Santiago. Die Unterschiede könnten größer kaum sein: Während bei einem zufälligen Interview auf der Straße nach der Ablehnung des progressiven Verfassungsentwurfs eine Frau in Tränen ausbricht, zeigt sich eine andere Person erleichtert.
Alejandra, die ihren Nachnamen nicht nennen will, ist enttäuscht: "Es war die Zukunft meiner Kinder und Enkel. Und wir haben es verbockt", sagt sie beim Eingang in die Metro. "Ich hatte auf eine gute und kostenlose Bildung gehofft, doch die Menschen wollen lieber ignorant bleiben", meint Andrea voller Pessimismus in der Stimme, "leider leben wir in diesem Land".
Die schmetternde Absage an den Verfassungsentwurf hat die chilenische Linke tief getroffen. Die neue Verfassung sollte der Startschuss für ein neues, sozialeres, ökologisches und feministisches Chile sein, doch eine Mehrheit der Bevölkerung erklärte dem Projekt eine Absage. Warum?
Die bestürzte Alejandra gibt den Falschinformationen während der Abstimmungskampagne die Schuld: "Viele wussten nicht, für was sie überhaupt abstimmen, inklusive einer meiner Söhne, die die neue Verfassung nicht einmal gelesen haben".
Rechte Sektoren investierten über zwei Millionen Euro in eine Kampagne, die hauptsächlich darauf basierte, Artikel aus dem neuen Verfassungsentwurf überzogen zu interpretieren oder gar Lügen zu verbreiten, um Angst zu schüren. Angst, das eigene Haus könnte enteignet werden, Indigene hätten zukünftig mehr Rechte als alle Anderen oder das Land würde aufgrund der Plurinationalität gespalten.
Die Medien hielten der Propagandaschlacht kaum entgegen, zum Teil waren es Sprecher:innen der großen Fernsehkanäle selber, die auf die Lügen zurückgriffen. Jose Antonio Neme, ein bekannter Fernsehmoderator, sagte in einer Debatte: "Ich möchte nicht plötzlich vor einem Lonko [Oberhaupt der Mapuche] vor Gericht stehen“. Obwohl nur Indigene auf lokaler Ebene und in ihren Gemeinschaften das Recht auf ein eigenes Justizsystem gehabt hätten.
Doch das alleine erklärt noch nicht die Ablehnung von 62 Prozent der Wähler:innen. Zum ersten Mal in der chilenischen Geschichte war für alle über 18-jährigen die Teilnahme an der Abstimmung obligatorisch. Bis 2010 war zwar die Teilnahme verpflichtend, aber nicht das Eintragen in das Wahlregister. Erstmals kamen über 13 Millionen Wähler:innen an den Urnen zusammen, fast fünf Millionen mehr als bei der vorherigen Wahl. So blieb die Anzahl an Befürworter:innen der neuen Verfassung fast auf dem gleichen Niveau, wie diejenige der Personen, die im Dezember 2021 für den Präsidenten Gabriel Boric stimmten. Viele Erstwähler:innen entschieden sich eher dafür, den Verfassungsentwurf abzulehnen.
Die Gegner:innen der neuen Verfassung fuhren eine Anti-Politik-Kampagne: Wichtige Gesichter der Rechten wurden versteckt, Ex-Präsident Sebastián Piñera tauchte nicht in den Medien auf und der ultrarechte ehemalige Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast war erst am Abstimmungsabend wieder zu sehen und sprach zu einer jubelnden Menge. "Nie wieder wollen wir unsere Fahne befleckt sehen". Statt den Inhalt der Verfassung zu kritisieren, zielten viele Videos der Gegner:innen auf die Form ab: Konventsabgeordnete, die nicht die Hymne sangen, andere, die Lügengeschichten über ihr eigenes Leben erzählten. Am Ende kam das Bild einer elitären, linken Politiker:innenklasse auf, die nicht einmal "die Symbole des Vaterlandes respektiert".
Die Politologin Marta Lagos meinte, das Votum sei auch eines gegen die Regierung, deren Umfragewerte seit März konstant fallen. Die linksreformistische Regierung von Boric wird für die Inflation und Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht, wobei ein beträchtlicher Teil im Zuge der Corona-Pandemie und des Ukraine- Krieges entstanden ist.
Die rechte Kampagne gegen die neue Verfassung hat vielmehr mit Gefühlen überzeugt, anstatt mit Argumenten und Tatsachen.
Für Andrés Paredes, einen 20-jährigen Studenten, war die verfassungsgebende Versammlung zu links. "Mir haben viele Artikel gefallen, aber der Konvent war einfach zu links, zu wenig auf das Zentrum orientiert". Er habe das Gefühl, dass eine linke Mehrheit ihre eigenen Interessen durchgedrückt und zu wenig auf den Konsens geachtet habe. Allerdings findet auch er, es solle einen zweiten Anlauf geben, bei dem soziale Rechte, wie etwa der Zugang und die Entprivatisierung des Wassers, auftauchen sollten. Daneben sollte der lebenslange Lohn für ehemalige Präsident:innen abgeschafft werden. Beides Forderungen, die im abgelehnten Verfassungsentwurf umgesetzt worden wären.
Gleich nach der Wahl präsentierte das Meinungsforschungsinstitut Ipsos eine Umfrage, nach der 78 Prozent der Befragten weiterhin eine neue Verfassung wünschen. Davon ist auch die Regierung überzeugt: Der Auftrag sei klar, so der Präsident, man solle nun eine Verfassung entwerfen, die die Chilenen vereint. Dies lege das Abstimmungsergebnis vom Oktober 2021 nahe, als sich knapp 80 Prozent der Stimmberechtigten für eine neue Charta aussprachen.
Inzwischen erklärte Regierungssprecherin Camila Vallejo, man werde zur Wahl eines zweiten Verfassungskonvents aufrufen. Details müssten mit den Parteien geklärt werden. Reservierte Sitze für indigene Völker oder eine vereinfachte Teilnahme für parteiunabhängige Kandidaten wurden nicht mehr erwähnt.
Allerdings braucht es für einen erneuten Anlauf eine Änderung der aktuellen Verfassung durch zwei Drittel des Parlaments. Die nötigen Stimmen der rechten Parteien dafür sind ungewiss. Die ultrarechte Partido Republicano meinte bereits, sie sei für einen weiteren verfassungsgebenden Prozess nicht zu haben. Die rechte Zeitung La Tercera veröffentlichte einen Bericht, laut dem die zwei Rechtsparteien Union Democráta Independiente (UDI) und Renovación Nacional (RN) darauf aus sind, sich politisch ins Zentrum zu bewegen und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu unterstützen.
Am Dienstag trafen die Präsidenten beider rechter Parteien im Regierungssitz, La Moneda, zu ersten Gesprächen ein. Währenddessen gab es in Santiago am gleichen Tag Demonstrationen. Schülerorganisationen forderten einen zweiten verfassungsgebenden Prozess. Sie erklärten: "Gegenüber einem Volk ohne Erinnerung, schreiben wir Schüler:innen Geschichte, mit Kampf und Organisation“. Es kam zu Verhaftungen und Polizeigewalt.