Kolumbien / Politik

Kolumbien: Die Wurzeln der Gewalt sind noch intakt

Colombia Informa sprach mit Pater Javier Giraldo, dem Koordinator der Cinep-Datenbank für Menschenrechte und politische Gewalt

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Pater Javier Giraldo, der Koordinator der Cinep-Datenbank für Menschenrechte und politische Gewalt in Kolumbien
Pater Javier Giraldo, der Koordinator der Cinep-Datenbank für Menschenrechte und politische Gewalt in Kolumbien

Die 56 Ausgabe der Zeitschrift Noche y Niebla gibt einen Überblick über die Situation der Menschenrechte und der politischen Gewalt in Kolumbien zwischen Juli und Dezember 2017. Diese wird halbjährlich vom Nationalen Netzwerk für Menschenrechte und politische Gewalt des Friedensprogramms des Forschungs- und Bildungszentrums Cinep, veröffentlicht.

Bei der Vorstellung [der Zeitschrift] am 3. Mai wurden erneut die systematischen Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts im Land kritisiert. Darüber hinaus zeigte man sich besorgt angesichts der Zunahme von Drohungen paramilitärischer Gruppen gegenüber sozialen Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger, die für Landrechte kämpfen. Es ist klar festgestellt worden, dass es sich bei den Ermordeten nicht um Opfer von Beziehungstaten handelt, sondern um Opfer politisch motivierter Landkonflikte. Colombia Informa hatte Gelegenheit, mit Pater Javier Giraldo, dem Koordinator der Cinep-Datenbank für Menschenrechte und politische Gewalt, über die im Bericht enthaltenen Informationen zu sprechen. (Ergänzungen und Anmerkungen des Übersetzers sind durch eckige Klammern gekennzeichnet und in den Fußnoten zu finden)

Wie ist angesichts der Friedensprozesse, die mit den kolumbianischen Guerillas geführt werden, die Zunahme der politischen Gewalt zu erklären?

Um das zu verstehen, muss man zurückblicken. Wir müssen uns mit den grundlegenden Fehlern bei den Verhandlungen mit den ehemaligen Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc) befassen. Bei der Eröffnung der Verhandlungen in Oslo brachte Iván Márquez [Verhandlungsführer der Farc] sehr deutlich seine Erwartungen an den Prozess zum Ausdruck. Er betonte, dass viele soziale Sektoren erwarten, dass die Wurzeln der Gewalt angegangen werden; das heißt: soziale Ungerechtigkeiten, Ungleichheit, übermäßige Konzentration von Landbesitz, die unzureichenden Mechanismen der politischen Partizipation von popularen Bewegungen, Indigenen, Bauern und Gewerkschaftern usw.

Angesichts der geäußerten Erwartungen sprach Doktor Humberto De La Calle [Verhandlungsführer der Regierung] von der Notwendigkeit, einige Grenzen zu setzen. Diese Grenzen verdeutlicht der Ausspruch "am Modell wird nicht gerüttelt". Damit wurde auf das wirtschaftliche, politische und militärische Modell des Landes angespielt. Entsprechend gab es von Anfang an völlig entgegengesetzte Erwartungen darüber, was der Verhandlungsprozess bringen könnte.

Betrachtet man andererseits die Vorschläge, die in Havanna gemacht wurden, so stellt man fest, dass die Farc zu jedem Punkt 100 Vorschläge unterbreitet haben. Die wurden jedoch alle von der Regierung abgelehnt.

Ein Beispiel: Als damit begonnen wurde, über die Landfrage zu diskutieren, hat die Regierung alles abgelehnt. Sie verbrachten ungefähr acht Monate mit diesem Thema. Als die Farc erkannten, dass es keinen Fortschritt gab, dass es ein Dialog der Gehörlosen war, kamen sie überein, alle ihre Vorschläge fallen zu lassen. Ich meine, sie gaben vor, die Punkte am Ebnde wieder aufzugreifen, aber dies ist niemals passiert.

In dem, was vereinbart wurde, blieben die Positionen der Regierung im Allgemeinen bestehen, wie es beim Bodenfonds der Fall war. Meiner Ansicht nach nährt dies den Klientelismus und die Korruption noch viel mehr. Das strukturelle Landproblem in Kolumbien wurde nicht gelöst, dies ist jedoch ein zentrales Problem für die Ursprünge des bewaffneten Konflikts.

Die Wurzeln der Gewalt sind immer noch intakt, es sind Wurzeln die nachwachsen und sich vermehren und das ist es, was wir in diesem Moment erleben.

Wie nehmen Sie die politische Partizipation sozialer Organisationen und Bewegungen in der aktuellen Situation wahr?

Die sozialen Bewegungen sind sehr stark bedroht. Weiterhin existiert eine heftige Verfolgung bestimmter Sektoren, insbesondere von Aktivisten der Umwelt- und Bauernbewegungen. Wir beobachten, dass denjenigen Bewegungen, die versuchen ihre Köpfe zu heben, diese abgeschnitten werden: Sprecher werden getötet oder bedroht. In der Regel erhalten sie Nachrichten auf ihre Handys, in denen sie aufgefordert werden, ihre Aktivitäten als soziale und politische Sprecher einzustellen oder ihr Territorium, die Region oder das Land zu verlassen.

Im Moment können die sozialen Bewegungen nicht handeln. Ihnen sind die Hände gebunden. Wer etwas anderes vorschlägt oder sich den Mega-Projekten der multinationalen Öl- oder Bergbaukonzerne widersetzt, wird getötet oder vertrieben.

Die politische Partizipation war im Rahmen von Punkt 2 des Friedensabkommens zwischen der Regierung und den Farc sehr begrenzt. Wie bereits erwähnt, ist der zentrale Bereich des Punkts 2 die Wahlerweiterung gewesen, und er tendierte dazu, die Parteien zu stärken und die Partizipation an den Wahlen deutlich zu erweitern1. Meiner Meinung nach reicht das nicht aus, denn die Parteien waren in der kolumbianischen Geschichte meist das Zentrum der schlimmsten Korruption. Dieses Modell der Partizipation behindert letztendlich Prozesse der Beteiligung, anstatt das Problem der mangelnden Partizipation der sozialen Basis zu lösen.

In dem Verhandlungsmodell der Nationalen Befreiungsarmee [der Guerilla ELN] sah ich etwas Hoffnung, weil sie die Beteiligung der Zivilgesellschaft an den Verhandlungen an erste Stelle setzten. Sie sagen: "Wir werden keine Reformen vorschlagen, die Reformen müssen von den Ba, den Indigenen, der Bevölkerung vorgeschlagen werden". Dieses Modell ist interessant, denn solange die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft sich nicht beteiligen können, wird es sehr schwierig sein, Reformen durchzuführen, die die wahren Wurzeln des Konflikts berühren.2

Wie sehen Sie die Dynamik in den Territorien seit der Waffenniederlegung durch die Farc?

Ich war sehr nahe in der Gegend von San José de Apartadó (Antioquia) [wo es heute auch eine Wiedereingliederungszone der FARC gibt]. Es gab dort einige Farc-Fronten in den Bergen und heute ist dieses Gebiet in den Händen der Paramilitärs. Diese Gemeinschaften leiden reell unter einem Mangel an Handlungsfreiheit, weil die Paramilitärs bis dahin vorgerückt sind. In jeder Nachbarschaft errichten sie einen Kontrollpunkt (sie nennen sie "die Punkte") und erheben Steuern. Sie rufen die Gemeinschaften zu Versammlungen auf, bei denen sie sich unterwefen und sie einschüchtern. Sie übernehmen die Gemeinderäte und bringen jene zum Schweigen, die sich ihren Anordnungen nicht widersetzen.

In vielen Regionen geschieht dasselbe wie in Apartadó: Die Situation in den Gebieten ist aufgrund der Kooptierung durch paramilitärische Einheiten dramatisch. Für die ganze Pazifikküste ist die Existenz paramilitärischer Strukturen eine Tragödie (in Buenaventura, in Tumaco, in Nariño).

Nach den Daten des vorgelegten Berichts hat die politische Gewalt im Jahr 2017 deutlich zugenommen. Im Vergleich zu 2016 ist die Zahl der Opfer außergerichtlicher Hinrichtungen, verursacht durch Amtsmissbrauch, soziale Intoleranz und politische Verfolgung um 20 Prozent gestiegen. Die Anzahl der Bedrohungen und willkürlichen Verhaftungen stieg um 36 Prozent bzw. 210 Prozent.

Zu den gewalttätigsten Akteuren gehören die paramilitärischen Gruppen, Polizei und Armee. Die Zahlen zeigen eine Weiterentwicklung paramilitärischen Strukturen. Die ihnen zugeschriebenen Gewalttaten nahmen um 40 Prozent zu.

  • 1. Was Giraldo hier nicht ausführt, ist, dass die Wahlbeteiligung in Kolumbien zumeist sehr niedrig ist, sie liegt bei ungefähr 50 Prozent (hinzukommt das es immer wieder zu Stimmenkauf und Wahlbetrug kommt) und dass es lange Zeit ein Zweiparteiensystem gegeben hat. Parteien welche nicht zum Establishment gehörten, wurden blockiert und verfolgt, wie z.B. in den 1990er Jahren die M-19 und Union Patriótica. Mittlerweile gibt es zwar mehr Parteien, auch kleinere Alternative, trotzdem besteht weiterhin eine Dominanz der alten und neuen Eliten
  • 2. Er spricht hier von von einer unabdingbaren Demokratisierung des Friedensprozesses. A) Weil, wenn nicht einerseits eine weitreichende Einbeziehung der Zivilgesellschaft, vor allem der Menschen in den Regionen, stattfindet, werden die Konflikte nicht abgebaut werden, sondern bleiben bestehen und somit auch die bewaffneten Auseinandersetzungen. B) Um die grundsätzlichen Ursachen des Konfliktes bearbeiten zu können, für eine nachhaltige und erfolgreiche Friedensschaffung, ist es anderseits notwendig "neue" und "weitreichende" Allianzen zu schaffen. Denn ohne diese ist die Umsetzung wie Durchsetzung der notwendigen Reformen gegen die anderen Kräfte nicht möglich – da die Verweigerer oder Befürworter des Status Quo ein enormen Machteinfluss haben, wie z.B. im Kongress