Kolumbien: "Strukturelle Veränderungen müssen von der Basis vorangetrieben werden"

Die indigene Aktivistin und Journalistin Dora Muñoz über die anhaltende Gewalt im Departamento Cauca

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Dora Muñoz lebt seit einigen Monaten im Exil in Spanien
Dora Muñoz lebt seit einigen Monaten im Exil in Spanien

Während die kolumbianische Regierung im Rahmen des Programms zum "Totalen Frieden" Verhandlungen mit illegalen bewaffneten Gruppen führt, hält die Gewalt durch Paramilitärs, Armee und Guerrillas landesweit an. Das Jahr 2023 im Departamento Cauca endete mit der Ermordung von fünf Angehörigen des Resguardos Canoas kurz vor Weihnachten. Insgesamt zählte die Nichtregierungsorganisation Indepaz damit im Jahr 2023 landesweit 94 Massaker. Am 1. Januar 2024 wurde im Cauca ein demobilisierter Farc-Kämpfer und Unterzeichner des Friedensvertrags von 2016 ermordet. Mit der Entführung eines Staatsbeamten im Chocó und einem Anschlag auf einen Bürgermeister in Nariño setzt sich die Sicherheitskrise im neuen Jahr fort. Auch Dora Muñoz' Mann wurde vor zwei Jahren ermordet. Sie berichtet vom Kampf gegen Straflosigkeit und über das Verhältnis der indigenen Bewegung zur Regierung.

Du bist nun seit einigen Monaten im Exil in Spanien. Warum bist du ins Exil gegangen?

Gemeinsam mit meinem Sohn sind wir in einem Schutzprogramm für Menschenrechtsverteidiger:innen, um für eine gewisse Zeit unsere Heimat zu verlassen. Im März 2022 wurde mein Partner, José Miller Correa, ermordet. Er war eine wichtige politische Autorität in der indigenen Autonomie und hatte verschiedene politische Posten inne. Seine Ermordung hatte schlimme Folgen für uns als Familie, aber auch für unsere gesamte Gemeinschaft, aufgrund der Verantwortung, die er für die Gemeinschaft getragen hatte. Wir mussten unsere Heimat verlassen und wollten aus dem Exil für Gerechtigkeit und Aufklärung kämpfen.

Wenn man aus solchen Gründen die Heimat verlassen muss, ist das extrem schwierig. Ganz anders, als wenn man ins Ausland geht, um zu studieren, zu arbeiten oder einen Austausch zu machen. Trotzdem habe ich hier viel gelernt und konnte Kollektive kennenlernen, die Verbündete sind und mit denen wir gemeinsam auf die Situation im Cauca aufmerksam machen und uns für die Aufklärung des Mordes an Miller einsetzen. Es ist aber auch wichtig, im Blick zu haben, dass er nicht die einzige Person von uns ist, die ermordet worden ist, sondern einer von vielen. In keinem dieser Fälle hat es wirklich Aufklärung und Gerechtigkeit gegeben. Deswegen geht es darum, einen Schritt in Richtung Ende der Straflosigkeit zu machen und dafür zu sorgen, dass sich diese Gewalt nicht fortsetzt.

Darüber habe ich hier viel gelernt und hoffe, dieses Wissen bei der Rückkehr in meine Heimat mit anderen zu teilen. Zudem bin ich dankbar für die Ruhe, mit der mein Sohn und ich hier leben und diese schwierige Zeit gemeinsam durchstehen konnten.

Wie ist der aktuelle Stand bei der Aufklärung des Mordes an José Miller Correa?

Aktuell ermittelt die Staatsanwaltschaft in Popayán, Cauca. Unser Eindruck als Familie ist, dass es kaum Fortschritte gegeben hat. Wir erhalten kaum Informationen darüber, welche Schritte die Ermittlungsbehörden unternehmen.

Es gab zwei Festnahmen, aber die verdächtigten Personen sind erst einmal wieder frei, auch wenn wohl weiter gegen sie ermittelt wird. Zwei Jahre später ist der Mord immer noch unaufgeklärt.

Dazu kommen einige Unregelmäßigkeiten, zum Beispiel wurde die zuständige Staatsanwältin zwischenzeitlich ausgetauscht. Darüber wurden wir als Familie auch nicht informiert.

Wir fordern, dass die Ermittlung an eine spezialisierte Staatsanwaltschaft auf nationaler Ebene übergeben wird, die dafür gegründet wurde, Morde an Aktivist:innen aufzuklären. Die Behörden im Cauca erwecken kaum Vertrauen und nur mit viel Druck aus der Bewegung und aus dem Ausland scheint sich überhaupt etwas zu bewegen.

Der Mord an Miller ist Teil einer sich seit Jahren intensivierenden Gewalt gegen die indigene Bewegung im Cauca. Wie würdest du den heutigen Moment, den aktuellen Zustand der Bewegung beschreiben?

Es ist ein sehr schwieriger Moment für den indigenen Autonomieprozess im Cauca. Die Mayores, die Älteren, erzählen, dass der Kampf der indigenen Bewegung nie einfach gewesen ist und immer viele Leben gekostet hat. Es gab immer wieder Phasen in der 500-jährigen Geschichte des Widerstands, in der die Repression und Gewalt besonders heftig waren und ich glaube, jetzt gerade erlebt die indigene Bewegung wieder eine solche Phase.

Im Prinzip haben sich die Verhältnisse nach dem Friedensvertrag mit den Farc 2016 nicht wesentlich verändert. Mit immenser Gewalt versuchen legale und illegale bewaffnete Gruppen bestimmte Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen, um die dortigen Ressourcen ausbeuten zu können. Diese Gewalt richtet sich aber eben auch gegen die indigene Bewegung, die – im Gegensatz zu den bewaffneten Gruppen – die Natur nicht als eine Ware, als Teil eines Marktes, betrachtet.

Für uns ist die Natur eine Mutter, ein großes Zuhause, letztlich der Existenzgrund unserer Gemeinschaften. Wir sollten sie schützen und gegen extraktivistische Politik verteidigen, gegen jede Gier – sei es von Einzelpersonen, von Firmen oder von staatlicher Politik.

Wegen unserer Haltung sind wir mit einer alltäglichen Gewalt diverser bewaffneter Gruppen konfrontiert, mit Zwangsrekrutierungen, Bedrohun­gen oder der Ermordung unserer traditionellen Autoritäten, Aktivist:innen, Mitgliedern der Guardia Indígena oder Menschen, die eine wichtige spirituelle Rolle innehaben. Die Zwangsrekrutierung von Jugendlichen ist besonders gefährlich, weil sie auf unsere Zukunft zielt. Sie sind es, die unseren Kampf und Widerstand in Zukunft weiterführen müssten.

Was mich sehr besorgt ist, dass kaum Alternativen greifbar sind, die etwas an diesen gewaltvollen Strukturen ändern könnten. Wir haben viel versucht, interne Dialoge und Debatten geführt, unsere Autonomie und unsere Selbstverwaltung verstärkt. Das hat letztlich zu noch mehr Gewalt gegen unsere Führungspersönlichkeiten geführt.

Du sprichst – aus der Perspektive der indigenen Gemeinschaft – von internen und externen Gründen für die Gewalt.

Ja, ich glaube, das sind im Prinzip externe Faktoren, die mittlerweile zu internen Problemen geworden sind. Zum Beispiel die Denkweise, dass die Reichtümer der Mutter Erde ausgebeutet werden sollten. Dass das Gute Leben sich lediglich durch wirtschaftliche Aspekte auszeichnet.

Diese Denkweise wurde von außen in die Gemeinden getragen und einige Leute verlieren damit unsere eigenen Prinzipien. Dabei spielt natürlich eine große Rolle, dass unsere Gemeinden kaum eigenes Land zur Selbstversorgung haben und es somit eigentlich keine Existenzgarantie gibt, wie unsere Älteren sagen. Die Familien wachsen, aber das verfügbare Land nicht. Dass noch nicht einmal Grundbedürfnisse befriedigt werden können, sorgt für Unruhe in der Gemeinschaft. Der Anbau von Koka oder Marihuana oder die Verwicklung in den Drogenhandel erscheint dann als ökonomische Alternative. Das ist aber keine Lösung, sondern schafft viele Probleme.

Neben der Gewalt der bewaffneten Gruppen sorgt so auch der Drogenkonsum, Alkoholismus, der Besitz von Waffen und interfamiliäre Gewalt zum Verlust unserer Werte. Das ist eine Folge von Extraktivismus, ob Goldbergbau im Cauca, der Bau von Staudämmen, die Monokulturforstwirtschaft mit Kiefern und Eukalyptus oder Zuckerrohrplantagen. Die Umweltverschmutzung, die Konzentration von Land in den Händen einiger Weniger und die ökonomische Abhängigkeit der anderen, all das dringt mit großer Gewalt in indigene Territorien ein.

Nun gibt es seit einem Jahr in Kolumbien eine progressive Regierung, die sich kritisch gegenüber dem Extraktivismus positioniert. Sie hat ihre Wurzeln in den sozialen Bewegungen, die entscheidenden Anteil am Wahlerfolg hatten. Auch die indigene Bewegung unterstützte sie. Wie ist aktuell das Verhältnis zur neuen Regierung?

Ein großer Teil der indigenen Bewegung unterstützt die Regierung von Gustavo Petro. Wir sind jetzt stärker eingebunden in den Institutionen, auf kommunaler Ebene, auf Landes- oder auf nationaler Ebene. Wir haben eigene Kandidat:innen im Regierungsbündnis Pacto Histórico aufgestellt, um so als indigene Bewegung auch diese Räume zu besetzen, in denen Entscheidungen getroffen werden.

Wir stehen der Regierung sicher näher als allen vorherigen. Trotzdem hat es bisher noch keine strukturellen Veränderungen gegeben. Vielleicht ist es auch noch zu früh dafür. Im ersten Jahr hat die Regierung von Gustavo Petro wichtige Reformen angestoßen, aber vieles scheitert im Kongress, wo sie keine Mehrheit hat. Wir sehen die Bemühungen der Regierung, aber wir wissen auch, dass es sehr schwierig ist, in vier Jahren eine lange Geschichte des Kriegs, der Ungleichheit zu überwinden. Unsere Lehre daraus ist, dass die strukturellen Veränderungen von der Basis vorangetrieben werden müssen und die Selbstorganisation im Lokalen gestärkt werden muss. Dort liegt die Macht des Volkes.

Du berichtest von vielen Problemen, Gewalt und Trauer. Was macht dir in diesem Moment Hoffnung?

Was wir uns immer erhalten haben, ist unsere Bereitschaft zu kämpfen, das Leben zu verteidigen, obwohl um uns herum viele Tode gestorben werden. Eine der Formen unseres Kampfes, die Hoffnung macht, ist die Guardia Indígena, die Organisationen von Jugendlichen, von Frauen, im Gesundheitsbereich, unser eigenes Bildungssystem, unsere eigenen Medien und die Stärkung unserer kulturellen Identität, das Wiederbeleben unserer Sprache und die Befreiung der Mutter Erde als ein Prozess der Selbstorganisation, der sich wieder auf den Ursprung der Bewegung besinnt und Landbesetzungen initiiert.

Auch unser traditionelles Wissen und unsere Spiritualität geben uns Hoffnung. Wir indigenen Völker waren trotz der Repression immer widerständig, im Kampf für die Würde und wir ziehen unsere Kraft aus der Mutter Erde.

Dora Muñoz ist Teil der indigenen Bewegung in Corinto, Cauca. Sie studierte interkulturelle Kommunikation mit Schwerpunkt Gender in Managua, Nicaragua. Im Cauca baute sie das autonome Kommunikations- und Medienprogramm mit auf, arbeitete für Community-Radios und vermittelte ihr Wissen unter anderem an der indigenen Universität UAIIN.

Der Beitrag ist erschienen in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 596