Santiago. Nach langen Verhandlungen stand am Nachmittag des 12. September endlich ein neuer Fahrplan für eine neue Verfassung. Der Präsident des chilenischen Senats, der Sozialist Álvaro Elizalde, verkündete, dass mit einer Mehrheit der Parteien folgende Entscheidung gefällt wurde: Es wird ein neuer genderparitärer Verfassungskonvent gewählt werden. Dieser soll von einer Expert:innenkomission beraten werden. In einem weiteren Plebiszit mit oligatorischer Wahlteilnahme soll die Bevölkerung über die neue Verfassung entscheiden.
Nicht mehr erwähnt wurde die vorherige vereinfachte Wahlteilnahme von Parteiunabhängigen und reservierte Plätze für Indigene.
Auch wenn der rechte Parlamentarier, Diego Schalper, kurz darauf den Entscheid dementierte, scheint eine erste Hürde für einen erneuten Anlauf im verfassungsgebenden Prozess überwunden zu sein. Dies nach einer langen Woche, in der die rechten Parteien – die sich zum Teil als Siegerinnen der Abstimmung über eine neue Verfassung vom 4. September sehen – darüber debattierten, ob und wie sie einen erneuten verfassungsgebenden Prozess haben wollen.
So sagte der Präsident der ultrarechten Unión Democráta Independiente (UDI), Javier Macaya, "der verfassungsgebende Weg wird 50 oder 100 Jahre dauern und darf nicht auf kurze Zeit gedacht werden". Und die rechte Bürgermeisterin des Santiagoer Stadtteils Providencia, Evelyn Matthei, meinte, es sei klar, dass es eine neue Verfassung brauche. Bezüglich eines gewählten verfassungsgebenden Versammlung sagte sie allerdings, "die Mehrheit bekommt Bauchschmerzen, wenn sie daran denkt, dass es einen weiteren Konvent geben soll". Womit sie sich für einen verfassungsgebenden Prozess aussprach, der vor allem durch Parlamtarier:innen und "Expert:innen" geprägt sein sollte.
Trotz dieser Aussagen, scheint es dazu gekommen zu sein, dass die rechten Parteien einem erneuten Verfassungskonvent zugestimmt haben. Die Generalsekretärin der Regierung, Ana Lya Uriarte – verantwortlich für die Kommunikation zwischen den Parlamentskammern und der Exekutive –, zeigte sich erfreut über die Entscheidung: "Die Ungewissheit für alle Chileninnen und Chilenen und Menschen, die in unserem Land leben und darauf hoffen, bald ein neues Grundsatzpapier zu haben, ist beendet."
Die Regierung arbeitete seit dem 4. September, als eine große Mehrheit der Bevölkerung die progressive neue Verfassung ablehnte, daran, einen neuen verfassungsgebenden Prozess zu starten. Dazu rief sie alle Parteien zu gemeinsamen Sitzungen auf. Die rechten Parteien weigerten sich zunächst und folgten erst am vergangenen Donnerstag dem Aufruf.
Zusätzlich setzte die linksreformistische Regierung unter Gabriel Boric auf einen Kabinettswechsel und gab dabei den ehemaligen Parteien der Concertación, insbesondere der Partido por la Democracia (PPD), deutlich mehr Raum und neue Minister:innenposten.
Sechs von 24 Minister:innen wurden ausgewechselt. Lang erwartet wurde der Abgang der parteiunabhängigen Innenministerin, Izkia Siches, die bereits seit längerem in der Kritik stand. Siches Posten wurde von der ehemaligen Bürgermeisterin von Santiago, Carolina Tohá übernommen.
Tohá ist Mitglied der PPD und steht im Zusammenhang mit dem größten Korruptionsskandal der jüngeren chilenischen Geschichte. Während ihrer Zeit als Parteipräsidentin in den Jahren 2011 und 2012 soll sie bis zu 57 Millionen chilenische Pesos – zu der Zeit etwa 86.000 Euro – vom Enkel des Diktators Augusto Pinochet und Besitzer des Lithiumabbauunternehmens SQM, Julio Ponce Lerou, angenommen haben.
Des weiteren wurden die Spitzen des Gesundheitsministeriums, des Sozialministeriums, des Regierungssekretariats, des Energieministeriums und des Wissenschaftsministeriums ausgewechselt. Auch hier war auffallend, dass zwei neue, eher in der politischen Mitte einzuordnende Ministerinnen die Ämter übernahmen. So kam Silvia Díaz ins Wissenschaftsministerium. Díaz ist zwar offiziell parteiunabhängig, arbeitet aber eng mit dem PPD Politiker Guido Gerardi zusammen. Ins Gesundheitsministerium kam die für ihre wissenschaftliche Arbeit allgemein anerkannte, ehemalige Direktorin des Zentrum für Epidemien und Gesundheitspolitik der stramm rechten Privatuniversität, Universidad del Desarrollo, Ximena Aguilera.
Besonderen Missmut erzeugte der Kabinettswechsel bei der Kommunistischen Partei (KP), die bislang den Wissenschaftsminister stellte. Im Gegenzug sollte die KP das mächtige Subsekretariat des Inneren bekommen. Doch als öffentlich wurde, dass der Subsekretär für Bildung, Nicolás Cataldo (KP), das Amt übernehmen soll, stemmte sich die politische Rechte mit Erfolg gegen die Nominierung eines kommunistischen Politikers, der die Polizei unter sich gehabt hätte.
Laut dem Generalsekretär der KP, Guillermo Tellier, entschuldigte sich Boric kurz darauf und meinte, die Rechte "hätte ihn nicht sein Amt ausüben lassen". Trotz des Missmuts zog es die KP nach eigenen Angaben vor, keine Konsequenzen zu ziehen, "um die politischen Prozesse nicht zu behindern".
Während sich der Weg zu einer neuen Verfassung mittlerweile ebnet, gewinnen die politischen Positionen der Mitte wieder mehr Gewicht innerhalb der Regierung. Die neue Innenministerin, Tohá, kündigte an, dass das seit längerem auf Eis liegende Freihandelsabkommen TPP-11 (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership) in den Senat zur Abstimmung gebracht werden soll. Das Abkommen mit zehn weiteren Staaten des Pazifikraumes wurde bereits 2006 unterschrieben, allerdings aufgrund der Kritik linker Sektoren lange Zeit nicht ratifiziert und während des verfassungsgebenden Prozesses auf Eis gelegt.