Venezuela steuert auf eine immer gefährliche Situation zu, in der ein offener Bürgerkrieg zu einer realen Möglichkeit werden könnte. Bislang sind über 100 Menschen bei Straßenprotesten getötet worden, wobei die meisten dieser Todesfälle sich durch eigenes Verschulden der Protestierenden ereigneten (soweit wir über die Ursachen Bescheid wissen). Die Möglichkeit eines Bürgerkrieges wird um so wahrscheinlicher, so lange die internationalen Medien verschleiern, wer für die Gewalt verantwortlich ist und so lange die internationale Linke am Rande dieses Konfliktes verharrt und es versäumt, Solidarität mit der sozialistischen Bolivarischen Bewegung in Venezuela zu zeigen.
Wenn die internationale Linke ihre Nachrichten über Venezuela in erster Linie aus den internationalen Medien erhält, ist verständlich, warum sie so still ist. Alles in Allem versagen diese Mainstreammedien beständig dabei zu berichten, wer die Gewalt in diesem Konflikt eigentlich schürt. So würde zum Beispiel jemand, der CNN oder die New York Times verfolgt, nicht erfahren, dass von den 103 Opfern, die als Folge von Straßenprotesten getötet wurden, 27 direkt oder indirekt von den Protestierenden selbst verursacht wurden. Weitere 14 waren Folge von Plünderungen, in einem bedeutenden Fall, weil die Plünderer einen Laden in Brand steckten und schließlich selbst in den Flammen umkamen. 14 Tote sind dem Handeln staatlicher Behörden zuzurechnen (wobei in fast allen Fällen die Verantwortlichen dafür belangt wurden) und 44 werden noch untersucht oder sind umstritten. Dies entspricht den Angaben des Büros der Generalstaatsanwältin, die sich erst kürzlich für die Opposition positioniert hat.
Den meisten Konsumenten der internationalen Medien dürfte auch unbekannt sein, dass oppositionelle Demonstranten am 11. Juli mitten in Caracas eine Bombe zündeten und dabei sieben Soldaten der Nationalgarde verletzten, dass ein Gebäude des Obersten Gerichtshofes am 12. Juni von oppositionellen Protestierenden in Brand gesteckt wurde oder dass Oppositionelle am 17. Mai eine Geburtsklinik angegriffen haben.
Mit anderen Worten, es ist möglich, dass ein Großteil der internationalen Linken bezüglich der Gewalt in Venezuela dahingehend in die Irre geführt worden ist zu denken, dass die Regierung allein dafür verantwortlich sei, dass Präsident Maduro sich selbst zum lebenslangen Diktator ernannt habe (während er tatsächlich bestätigt hat, dass die für Ende 2018 angesetzten Präsidentschaftswahlen wie geplant abgehalten werden), oder dass jede Dissidenz mit Gefängnis bestraft würde (während ein bedeutender Oppositionsführer, Leopoldo López, der teilweise für die Gewalt von 2014 verantwortlich war, gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde und nun unter Hausarrest steht). Wenn dies der Grund für das Schweigen zu Venezuela ist, dann sollte sich die Linke dafür schämen, ihre eigenen Kritiken der Mainstreammedien nicht gelesen zu haben.
Alles zuvor Gesagte steht nicht im Widerspruch dazu, dass es viele Dinge gibt, für die man die Regierung Maduro kritisieren könnte, wie dafür, Fehler bezüglich ihres Umgangs mit der gegenwärtigen Situation gemacht zu haben, sowohl ökonomisch wie politisch. Dennoch rechtfertigen Kritiken (von denen ich verschiedene selbst vorgebracht habe) in diesem folgenschweren Konflikt weder eine neutrale noch eine pro-oppositionelle Haltung einzunehmen. Wie der südafrikanische Anti-Apartheid-Aktivist Desmond Tutu einmal sagte: "Wenn du in Situationen der Ungerechtigkeit neutral bleibst, dann hast du die Seite des Unterdrückers gewählt."
Vielleicht ist der Fall Venezuela für Außenstehende auch so verwirrend, weil Präsident Maduro an der Macht ist und nicht die Opposition. Folglich könnte es schwierig sein, die Opposition in der Rolle eines "Unterdrückers" zu sehen. Trotzdem sollte sich dies für eine internationalistische Linke nicht als so konfus darstellen. Letztlich erhält die Opposition in Venezuela bedeutsame Unterstützung nicht nur von der privaten Geschäftswelt, sondern auch von der US-Regierung, der internationalen Rechten und vom transnationalen Kapital.
Vielleicht haben progressive Leute das Gefühl, dass die Regierung Maduro jedwede demokratische Legitimität verloren hat und deshalb können sie diese deshalb nicht mehr unterstützen. Der Berichterstattung der Mainstreammedien zufolge hat Maduro für Dezember 2016 geplante Regionalwahlen abgesagt, die Durchführung eines Abwahlreferendums verhindert und das Parlament neutralisiert. Wir wollen nacheinander einen kurzen Blick auf jede dieser Behauptungen werfen.
Erstens sollten Ende 2016 tatsächlich Regionalwahlen (zur Wahl der Gouverneure der Bundesstaaten und der Bürgermeister) stattfinden, aber der Nationale Wahlrat (CNE) verschob diese mit dem Argument, dass zunächst die politischen Parteien erneut registriert werden müssten. Abgesehen von der Gültigkeit dieses Arguments setzte der CNE die Wahlen kürzlich für Dezember 2017 an. Diese Verschiebung einer geplanten Wahl ist in Venezuela nicht ohne Präzedenzfall, weil zuvor im Jahre 2004 bereits geschehen, als die Kommunalwahlen um ein ganzes Jahr verschoben wurden. Damals, auf dem Höhepunkt der Macht von Präsident Chávez1 hatte kaum jemand etwas dagegen einzuwenden.
Was das Abwahlreferendum angeht, so war sehr wohl bekannt, dass zwischen Initiierung und Abstimmung etwa zehn Monate der Organisation liegen würden. Dennoch setzte die Opposition den Prozess erst im April 2016 in Gang, viel zu spät, als dass das Referendum noch wie beabsichtigt im selben Jahr hätte stattfinden können (weil es bei einer erfolgreichen Abhaltung im Jahre 2017 laut Verfassung keine neue Präsidentschaftswahl geben und der Vizepräsident für die restliche Amtszeit übernehmen würde).
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Im Hinblick auf die Disqualifizierung der Nationalversammlung schließlich handelte es sich um eine weitere von Seiten der Opposition selbst zugefügte Wunde. Das heißt, wenngleich die Opposition 109 von insgesamt 167 Sitzen (65 Prozent) gewonnen hatte, bestand sie darauf, drei Mitglieder der Opposition als Abgeordnete zu vereidigen, deren Wahl aufgrund von Betrugsvorwürfen umstritten war. Als Folge davon entschied der Oberste Gerichtshof, dass solange diese drei Mitglieder nicht abgezogen würden, ein Großteil der Entscheidungen des Parlaments ungültig ist.
Mit anderen Worten: keines der Argumente gegen die demokratische Legitimität Maduros ist besonders stichhaltig. Darüber hinaus weisen Umfragen immer wieder darauf hin, dass, obwohl Maduro ziemlich unpopulär ist, eine Mehrheit der Venezolaner wünscht, dass er seine Amtszeit, die im Januar 2019 ausläuft, zu Ende bringt. In der Tat ist Maduros Popularität momentan nicht so gering wie die verschiedener anderer (konservativer) Präsidenten in Lateinamerika, wie zum Beispiel die von Mexikos Enrique Peña Nieto (17 Prozent im März 2017), Brasiliens Michel Temer (sieben Prozent im Juni 2017) oder Kolumbiens Juan Manuel Santos (14 Prozent im Juni 2017). Im Vergleich: Nicolas Maduros Zustimmungsrate lag im März 2017 bei 24 Prozent.
Nun, da wir die möglichen Gründe dafür angesprochen haben, warum die internationale Linke sich als so widerwillig gezeigt hat, Solidarität mit der Regierung Maduro und der sozialistischen Bolivarischen Bewegung zu zeigen, müssen wir untersuchen, wohin in dieser Situation eine "Neutralität" schließlich führen würde – anders gesagt, was es bedeuten würde, wenn man es der Opposition gestattete, durch einen illegalen und gewalttätigen Wechsel an die Macht zu gelangen.
Zuallererst würde ihre Machtübernahme fast mit Sicherheit bedeuten, dass alle Chavisten – ob sie gegenwärtig Präsident Maduro unterstützen oder nicht – zum Ziel von Verfolgung würden. Obwohl es schon ziemlich lange her ist, haben viele Chavistas den "Caracazo" vom Februar 1989 nicht vergessen, als der damalige Präsident Carlos Andrés Perez Vergeltung gegen arme Wohngegenden übte, weil sie gegen seine Regierung protestierten und mutwillig zwischen 400 und 1.000 Menschen tötete. In jüngerer Zeit zeigte die gegenwärtige Opposition während des kurzlebigen Putsches gegen Präsident Chávez im April 2002, dass sie mehr als bereit dazu war, Repressalien gegen Chavisten zu entfesseln. Die meisten Leute wissen dies nicht, aber während des zweitägigen Putschregimes wurden in Venezuela über 60 Chavistas getötet (diese Zahl beinhaltet nicht die 19 im Vorfeld des Putsches auf beiden Seiten der politischen Trennlinie Getöteten). Die auf die Wahlen vom April 2013 folgende Gewalt hinterließ sieben und die gewaltsamen Straßenproteste (Guarimbas) von Februar bis April 2014 43 Tote. Obwohl die Opfer in jedem dieser Fälle eine Mischung aus Oppositionsanhängern, Chavistas und unbeteiligten Zuschauern waren, gehörten die meisten der chavistischen Seite an. Nun hat es während der jüngsten Welle von Guarimbas auch verschiedene Vorfälle gegeben, bei denen Chavistas, die sich zu nah an oppositionellen Protesten aufhielten, gejagt und getötet wurden, weil sie von Protestierenden auf irgendeine Weise als Chavisten erkannt wurden.
Anders gesagt ist die Gefahr, dass Chavisten ganz allgemein verfolgt werden würden, wenn die Opposition die Regierung übernehmen sollte, sehr real. Obwohl zur Opposition durchaus auch vernünftige Einzelpersonen gehören, die eine solche Verfolgung nicht unterstützen würden, so hat deren gegenwärtige Führung nichts dafür getan, auf die faschistischen Tendenzen in den eigenen Reihen einzuwirken. Wenn überhaupt, dann haben sie diese Tendenzen eher ermutigt.
Zweitens weisen ‒ auch wenn die Opposition bislang keinen konkreten Plan darüber veröffentlicht hat, was sie zu tun beabsichtigt, wenn sie erst einmal an der Regierung ist (was auch einer der Gründe ist, warum die Opposition unter der Bevölkerung fast ebenso unbeliebt bleibt wie die Regierung) ‒ individuelle Stellungnahmen von Oppositionsführern darauf hin, dass sie unverzüglich ein neoliberales Wirtschaftsprogramm entsprechend der Linien von Präsident Michel Temer in Brasilien oder von Maurico Macri in Argentinien umsetzen würden. Sie mögen auf diese Weise vielleicht bei der Reduzierung der Inflation und der Verringerung von Engpässen Erfolg haben, aber dies nur auf Kosten der Beseitigung von Subventionen und Sozialprogrammen für die Armen. Sie würden dabei außerdem alle Politiken zur Unterstützung von Kommunalen Räten und Kommunen zurückfahren, die ein Eckpfeiler der partizipativen Demokratie in der Bolivarischen Revolution sind.
So ist also das, was an Stelle von Schweigen, Neutralität oder Unentschiedenheit von der internationalen Linken gefordert ist, die aktive Solidarität mit der sozialistischen Bolivarischen Bewegung. Eine solche Solidarität bedeutet, sich allen Bemühungen zum Sturz der Regierung Maduro während seiner laufenden Präsidentschaft vehement entgegen zu stellen. Abgesehen von der offenkundigen Rechtswidrigkeit, die ein solcher Sturz der Regierung Maduro darstellen würde, so würde dies im wahrsten Sinne des Wortes einen Todesstoß für die venezolanische sozialistische Bewegung und für das Erbe von Präsident Chávez bedeuten. Dabei braucht die internationale Linke noch nicht einmal Stellung zu beziehen, ob die vorgeschlagene verfassunggebende Versammlung oder Verhandlungen mit der Opposition der beste Weg zur Lösung der gegenwärtigen Krise ist. Dies zu entscheiden ist tatsächlich Sache der Venezolaner. Sich der Intervention zu widersetzen und Informationen darüber zu verbreiten, was wirklich in Venezuela geschieht, sind zwei Dinge, bei denen auch Nicht-Venezolaner eine konstruktive Rolle spielen können.
15. Juli 2017
Gregory Wilpert ist ehemaliger Leiter der Webseite von Telesur auf Englisch und Autor des Buches: "Changing Venezuela by Taking Power: The History and Policies of the Chávez Government" (Verso Books, 2007). Er ist auch Mitbegründer des Portals venezuelanalysis.com
- 1. Hugo Chávez (1954 – 2013) war von 1999 bis zu seinem Tod Präsident von Venezuelaz