"Wir werden das bisschen Demokratie, das in Guatemala noch übrig ist, verteidigen"

Interview über die aktuelle Situation der indigenen Völker in Guatemala mit Mercedes Adelina García Marroquín und Rigoberto Juárez Mateo

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Seit Oktober 2023 protestieren die Indigenen Gemeinschaften Guatemalas permanent gegen den versuchten Wahlputsch
Seit Oktober 2023 protestieren die Indigenen Gemeinschaften Guatemalas permanent gegen den versuchten Wahlputsch

Mercedes Adelina García Marroquín ist indigene Bürgermeisterin von Comitancillo, Rigoberto Juárez Mateo Koordinator der Plurinationalen Ahnenregierung der Maya Akateka, Maya Chuj, Maya Q'anjob'al, Maya Popti' Indigene Nationen

Seit dem 2. Oktober 2023 protestieren die Indigenen Gemeinschaften Guatemalas. Das sind inzwischen über drei Monate Dauerprotest. Können Sie den Kontext dieses Widerstands erläutern?

Rigoberto Júarez Mateo: Es ist mehr als ein Widerstandskampf, es ist die ständige Verteidigung unserer Rechte und die Verteidigung unseres Landes. Wir haben von unseren Vorfahren die Beharrlichkeit in ihrem Handeln geerbt, weshalb wir, das Volk der Maya, uns ständig gegen die vom Staat geförderte Enteignungsdynamik gewehrt haben. In unserer Geschichte können wir eine Tradition des Kampfes für der Verteidigung des Lebens, des Territoriums und der Menschenrechte erzählen. Der gerade stattfindende nationale Protest ist ein Teil dieser Verteidigung.

Es ist ein weiteres Verteidigungs-Szenario der Maya-Dörfer, die wir seit dem Moment der gewaltsamen Invasion Europas erleben. Das Maya-Territorium ist Objekt ständiger Enteignung. Wir haben mit der Zeit Verteidigungsmechanismen gegen die gewaltsame militärische Invasion entwickelt. Die Kämpfe von 1524 wurden zu einem ständigen Kampf gegen diese Enteignung. Unsere Vorfahren kauften das Land von der spanischen Krone, nachdem es ihnen gestohlen worden war.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die vorherrschende Korruption eine Praxis ist, die von den kolonialen Herrschern übernommen wurde.

Zum Beispiel haben sich unsere Vorfahren bei der Unabhängigkeit 1821 auch gegen die Tribute erhoben und bis heute erheben sie sich in allen Maya-Gebieten, um ihr Land und ihre Gebiete zu verteidigen.

Für uns ist die Unabhängigkeit nichts anderes als die Finanzierung des korrupten Lebens der Kreolen. Diese gründeten ihren Staat und eine Republik, die bis heute nicht richtig funktioniert, die Republik heißt Guatemala.

Das zeigte sich vor allem in den Jahren 1870, 1944, 1954, 1992/1993 und der kriminellen Haltung dieses Staates und heute ist es noch genauso.

Was war der Auslöser, dass die indigenen Gemeinschaften so geeint wie nie zuvor für eine so lange Zeitspanne die Straßen fluten und dauerhafte Protestcamps in der Hauptstadt, die oft weit entfernt von ihrer Heimat liegen, eingerichtet haben?

Rigoberto Júarez Mateo: Die Korrupten haben begonnen, sich zu wehren und zu bewaffnen, als sie merkten, dass sie die Wahlen nicht auf betrügerische Weise gewinnen konnten. Wir als indigene Autoritäten1 sehen, dass die Korrupten aktuell immer noch versuchen, die Wahlen an sich zu reißen. Aber der Betrug war kein durchdachtes Unterfangen: Der Pakt der Korrupten arbeitet immer noch an einem Betrugsprozess, dieser hat aber nicht erst mit dem Tag der Präsidentenwahl begonnen.

Das hat schon bei der Aufstellung der Kandidaten für die Wahlen angefangen, da disqualifizierte das Wahlgericht Oppositionskandidaten wie Telma Cabera2. Jordan Rodas wurde ebenfalls ausgeschlossen3. Hinzu kommen Persönlichkeiten wie Roberto Azul4.

Der Plan war also zu garantieren, dass sich die Kandidaten, die auf der Seite der Korrupten sind, aufstellen zulassen. Die Bahn sollte frei sein für Sandra Torres, Zuri Rios und Manuel Conde. Die Korrupten haben jedoch nicht damit gerechnet, dass die Semilla-Bewegung 5 erscheinen würde, um Torres Konkurrenz zu machen.

So konnten die Korrupten am 25. Juni 6 nicht die von ihnen gewünschte Wirkung zu erzielen und versuchten im Nachgang, die Dinge zu verändern. Am 25. Juni erklärten sie, dass es sich um Wahlbetrug handle. Aber wie kann das sein, wenn sie es sind, die für den Betrug verantwortlich sind? Es ist widersprüchlich, da sie den Betrug vorbereitet haben. Der erste Schritt war, vor den Gerichtshof zu gehen. Dann haben sie einen Staatsstreich "Tropfen für Tropfen und Stück für Stück" begonnen. Sie erfanden Dinge und sorgten dafür, dass Angestellte am Gericht in ihrem Sinne handelten.

Es gab aber Personen im Wahlgericht, die sich von diesem Pakt der Korrupten entfernten und nicht in ihrem Namen handelten. Während dieser gesamten Zeit war und sind die Mobilisierung der indigenen Völker und ihrer Anführer die wichtigste Kraft, die den Staatsstreich abwehren.

Trotz der monatelangen Proteste setzen die Korrupten ihren Staatsstreich fort. Wie immer leiden die indigenen Völker unter der Situation und es sind nicht die politischen Parteien oder Präsidenten, die das Blutvergießen abhalten.

Mercedes Adelina García Marroquín: Wir Indigenen haben friedlich demonstriert, da der Staat uns nicht respektiert. Es ist die Rede davon, dass wir streiken, aber das stimmt nicht: Wir sind auch nicht bewaffnet. Wir haben nur geredet und uns friedlich ausgedrückt. Leider haben sich die staatlichen Institutionen der Korruption hingegeben und die Institutionen in ihrem Sinne prostituiert. Mittlerweile erfüllen die staatlichen Einrichtungen nicht mehr die Aufgaben, für die sie eingerichtet wurden.

Warum ist der aktuelle Protest so wichtig? Können wir von einem historischen Moment sprechen?

Mercedes Adelina García Marroquín: Der Protest ist mit dauerhafter Arbeit verbunden: manchmal gehen wir in unsere Heimat, um von der Basis aus zu organisieren. Es handelt sich um eine friedliche Demonstration. Wir werden so lange demonstrieren, bis wir bekommen, was unsere indigenen Anführer wollen.

Die Verteidigung hat nicht erst im Oktober begonnen. Wir werden immer in einer Verteidigungsposition sein. Hier in Guatemala versteht der Staat die indigene Bevölkerung nicht. Es geht nur um Ausübung von Macht und sie wollen über uns herrschen. Deshalb haben wir uns verteidigt, deshalb schöpfen wir Kraft, um zu koexistieren. Wir wollen, dass unsere Vielfalt respektiert wird. Wir sind mehr als 23 Nationalitäten. Die Invasion hat nicht mit der Beendigung der Kolonialherrschaft aufgehört: In diesem Moment dringen sie in die Gebiete ein. Sie kamen wegen der Goldminen in unsere Gebiete zurück, auch deshalb geht unser Kampf weiter.

Das Problem ist, dass sie uns nur bei Wahlen so viele Dinge anbieten. Aber dieses Mal hat das Volk eine bewusste Wahl getroffen, und wir werden das bisschen Demokratie, das in Guatemala noch übrig ist, verteidigen.

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Zeremonie indigener Gemeinschaften während der Proteste in San Marcos La Laguna
Zeremonie indigener Gemeinschaften während der Proteste in San Marcos La Laguna

Wie sehen Sie die Ergebnisse der bisherigen Monate der Proteste?

Mercedes Adelina García Marroquín: Es ist positiv, weil sie friedlich verlaufen sind, weil wir indigene Autoritäten im ständigen Dialog waren und es ständige Versammlungen gab. Die Wahl konnte nicht gestohlen werden, wir sehen das positiv. Wir hoffen weiterhin, dass die verantwortlichen Korrupten kein Blutvergießen verursachen werden, denn das Volk hat entschieden, und es wäre ungerecht, ihm die Stimme zu stehlen. Wir glauben, dass der Übergang und der Amtsantritt möglich sind. Wenn nicht, wäre es eine Rückkehr zu den schwierigsten Zeiten Guatemalas und das Volk wird nicht zulassen, dass die korrupten Leute über uns herrschen werden. Das bisschen Demokratie muss respektiert werden, die Korrupten haben das Volk nicht respektiert und unsere Ressourcen schlecht verwaltet.

Diesmal ist es nicht so einfach, unsere Wahl zu stehlen, wie sie es bisher immer getan haben. Heute gibt es öffentliche Statistiken. Diesmal ist den Korrupten alles entglitten, so dass sie fliehen müssen, weil sie keinen Weg finden, sich über das Volk lustig zu machen.

Diesmal zeigen wir den Korrupten, dass wir das nicht zu lassen und dass wir wollen, dass die Regeln der Wahl respektiert werden.

Wir, das sind die Mehrheit der indigenen Völker, sowie Studenten, Ladenbesitzer, Menschen, die Lebensmittel gespendet haben, wir sind nicht wenige, die diesen Widerstand geleistet haben. Mit der Kraft des Volkes werden wir diese Demonstrationen nicht aufgeben. Wir werden immer die Demokratie, die Würde und die Autonomie der indigenen Völker verteidigen, denn die Unterdrückung ist permanent.

Was passiert, wenn der Präsident sein Amt am 14. Januar nicht antreten kann? Haben Sie Angst?

Mercedes Adelina García Marroquín: Unser mehrheitlicher und einvernehmlicher Konsens der indigenen Autoritäten wird entscheiden, was wir tun werden.

Rigoberto Júarez Mateo: Wir haben immer gelebt und werden immer leben, da wir eine Welt für unsere zukünftigen Generationen wollen. Dies impliziert Aktionen, die sich in einer harmonischeren und friedlicheren Umwelt entwickeln, um unsere Weisheit weiterzugeben.

Haben wir Angst vor dem, was kommt? Unser Volk war in dieser Hinsicht immer sehr pragmatisch. Wir müssen uns schon immer auf das Unbekannte vorbereiten, deshalb haben wir keine Angst. Wir sollten uns auf alles vorbereiten, um ein Morgen mit Frieden, Entwicklung und Harmonie zu schaffen.

Der Pakt der Korrupten wird die Macht nicht so einfach aufgeben. Er bereitet sich vor. Sie haben den Prozess des Friedensabkommens zum Scheitern gebracht, sie wollen keine Reformen, sie wollen keine Volksbefragung, sie haben sich dem Justizsektor widersetzt und sie haben die UN-Wahrheitskommission aus dem Land entfernt.

Aber dieses Mal kann es anders sein, wenn die Gesellschaft ihre Rolle versteht. Wir als indigene Bevölkerung waren da. Jetzt müssen die Mestizen auch Verantwortung übernehmen. Auch die Akademiker müssen Verantwortung zeigen. Unsere Universitäten sind der Ort, an dem Fachleute, die künftig für den Staat arbeiten, ausgebildet werden. Wir müssen die Art der Ausbildung verändern, damit die Leute ihre Arbeit gut machen.

Es gibt korrupte Juristen im Obersten Gerichtshof und man fragt sich, welche Rolle die Ausbildung gespielt hat, da sie nutzlos sind. Sie haben so viel Schaden angerichtet. Es ist notwendig, Leute auszubilden, die ihre Arbeit im Namen des Volkes machen.

Was wird kommen? Es kann alles passieren, wir sind auf alles vorbereitet. Wir schätzen die internationale Unterstützung. Wir schätzen die Erklärung, der Europäischen Union, Sanktionen zu verhängen.

Meine persönliche Meinung ist, dass zu spät gehandelt wurde. Seit die Kommission das Land verlassen hat, fordern wir die Indigenen die Behörden der EU auf, bei den Sanktionen schärfer vorzugehen. Die EU sollte mit den Maßnahmen drastischer sein.

Es ist auch wichtig zu erkennen, dass die Menschen Steuern in den Ländern der EU zahlen und diese dann von den Korrupten ausgegeben werden. In Guatemala sollten diese Steuern gut investiert werden, aber sie sind in den Taschen der Korrupten gelandet, das passiert mit dem Geld, das aus dem Ausland kommt.

Wir hoffen, dass die ergriffenen Maßnahmen ein wenig dazu beitragen können, die Taten der Korrupten zu korrigieren, die ihre Rolle in ihrer öffentlichen Funktion nicht verstanden haben.

  • 1. Der Begriff Indigene Autorität bezieht sich auf die Position, die ein Mitglied innerhalb der Gemeinschaft hat. Ein Teil der Autoritäten haben ein politisches Amt auf Zeit inne, diese werden gewählt und agieren innerhalb einer hierarchischen Struktur. Andere Autoritäten erhalten ihren Platz im Maya-Volk auf Lebenszeit durch Berufung, wie die Heiler:innen, Geburtshelferinnen und spirituelle Ratgeber:innen
  • 2. Aktivistin und Politikerin in Guatemala mit indigener Herkunft, die sich für Rechte der indigenen Völker einsetzt
  • 3. Oppositionsführer, der sich gegen die Korruption in Guatemala ausgesprochen hat, er lebt inzwischen in Spanien im Exil
  • 4. Azul wurde vom Obersten Wahlgericht nicht als Präsidentschaftskandidat zugelassen
  • 5. Links-sozialdemokratische Bewegung, die aus den großen Antikorruptionsprotesten hervorgegangen ist und den designierten Präsidenten Bernardo Arévalo unterstützt, der überraschend als Außenseiterkandidat zum neuen Staatschef gewählt wurde
  • 6. Tag der Präsidentschaftswahl 2023