Massaker von Iguala: "Keine Notwendigkeit für Konsequenzen"

Debatte im Bundestag über Mexiko, Sicherheitsabkommen und EU-Freihandel

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Plenum des Bundestags
Plenum des Bundestags

Anlässlich des Verschwindens von 43 Studenten in Mexiko haben mehrere Abgeordnete des Bundestages die Fragestunde genutzt, um die Bundesregierung zu ihrer Position bzgl. der Vorfälle und den daraus zu ziehenden Konsequenzen zu befragen. Wir dokumentieren die im Plenarprotokoll vom 5. November 2014 veröffentlichte Debatte.

Vizepräsident des Bundestages Johannes Singhammer: 

Dann kommen wir zur Frage 10 der Abgeordneten Heike Hänsel:

Teilt die Bundesregierung die Position des EU-Botschafters in Mexiko, Andrew Standley, dass für das Verschwinden der 43 Studierenden in Iguala nicht der Staat verantwortlich ist und deshalb auch keine Konsequenzen bezüglich der Beziehungen mit der EU gezogen werden – speziell das Freihandelsabkommen betreffend?

Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Abgeordnete Hänsel, der EU-Botschafter in Mexiko, Andrew Standley, hat in einem Fernsehinterview für CNN am 23. Oktober dieses Jahres Folgendes klargestellt: Er sieht aufgrund der Vorfälle in Iguala keine Notwendigkeit von Konsequenzen für die Beziehungen zwischen der EU und Mexiko und für das mit Mexiko auf Bundesebene – das möchte ich ausdrücklich unterstreichen – abgeschlossene Freihandelsabkommen, da die mexikanische Bundesregierung nicht Urheber der Menschenrechtsverletzungen im Gliedstaat Guerrero sei.

Er hat dabei die mutmaßliche Verstrickung lokaler Behörden nicht erwähnt, aber auch nicht in Zweifel gezogen. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Resolution des Europäischen Parlaments vom gleichen Tage, die nach seiner Meinung einen ausgewogenen Ton zwischen der Verurteilung der Taten und gleichzeitiger Zusage der Unterstützung der mexikanischen Regierung seitens der EU bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität trifft.

Der Resolutionstext des Europäischen Parlaments, den wir ebenso unterstützen und auch würdigen, verweist im Übrigen, Frau Abgeordnete Hänsel, klar auf die mutmaßliche Verwicklung lokaler Behörden in diese schlimmen Vorfälle. Ich erspare es Ihnen jetzt, die entsprechende Formulierung auf Englisch vorzutragen.

Vizepräsident Johannes Singhammer:

Frau Kollegin Hänsel, haben Sie eine Nachfrage dazu? – Dann haben Sie das Wort.

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Danke schön. – Dazu muss man sagen, viele Delegationen von uns reisen regelmäßig nach Mexiko. Wir sind dort seit Jahren mit einer fast 100-prozentigen Straflosigkeit auf allen Ebenen konfrontiert. Wenn Sie jetzt nach Mexiko fahren, stellen Sie eine 98-prozentige Straflosigkeit fest. Auch vor fünf Jahren bestand schon eine 98-prozentige Straflosigkeit. Das gilt unabhängig davon, welche Regierung an der Macht ist. Daher können Sie doch nicht davon sprechen, es gebe keine Verantwortung des Staates, wenn schlimme Verbrechen, egal auf welcher Ebene sie passieren, in großem Umfang nicht geahndet werden. Der derzeit amtierende Präsident Nieto war seinerzeit als Gouverneur des Bundesstaates Mexiko für einen brutalen Polizeieinsatz verantwortlich, den er befehligt hat. Über 200 Menschen wurden dabei verhaftet und übel misshandelt. Ein 14-Jähriger wurde getötet. 40 Frauen wurden massenvergewaltigt durch die Polizei. Das alles hatte keine Konsequenzen. Wie können Sie behaupten, dass es keine Verantwortung der Bundesebene für solche Verbrechen gibt? Die 43 Studierenden sind nur die Spitze des Eisbergs. In einem anderen Bundesstaat sind 21 Jugendliche in einem Kaufhaus öffentlich hingerichtet worden. Das heißt, es gibt natürlich eine Verantwortung des Bundesstaates. Diese können Sie hier auch nicht wegleugnen.

Vizepräsident Johannes Singhammer:

Herr Staatsminister. Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Nicht nur Delegationen des Deutschen Bundestages, sondern auch Delegationen der Bundesregierung reisen nach Mexiko. Erst kürzlich hat meine Kollegin Böhmer aus dem Auswärtigen Amt Mexiko besucht, und zwar vom 19. bis zum 24. Oktober. Ich kann Ihnen versichern, dass Frau Staatsministerin Böhmer die Vorfälle, die von Ihnen kritisiert werden, gegenüber hoch- und höchstrangigen Stellen der mexikanischen Regierung angesprochen hat. Darüber hinaus hat sie sich zusammengesetzt mit Menschenrechtsverteidigern Mexikos. In Vorbereitung dieser Reise hat es eine Fülle von Gesprächen mit Vertretern hiesiger Menschenrechtsorganisationen zu diesem Thema gegeben. Das Auswärtige Amt hat bereits am 8. Oktober zu diesen Vorfällen Gespräche mit der Nichtregierungsorganisation Menschenrechtskoordination Mexiko und mit Amnesty International geführt. Ich darf hinzufügen, dass auch unser Menschenrechtsbeauftragter, Herr Strässer, ein Gespräch mit der NGO Menschenrechtskoordination Mexiko geführt hat. Darüber hinaus hat sich unsere Botschaft auch gegenüber der EU-Delegation in Mexiko für eine entsprechende EU-Erklärung eingesetzt. Diese lokale Erklärung wurde am 12. Oktober veröffentlicht. Ferner habe ich deutlich gemacht, dass die Bundesregierung die Resolution des Europäischen Parlaments teilt, das sich sehr kritisch geäußert hat. Nun möchte ich auf Ihre Forderung zurückkommen ich insinuiere das jetzt einfach einmal so –, die Modernisierung des Freihandelsabkommens mit Mexiko auszusetzen bzw. das in Verhandlung befindliche Sicherheitsabkommen auszusetzen. Da es gerade um den Kampf gegen die organisierte Kriminalität geht, wäre es aus meiner Sicht geradezu hanebüchen, wenn wir jetzt vor dem Hintergrund dieser schrecklichen Verbrechen im Bundesstaat Guerrero unsere Verhandlungen aussetzen würden. Wir brauchen mehr Sicherheit. Wir müssen die Zusammenarbeit im Bereich der Bekämpfung der organisierten Kriminalität ausweiten. Daher bin ich dafür, dass wir diese Verhandlungen entschieden fortsetzen.

Vizepräsident Johannes Singhammer:

Frau Kollegin Hänsel, haben Sie noch eine zweite Nachfrage?

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Ja.

Vizepräsident Johannes Singhammer:

Bitte schön.

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Danke schön. – Herr Staatsminister, wenn Sie so umfassend mit Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International und anderen sprechen, dann ist es eigentlich noch schlimmer, dass Sie nicht agieren, weil all diese Gruppen Ihnen wie auch uns allen bei allen Besuchen erzählen, dass der Staat Teil des Problems ist und dass diese Verbrechen nicht vonseiten der organisierten Kriminalität begangen werden, sondern von Teilen des Sicherheitsapparates, der Polizei auf lokaler Ebene und auf Bundesebene und von Teilen des Militärs. Genau deswegen fordern wir – damit komme ich zu meiner Frage –, dass man in dieser Situation einer massiven Unterwanderung seitens der Polizei- und Sicherheitskräfte, die Teil der organisierten Kriminalität und Täter dieser staatlichen Repressionen sind, kein Sicherheitsabkommen abschließt, bei dem es unter anderem darum geht, den Datenaustausch weiter zu forcieren und die Aufstandsbekämpfung weiter zu trainieren. Das heißt, man trainiert im Grunde Sicherheitskräfte, die kriminell vorgehen und für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. Das können Sie nicht verantworten.

Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Frau Abgeordnete Hänsel, ich teile Ihre Interpretation eines Sicherheitsabkommens ausdrücklich nicht. Es geht gerade darum, Bürgerinnen und Bürger zu schützen und die individuelle Sicherheit zu erhöhen. Ich will auch vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklung hinzufügen, dass nach aktuellem Stand auf der mexikanischen Seite die Generalstaatsanwaltschaft, die auch mit der Strafverfolgung der Täter des Verbrechens von Guerrero beauftragt wurde, gerade über 20 verdächtigte Polizeibeamte festgenommen hat. Insofern will ich das jetzt nicht weiter bewerten. Es tut sich etwas, aber Sie können sich darauf verlassen, dass wir in enger Abstimmung sind. Wir verlassen uns eben nicht nur auf die Gespräche mit der mexikanischen Regierung, sondern – ganz im Gegenteil – wir suchen den engen Austausch und das direkte Gespräch mit den NGOs, mit Amnesty und anderen Organisationen, die ich Ihnen eben genannt habe. Das fließt auch in unsere jeweilige Beurteilung mit ein. Die Beurteilung sieht aber anders aus als die Ihrige.

Vizepräsident Johannes Singhammer:

Der Kollege Ströbele hat noch eine weitere Nachfrage. Darum erteile ich ihm das Wort.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Danke, Herr Präsident. – Herr Staatsminister, ich glaube, Sie haben etwas an der Frage vorbei geantwortet. Ich finde es gut, dass Sie dort mit Oppositionellen, aber auch mit NGOs und gerade auch mit Menschenrechtsorganisationen reden. Das ist dringend erforderlich. Aber dann müssen Sie doch auch die Schreie aus den Massendemonstrationen zur Kenntnis genommen haben, die man aus Mexiko-Stadt bis nach Berlin hört. In Berlin findet derzeit – ich weiß nicht, ob Sie das wissen – eine 43-stündige Mahnwache im Gedenken an die Toten und an die Zustände in Mexiko statt. Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass die Beschuldigungen sich nicht darauf beschränken, dass lokale Behörden eine direkte Verantwortung für die mutmaßliche Ermordung – wir wissen noch nicht genau, was passiert ist – haben, sondern dass man die gesamte Administration bis in die Regierung hinein der Komplizenschaft verdächtigt und beschuldigt. Das müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen, statt einfach zu sagen: Wir liefern denen jetzt Waffen und machen Sicherheitsabkommen und alles Mögliche, weil wir der Regierung vertrauen. Uns interessiert: Welchen Wert legen Sie auf die Argumente der Menschenrechtsorganisationen und der Demonstranten, die solche Feststellungen oder Mutmaßungen äußern? Sagen Sie: „Da ist überhaupt nichts dran; die Regierung ist in jeder Hinsicht vertrauenswürdig und duldet diese schrecklichen Geschichten nicht, sondern sie macht wirklich etwas dagegen“? Die Beauftragung eines Generalstaatsanwalts ist wenig wert, solange man nicht weiß, ob er nicht selber mit den örtlichen Behörden in Verbindung steht. Deshalb ist meine Frage: Wie ernst nehmen Sie die anderen Darstellungen? Überprüfen Sie sie, und welche Meinung haben Sie dazu?

Vizepräsident Johannes Singhammer:

Herr Staatsminister.

Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Herr Abgeordneter Ströbele, wir nehmen alle Vorwürfe sehr ernst. Deshalb befinden wir uns auch mit allen Verantwortlichen im engen Austausch. Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Ich bin stolz darauf, für ein Auswärtiges Amt arbeiten zu dürfen, das sich nicht nur als Ministerium für internationale Beziehungen versteht, sondern vor allem als Menschenrechtsministerium. Das ist ein wesentliches Element unserer politischen Bemühungen auf der internationalen Ebene. Ich darf Ihnen versichern, dass sich alle Kolleginnen und Kollegen, die in meinem Haus in Verantwortung stehen, der Stärkung der Menschenrechte und ihrer Universalität verpflichtet fühlen. Dabei ist uns völlig egal, um welches Land es geht. Wir setzen uns überall für die Einhaltung der Menschenrechte ein. Ich freue mich, dass Sie dabei an unserer Seite stehen, Herr Abgeordneter Ströbele.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist damit aber nicht beantwortet!)

Ich beantworte die Fragen so, wie ich meine, sie beantworten zu müssen.

Vizepräsident Johannes Singhammer:

Für eine weitere Nachfrage hat der Kollege Lenkert das Wort.

Ralph Lenkert (DIE LINKE):

Sehr geehrter Herr Staatsminister, es gibt zumindest berechtigte Zweifel an der Zuverlässigkeit von Behörden in einigen mexikanischen Bundesstaaten. Wir haben im Gegensatz zu Ihnen auch Zweifel an der Rechtmäßigkeit einiger Verhaltensweisen der Zentralregierung in Mexiko. Vor dem Hintergrund, dass Schusswaffen, die von Heckler & Koch nach Mexiko geliefert wurden, in völlig andere Kanäle gelangt sind, möchte ich Sie fragen, ob Sie zukünftig planen, keine Waffenlieferungen nach Mexiko mehr zuzulassen.

Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Wie Sie wissen, gibt es eine sehr restriktive Regelung betreffend den Export von Waffen in Länder außerhalb der Europäischen Union und der NATO. Wir werden weiterhin – hier ist das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie federführend – auf die restriktiven Maßstäbe bei der Umsetzung achten. Darauf können Sie sich verlassen.