserwerfern und Sondereinheiten veranlasste die Organisatoren schließlich zum Abbruch des Marsches, ohne die Bühne für die Abschlussveranstaltung erreicht zu haben.

Das linke Bewegungsprojekt Frente Fotográfico versah dokumentierte Bilder mit einem Text, der den Unmut zusammenfasst. "Chile ist ein Beispiel für eine schlecht verheilte Wunde, ohne dass der Staat den Willen hat, sie zu heilen".

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Ausschreitungen am Rande der Gedenkveranstaltungen zum Putsch
Ausschreitungen am Rande der Gedenkveranstaltungen zum Putsch

Unter Beteiligung ehemaliger und aktueller Staats- und Regierungschefs, die auch die "Erklärung von Santiago" unterzeichneten, eröffnete Isabel Allende Bussi, Tochter des ermordeten Präsidenten, die offizielle Gedenkfeier der Regierung. Ihre Rede wurde mit stehendem Applaus entgegengenommen.

In der Erklärung, eine Initiative von Präsident Boric für eine politische Selbstverpflichtung, wird dazu aufgerufen, "die Demokratie zu pflegen und zu verteidigen, die Verfassung, die Gesetze und die Rechtsstaatlichkeit zu achten". Den "Herausforderungen der Demokratie" solle "mit mehr und nicht mit weniger Demokratie" begegnet, Gewalt verurteilt und Konflikte friedlich beigelegt werden. Die Zusammenarbeit zwischen den Staaten müsse einen "Unterschiede respektierenden Multilateralismus stärken", der die "nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaften" anstrebe.

Neben nationalen Vertretern aus Politik, Kultur und Menschenrechtsorganisationen waren viele nationale und internationale Künstler anwesend, unter anderem Tom Morello von der Band "Rage Against the Machine".

Ein sichtlich bewegter Präsident verurteilte den Militärputsch als Mittel der Politik, die schweren, darauffolgenden Menschenrechtsverletzungen als staatlichen Terror. Er hob die internationale Solidarität, die Tausenden Chilenen und Chileninnen das Leben rettete hervor und bestätigte die Verpflichtung seiner Regierung und der demokratischen Öffentlichkeit des Landes für die Erhaltung und Stärkung der Demokratie. Kubas Rolle in dem solidarischen Beistand wurde zwar erwähnt, kubanische Staats- oder Regierungsvertreter waren jedoch nicht offiziell eingeladen.

Auf der anderen Seite blieb die führende Rolle der USA bei dem Militärputsch unerwähnt, US-Präsident Joe Bidens Sonderberater für Amerika war unter den geladenen Gästen.

Wie vorher angekündigt blieben die rechten und ultrarechten Oppositionsparteien dem Akt fern und weigerten sich auch, die von Boric vorgelegte politische Selbstverpfichtung mitzutragen. Als Grund wurde anfänglich die angebliche Unausgewogenheit des Aktes genannt. Am Tag des Gedenkens wurde jedoch eine Stellungnahme bekannt, in der diese Kräfte den 11. September als "unausweichlich" bezeichneten. Dies aufgrund "der starken Polarisierung, die von einem Teil der chilenischen Linken provoziert wurde" und "da die Regierung der Unidad Popular die Zerstörung der Demokratie zugelassen" habe.

Wie jedes Jahr gedachten am Nachmittag Tausende vor den Toren des Nationalstadions den Opfern der Diktatur. Gemeinsam mit vielen anderen wurden in den Putschtagen hier der Wirtschaftsminister Allendes, Pedro Vuskovic und Alberto Corvalán, Sohn des damaligen KP-Vorsitzenden gefangen gehalten. Dies war der erste Ort der Folterung oder Hinrichtung derjenigen, die das Militär der Anhängerschaft Allendes zuordnete. Die Veranstaltung wurde von einem breiten Kulturprogramm begleitet.

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Angehörige von Opfern der Diktatur fordern Wahrheit und Gerechtigkeit
Angehörige von Opfern der Diktatur fordern Wahrheit und Gerechtigkeit

In ganz Chile wurden lokale Mahn- und Gedenkveranstaltungen durchgeführt.

Nach 20 Jahren waren endlich alle bürokratischen und politischen Hürden gefallen und in Renca, Santiago, wurde ein Mahnmal für die Opfer der Militärdiktatur eingeweiht. Die vorwiegend von Arbeiterfamilien bewohnte Gemeinde war nicht nur Ort von Folter und Mord, sondern hier wurden ebenfalls die Leichen angeschwemmt, die die Kräfte des Staatsterrorismus flussaufwärts in Santiago ins Wasser geworfen hatten. Die Regierung entsandte Justizminister Luis Cordero, um eine Ansprache zu halten.

Ebenfalls am Montag organisierten die Gewerkschaften des Gesundheitswesens in der Eingangshalle des öffentlichen Krankenhauses Felix Bulnes in der Gemeinde Cerro Navia eine Gedenkveranstaltung. Bilder der Opfer und rote Nelken schmückten die Glasfassaden und schwarze Plakate mit weißer Schrift dokumentierten die Zeugenaussagen sexuell gefolterter Frauen und Mädchen.

Diese wie hunderte ähnliche Veranstaltungen blieben von den Massenmedien weitgehend unbeachtet, während eine Würdigung des Putschgenerals Augusto Pinochet auf dem Familiengrundstück El Boldo mit großem Aufwand dokumentiert wurde. Besonders schwer wiegt diese Provokation durch die Beteiligung der rechten Abgeordneten Camila Flores und des wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilten früheren Agenten des Geheimdienstes der Diktatur, Cristián Labbé.