"Bachelet wird mit politischer Instabilität zu kämpfen haben"

Interview mit Melissa Sepúlveda, Präsidentin der Studentenföderation der Universität Chile

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Melissa Sepúlveda
Melissa Sepúlveda

Die neugewählte Präsidentin der Studentenföderation der Universität Chile (Fech), Melissa Sepúlveda Alvarado, hat bei den letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen nicht mit abgestimmt. Sie ist der Meinung, dass die politische Institutionalisierung die Bevölkerung daran hindert, ihre Rechte auszuüben, die Umwelt zu schützen und die natürlichen Ressourcen zum Wohle der Gemeinschaft zurückzugewinnen. Sepúlveda ist Befürworterin einer verfassunggebenden Versammlung. Dabei müssten die Interessen der Volksbewegung vertreten werden.

Sie ist in Concepción geboren und studiert im vierten Jahr Medizin. Sie ist Aktivistin der Libertären Studentenfront (FEL). Sepúlveda hat zwei Geschwister. Denisse, die an der Universität von Chile in Biochemie promoviert, und Belén, Mitglied der Volleyball-Nationalmannschaft. Ihr Vater, Danilo Sepúlveda, war Ex-Fußballspieler der Mannschaft Deportes Concepción. Heute arbeitet er als Bauunternehmer.

Die Wahlliste "Luchar" (Kämpfen), die Sepúlveda als Spitzenkandidatin anführte und der verschiedene linksradikale Gruppen angehören, errang bei den Wahlen für die Präsidentschaft der Studentenorganisation Fech 31,5 Prozent der Stimmen.


Wie sind Sie in der studentischen Bewegung aktiv geworden?

Die studentische Bewegung von 2011 hat einen tiefgreifenden Reflexionsprozess mit sich gebracht. Wir hatten die Gelegenheit, über den Tellerrand zu schauen. Wir begannen, über das, was in Chile passiert, nachzudenken. Es war eine Chance, zu verstehen, dass ein ernsthaftes Engagement für die Veränderungen, die das Land dringend braucht, nötig ist.

Als Medizinstudentin erfahre ich vieles über die prekären Bedingungen in Krankenhäusern und Polikliniken. Ich sehe jeden Tag ein heruntergekommenes und unwürdiges Gesundheitssystem, das in Widerspruch mit dem immensen Reichtum einer kleinen Gruppe in Chile steht.

Wie sieht die politische Basis ihrer Wahlliste aus, welche Programmatik vertreten Sie?

Seit 2011 gibt es eine Koordination, die das Programm erstellt. Diese besteht aus mehreren politischen Organisationen, Zusammenschlüssen und Studenten, die nicht in einer bestimmten Partei organisiert sind. Sie haben eine linke und sehr revolutionäre Haltung. Sie wollen eine tiefgreifende Veränderung. Die Wahlliste "Luchar" besteht aus der Studentischen Nationalunion (UNE), der Libertären Studentenfront (FEL), der Kommunistischen Linken, der Front Sozialistische Aktion und dem Kollektiv Raíz, das zu dem Institut für Kommunikation gehört. Dieses Bündnis positioniert sich als eine einheitliche Alternative. Die Mitgliedsgruppen distanzieren sich von Sektierertum und diskriminierenden Haltungen, die die Linke seit Jahren hemmen.

Wir denken, dass die kleinen Reformen im Bildungssektor keine Lösung für die bestehenden Probleme sind. Aber diese Situation gibt es auch in nahezu allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Unser Vorschlag zielt daher auf den Aufbau einer vielfältigen und einheitlichen Bewegung ab, die die Problematik im Gesundheitssektor im Zusammenhang mit dem aktuellen Wirtschaftsmodell und dem politischen System einbezieht.

Bei den Wahlen gab es auch andere, ähnliche Wahllisten ...

Unser Hauptmerkmal ist eine Strategie, die auf den Aufbau eines Bündnisses aus verschiedenen Gruppierungen abzielt. Wir suchen Zusammenschlüsse mit anderen sozialen Organisationen, in der Hoffnung, nächstes Jahr ein einheitliches Programm erstellen zu können, das die sozialen Rechte der Bürger beinhaltet. Damit meinen wir die Arbeiter, die Gemeinden, die Umweltaktivisten, die gegen die Privatisierung der natürlichen Ressourcen und gegen die genmanipulierten Pflanzen kämpfen (...).

Wichtig ist, dass wir tiefgreifende Veränderungen an der Universität von Chile erreichen, denn die Universität bekommt nur acht Prozent der gesamten staatlichen Subventionen. Dies hat zur Folge, dass sie mit dem Verkauf von Serviceleistungen zusätzliche Mittel erwirtschaften muss. Es ist traurige Realität, dass der akademische Plan vom Markt und der Wirtschaft abhängt. An der Universität werden daher Akademiker ausgebildet, die sich von den Problemen der Gesellschaft immer weiter entfernen. Viele Forschungsprogramme haben mit den Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung überhaupt nichts zu tun. Eine Veränderung der Universität steht seit langem auf dem Plan und wir hoffen, dies durch einen starken internen demokratisches Prozess erreichen zu können. Daher wollen wir eine politische Beteiligung der Akademiker, Funktionäre und Studenten. Wir wollen eine Universität, die mit den Interessen der Gesellschaft im Einklang steht.

Trotzdem gibt es eine Spaltung unter denjenigen, die eine tiefgreifende Veränderung des Systems wollen.

Die politische Landschaft in Chile ist im Wandel. Heutzutage gibt es die Kommunistische Partei, die sich nach rechts bewegt und nun ein Teil der Mehrheit ist. Dadurch ist ein politisches Vakuum entstanden, das nun Parteien wie Igualdad und Humanista und andere linke Organisationen zu füllen versuchen. Dieses Phänomen geht auf die Arbeit sozialer Bewegungen und auf den Druck der Gesellschaft zurück. Dadurch ist es heute möglich, über die Verstaatlichung des Kupfers und der anderen natürlichen Ressourcen sowie über kostenlose Bildung oder über eine Reform des Wahlsystems zu diskutieren. Der Ausgangspunkt der Debatten ist eine antikapitalistische Haltung, die bei Kandidaten wie Roxana Miranda oder Marcel Claude zu beobachten war. Wir lernen gerade, zusammen zu arbeiten, obwohl wir hin und wieder verschiedene Vorschläge und Strategien haben.

Welche Änderungen sind bei der aktuellen institutionellen Struktur denn überhaupt möglich?

Die Regierung hat heute eine immense Macht. Daher hätte die Exekutive die Möglichkeit, viele der Probleme anzugehen. Aber die guten Absichten von Frau Bachelet und der kommunistischen oder sozialistische Parteien sind bedeutungslos, solange ihnen nicht Taten folgen.

Tatsache ist, dass es eine Art institutioneller Belagerung gibt, die Veränderungen verhindert. So steht zunächst einmal die Frage im Raum, ob die neue Regierung genügend Mehrheiten im Kongress bekommt, um die nötigen Veränderungen umzusetzen. Die studentische Bewegung hat eine "Parlamentarisierung" des Kampfes immer abgelehnt, denn die langsamen Erfolge der Reformen schwächen die Gesellschaft. Gerade diese Kraft ist aber unser Werkzeug, um zu gewährleisten, dass unsere Forderungen umgesetzt werden.

Innerhalb der Koalition "Neue Mehrheit" ist die politische Haltung der Kommunistischen Partei die einzige, die mit unserer übereinstimmt. Die PC ist aber gleichzeitig eine Minderheit innerhalb dieser Koalition. Die alte Concertación, die das neoliberale Modell in Chile stabilisiert hat, bildet nach wie vor die Mehrheit in diesem Bündnis.

Die so genannte Revolution der Pinguine hat uns viel über die kommerziellen Interessen im Bildungssektor gezeigt. Diese Privilegien abzuschaffen, wird nur durch die Organisation und durch den Druck der soziale Bewegung möglich sein.

Die studentische Bewegung hat drei Forderungen an die Regierung, die von der ganzen Gesellschaft unterstützt werden. Diese sind: eine kostenlose Bildung, eine Demokratisierung der Hochschulen unter Einbeziehung aller Akteure und eine Neudefinition der Hochschulbildung, die mit einer Neugestaltung des Landes einhergehen soll.

Das Wissen, das in den Universitäten vermittelt wird, soll den Bedürfnissen des Landes entsprechen (...).

Das jetzige Bildungsmodell treibt die Privatisierung der Ausbildung voran und umfasst den gesamten Bereich von den Grund- bis zu den Hochschulen.

Die Karriere eines Studenten ist schon bei seiner Geburt bestimmt. Die sozioökonomischen Unterschiede, das Bildungsniveau der Eltern sowie die Herkunft des Kindes sind Faktoren, die bei der Aufnahmeprüfung für die Hochschule (PSU) gemessen werden. Die studentische Bewegung aber stellt das ganze Bildungssystem und seine Rolle innerhalb der Gesellschaft in Frage. In Chile ist Bildung ein hoch lukratives Geschäft. Daher ist für die öffentlichen Hochschulen die sogenannte Selbstfinanzierung die einzige gangbare Möglichkeit.

Die öffentlichen Universitäten sind durch Stipendien, Gutscheine und andere Formen von Finanzierungsmitteln durch private Investoren ausgebeutet worden. Dieses Geld sollte lieber zur Unterstützung der öffentlichen Bildung investiert werden. Es wurde aufdeckt, dass Steuergelder aller Chilenen missbraucht wurden. Die Zusammenarbeit von Professoren, Lehrern, Eltern, Arbeitern und anderen sozialen Gruppen, die wir Studenten vorschlagen, bezieht sich auf alle gesellschaftlichen Ebenen.

Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen Hochschulstunden und Abiturienten?

Dies ist eine fundamentale Beziehung, denn davon ist die Kontinuität des Bildungsprozesses anhängig. Sie ist auch für Diskussionen über die Finanzierung, über Studiengebühren und über das Weiterbestehen von subventionierten Schulen wichtig. Wir müssen anfangen, uns mit dem Bildungsprojekt im Kontext der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Dieses Projekt hat viele Seiten. Es hat auch mit der Gesundheitsversorgung zu tun. Die Koordinierende Versammlung der Schüler der Sekundärstufe (Aces) hat die Über-Diagnostisierung und den hohen Verbrauch an Medikamenten gegen Aufmerksamkeitsdefizite bei Schülern, die in den Schuleinrichtungen unter Druck gesetzt worden sind, angeprangert.

Wie ist es zu erklären, dass die zwei wichtigsten Föderationen von Studenten, die Fech und die der katholischen Universität, von Frauen geleitet werden?

Es ist gut, dass wir Frauen einen Platz in der Politik zu besetzen beginnen. Trotzdem ist Feminismus nicht nur eine Frauensache. Daran wirken Frauen wie Männer mit, die immer wieder versuchen, das patriarchalische Schema zu durchbrechen. Es gibt in Chile konkrete Diskriminierungsfälle gegenüber Frauen, wie niedrigere Löhne, höhere Gebühren für junge Frauen bei der Isapres (Institutionen der Präventivmedizin). Oder der Umstand, dass wir über unseren eigenen Körper nicht entscheiden dürfen. Die Frauen sind besonders von prekären Arbeitsbedingungen betroffen. Es existieren nach wie vor alle Arten von Missbrauch. Die Massenmedien stellen ein negatives Bild der Frauen dar, sie werden als minderwertige Menschen und als Objekte präsentiert.

Wie können die bestehenden Unterschiede innerhalb der Protestbewegung beseitigt werden?

Die größte Herausforderung für das Jahr 2014 ist die Herstellung einer Einheit mit konkreten Vorschlägen und Programmen. Bis heute schien es auszureichen, in der Öffentlichkeit über kostenlose Bildung und deren Qualität nur zu sprechen, um das aktuelle Wirtschaftsbildungsmodell zu destabilisieren und zu diskreditieren. Nun stehen wir einem neuen Szenarium gegenüber, in dem wir unseren Diskus verfeinern müssen – und zwar mit tief greifenden und effektiven Ideen.

Von Seite der Privilegierten wird es nur einseitige Vorschläge geben, die den Kern des Neoliberalismus unangetastet lassen. Das bedeutet Schwierigkeiten für uns. Deswegen müssen wir uns sehr gut überlegen, welche Veränderungen wir umsetzen werden. In Chile muss es Veränderungen geben und Frau Bachelet wird in einem Land mit einer zunehmenden politischen Instabilität regieren.

Glauben Sie, dass die von Ihnen verteidigten Ideen für das Land zukunftsträchtig sind?

Ich glaube an die autonome Volksregierung. Das ist das Ziel, das wir anstreben müssen. Ein System, das den Reichtum gerecht verteilt. Mir müssen die Hauptakteure unseres eigenen Lebens werden. Der Staat war, historisch gesehen, ein Werkzeug, um uns zu unterdrücken. Er wurde benutzt, um die Privilegien einer Minderheit zu verteidigen. Ich bin davon überzeugt, dass eine neue, selbst organisierte Gesellschaft auf einer ganz neuen Basis entstehen muss. Es ist essentiell, über die Selbstverwaltung der Gesundheitsversorgung und des Bildungssektors zu sprechen. Zum Beispiel muss der aktuelle Prozess in enger Beziehung mit den Gemeinden stehen. (...) Die Hochschulen dürfen nicht als eine Fabrik von Akademikern gesehen werden, die nur dem "System" dienen.