Pestizide als mögliche Ursache für mehr Leukämiefälle bei Kindern in Brasilien

Glyphosat könnte laut Studie Auslöser sein. Anbaugebiete von Soja besonders betroffen. Zulassungen von Pestiziden unter Regierung Lula nicht rückläufig

bild_glyphosat.jpg

Die Regierung Lula hält bei Pestizidzulassungen das Tempo der Vorgängerregierung unter Jair Bolsonaro bei
Die Regierung Lula hält bei Pestizidzulassungen das Tempo der Vorgängerregierung unter Jair Bolsonaro bei

Brasília/Washington. Eine neue US-Studie stellt einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg von Leukämiefällen bei Kindern, der Ausweitung des Sojaanbaus und dem weit verbreiteten Pestizideinsatz auf Sojaplantagen in Brasilien her. Die Veröffentlichung erfolgt inmitten der Diskussion im brasilianischen Parlament über einen Gesetzesentwurf zur weiteren Deregulierung und Beschleunigung der Pestizidzulassung, den Kritiker:innen als "Giftpaket" bezeichnen.

Die in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlichte Studie dokumentiert, dass mindestens 123 zusätzliche Todesfälle bei Kindern unter zehn Jahren zwischen 2008 und 2019 mit dem Einsatz von Pestiziden beim Sojaanbau in der Region der Trockensavanne Cerrado und im Amazonas-Regenwald zusammenhängen.

Die Forscher:innen konnten feststellen, dass sich die Sojaanbaufläche im Cerrado zwischen 2000 und 2019 von fünf auf 15 Millionen Hektar verdreifachte, während sie im Amazonas-Regenwald um das 20-fache wuchs: von 0,25 auf fünf Millionen Hektar. Der Pestizideinsatz in den beiden untersuchten Regionen hat sich im gleichen Zeitraum verdrei- bis verzehnfacht.

Dieser Anstieg geht einher mit der Zahl der Krebsfälle. Nach den Berechnungen der Studie gab es pro zehn Prozent Anstieg der Sojaproduktion vier zusätzliche Todesfälle bei Kindern unter fünf Jahren und 2,1 zusätzliche Todesfälle bei Kindern unter zehn Jahren pro 100.000 Einwohner:innen.

Etwa die Hälfte der Todesfälle bei Kindern durch Leukämie zwischen 2000 und 2019 stehen im Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Intensivierung der Sojaproduktion und dem Ausgesetztsein von Kindern gegenüber Pestiziden, so die Hauptautorin Marin Elisabeth Skidmore. Der Kontakt mit den Chemikalien erfolgte demnach über das Oberflächenwasser, wenn die Sojaproduktion und der Pestizideinsatz flussaufwärts im Einzugsgebiet liegen.

Die Zahl der zugelassenen Pestizide unter der dritten Amtszeit von Luiz Inácio Lula da Silva ist bis Anfang November bereits auf 431 gestiegen und wird voraussichtlich bis Ende des Jahres weiter steigen. Die aktuelle Regierung hält bei den Pestizidzulassungen das Tempo der Vorgängerregierung unter dem ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro bei.

In den letzten Jahren haben mehrere Studien den Zusammenhang zwischen dem intensiven Einsatz von Pestiziden in Brasilien, zunehmenden Krebserkrankungen und weiteren Gesundheitsproblemen aufgezeigt. Laut einer Erhebung von Agência Pública und Repórter Brasil wurden in Brasilien von 2019 bis März 2022 mehr als 14.000 Menschen durch Pestizide vergiftet.

Bei den zuletzt 21 neu zugelassenen Pestiziden handelt es sich um konzentrierte Produkte, die für den Verkauf im Handel zusammen gemischt werden müssen. Einer ersten Analyse zufolge stammen 17 der zugelassenen Produkte von chinesischen und die anderen vier von indischen Firmen. Die meisten Pestizidprodukte in Brasilien und anderen Ländern des globalen Südens kommen mittlerweile aus China und Indien.

Dabei handelt es sich um billigere Generika oder "Post-Patent"-Produkte. Oft sind sie im Ursprungsland des Patents nicht mehr zugelassen oder werden gerade verboten, weil sie sehr gefährlich für die Umwelt und die menschliche Gesundheit sind.

Der Analyse zufolge werden in Brasilien 2,3-mal mehr Pestizide pro Hektar eingesetzt als in den USA und dreimal mehr als in China, die beim absoluten Pestizidverbrauch an erster und dritter Stelle stehen. Der Pestizideinsatz im brasilianischen Sojaanbau hat insbesondere nach der ersten Zulassung gentechnisch veränderter Sojasorten im Jahr 2004 zugenommen.

Eine neue Studie von Wissenschaftler:innen aus Europa, den USA und Südamerika legt eine mögliche Verbindung zwischen der explosionsartigen Zunahme von Leukämiefällen bei Kindern und dem Einsatz von Glyphosat, dem weltweit am meisten verwendeten Herbizid, nahe. Selbst Dosen von 0,5 mg pro Kilogramm Körpergewicht und Tag, die derzeit in der Europäischen Union als sicher gelten, haben negative Auswirkungen, so die Studie.

Die US-Umweltschutzbehörde (EPA), die Glyphosat bisher als nicht krebserregend einstufte, muss die Zulassung des Wirkstoffs auf gerichtliche Anordnung hin neu überprüfen, weil sie nicht ausreichend untersucht hatte, ob der Wirkstoff Krebs verursacht. In den letzten Jahren hat das höchste US-Gericht des Landes den deutschen Chemie- und Pharmakonzern Bayer, der Monsanto gekauft hat, dazu verurteilt, Opfer von Glyphosat zu entschädigen, von denen viele an Leukämie erkrankten.

Die Weltgesundheitsorganisation hat Glyphosat 2015 als gefährlich für die menschliche Gesundheit und als "wahrscheinlich krebserregend für den Menschen" eingestuft. In der Europäischen Union läuft die Zulassung von Glyphosat am 15. Dezember dieses Jahres aus, doch unter den EU-Mitgliedstaaten gibt es bislang weder eine Mehrheit für eine Verlängerung noch für ein Verbot.