Sturm auf die Macht in Brasilien

In düsteren Zeiten wie diesen wäre das Schlimmste, was passieren könnte, die Verweigerung einer umfassenden Selbstkritik

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Demonstration gegen De-facto-Präsident Michel Temer am Sonntag in São Paulo
Demonstration gegen De-facto-Präsident Michel Temer am Sonntag in São Paulo

Eine Clique von Banditen hat Brasiliens Präsidentschaft im Sturmangriff übernommen.

Sie besteht aus drei Akteuren: Einerseits handelt es sich um eine größere Zahl von Parlamentariern (es sei daran erinnert, dass zwei Drittel von ihnen mit den schlimmsten Vorwürfen von Korruption belastet sind). Von diesen schaffte es die Mehrheit dank eines absurden Wahlgesetzes in den Kongress, das es den Kandidaten ermöglicht, mit nur wenigen hundert Stimmen einen Sitz zu bekommen, und das alles wegen der perversen Magie des "Wahlquotienten"1.

Solche unbedeutenden Eminenzen konnten provisorisch diejenige absetzen, die mit der Unterstützung von 54 Millionen Stimmen in den Palacio de Planalto 2 gekommen ist.

Zweitens handelt es sich um eine Judikative, die gleichermaßen unter Verdacht steht, mit der allgemeinen Korruption des politischen Systems verbandelt zu sein und die von weiten Teilen der brasilianischen Bevölkerung abgelehnt wird. Es ist aber eine Staatsmacht, die hermetisch vor jedweder demokratischen oder zivilen Kontrolle abgeschlossen ist. Sie ist zutiefst oligarchisch in ihrer Weltanschauung und stellt sich entschieden gegen jede politische Alternative, die sich den Aufbau eines gerechteren und egalitäreren Landes vornimmt.

Obendrein sind diese Richter und Staatsanwälte, genau wie die Parlamentarier, seit nun fast zwanzig Jahren von ihren US-amerikanischen Kollegen in angeblich fachspezifischen Kursen geschult worden, die aber, wie weithin bekannt, ausnahmslos einen politischen Hintergrund haben, der unschwer erkennen lässt, welche ideologischen Grundzüge dahinter stehen.

Der dritte Akteur dieses gigantischen Betruges an der Volkssouveränität sind die großen Massenmedien von Brasilien, deren putschistische Berufung und zutiefst reaktionäre Gesamthaltung allgemein bekannt sind, denn sie haben schon immer gegen jedes Projekt für den Wandel in einem Land gekämpft, das zu den ungerechtesten dieses Planeten gehört.

Indem Dilma Rousseff ihres Amtes enthoben wurde (für einen Zeitraum von maximal 180 Tagen, in denen der Senat mit einer Mehrheit von zwei Dritteln entscheiden muss, ob Anklage gegen die Präsidentin erhoben wird oder nicht), ist die Interimspräsidentschaft auf eine dunkle und mittelmäßige Gestalt übergegangen, ein ehemaliger Verbündeter der Arbeiterpartei PT, der sich in einen hervorragenden Konspirateur verwandelt hat und schließlich zum schändlichen Verräter wurde: Michel Temer.

Unglücklicherweise weist alles darauf hin, dass der Senat in Kürze die temporäre Suspendierung der Präsidentin in eine endgültige umwandeln wird, denn bei der Stimmabgabe, die sie von ihrem Amt enthob, erhielten die Verschwörer 55 Stimmen, eine mehr als notwendig ist, um sie abzusetzen.

Und das wird so sein, obwohl – wie Dilma sagte, nachdem sie über die Entscheidung des Senats informiert worden war – sie zwar Fehler gemacht haben kann, aber niemals Verbrechen begangen hat. Ihre lautere Vorgeschichte in diesem Bereich strahlt hell im Vergleich mit den Strafregistern ihrer Prüfer. Es sind finstere Figuren wie aus Chico Buarques Gauneroper3, die sich über den "amtlichen Gauner, den Kandidaten für den Regierungsgangster und den Verbrecher mit Vertrag, mit Krawatte und Kapital" lustig macht. Dieses Verbrechertum regiert heute Brasilien.

Die Verschwörung der brasilianischen Rechten baute auf die Unterstützung aus Washington – stellen Sie sich vor, wie das Weiße Haus reagiert hätte, wenn sich etwas Vergleichbares gegen irgendeinen ihrer Handlanger in der Region zugetragen hätte! Zum rechten Zeitpunkt schickte Barack Obama Liliana Ayalde als Botschafterin nach Brasilien, eine Expertin für "sanfte Putsche". Bevor sie den Posten in Brasília annahm, den sie nach wie vor ausübt, war sie sicher rein zufällig kurz vor dem "institutionellen" Sturz Fernando Lugos Botschafterin in Paraguay4.

Aber das Imperium ist nicht allmächtig und um die reaktionäre Verschwörung in Brasilien gangbar zu machen, war die Komplizenschaft mehrerer Regierungen in der Region notwendig, wie die der argentinischen, die den Angriff ihrer brasilianischen Freunde auf die Demokratie als eine rein routinemäßige parlamentarische Übung abtat.

Insgesamt ist das, was in Brasilien geschehen ist, ein heftiger Angriff, der nicht nur darauf abzielt, Dilma abzusetzen, sondern auch eine Partei zu stürzen, die PT, die an den Wahlurnen nicht besiegt werden konnte. Zudem sollen die Türen für ein Verfahren gegen Ex-Präsident Lula da Silva geöffnet werden, um seine Kandidatur bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu verhindern.

Anders gesagt lautete die kategorische Botschaft der "Schurken" an das brasilianische Volk: Kommt bloß nicht mehr auf die Idee, die PT zu wählen oder eine der PT ähnliche politische Kraft! Denn obwohl ihr an den Urnen den Ausschlag geben mögt, tun wir es im Kongress, in der Rechtsprechung und in den Medien. Und unsere gebündelte Macht kann viel mehr als eure Millionen Stimmen.

Ein schwerer Rückschlag für ganz Lateinamerika, der zur argentinischen Erfahrung hinzukommt und uns dazu verpflichtet, darüber nachzudenken, was eigentlich passiert ist. Oder wir müssen uns fragen, dem berühmten Rat von Simón Rodríguez folgend, wo wir uns geirrt haben und warum wir nicht neu erfunden haben, oder ob wir falsch erfunden haben5. In düsteren Zeiten wie wir sie gerade erleben: frontaler Krieg gegen die bolivarische Regierung in Venezuela, hinterhältige Medienkampagnen gegen Evo6 und Correa7, politischer Rückschlag in Argentinien, betrügerische Verschwörung in Brasilien – in Zeiten wie diesen wäre das Schlimmste was passieren könnte, unsere Verweigerung einer umfassenden Selbstkritik, die verhindern könnte, wieder die gleichen Irrtümer zu begehen.

Im Fall von Brasilien war einer davon, vielleicht der schlimmste von allen, die Demobilisierung der PT und die Auflösung der Volksbewegung, die in den ersten Jahren der Amtszeit von Lula begann und die Dilma Jahre später hilflos gegenüber dem Angriff des politischen Verbrechertums zurücklassen sollte.

Der andere, eng verknüpft mit dem vorherigen, war zu glauben, dass Brasilien allein aus den Amtszimmern heraus verändert werden könnte, ohne die aktive, bewusste und organisierte Unterstützung des popularen Lagers. Wenn die Putschversuche in Venezuela (2002), Bolivien (2008) und Ecuador (2010) abgewehrt werden konnten, dann deshalb, weil man in diesen Ländern nicht der institutionalistischen Illusion verfallen ist, die sich der Regierung und der PT unglücklicherweise schon seit ihren ersten Jahren bemächtigt hatte.

Dritter Fehler: die interne Debatte und Kritik in der Partei und der Regierung aufzugeben, um stattdessen auf vereinfachende Parolen zurückzugreifen, die die Sicht auf Fehlentscheidungen versperren und verhindern, sie zu korrigieren bevor der Schaden, wie sich nun gezeigt hat, irreparabel ist.

Aus gutem Grund sagte Machiavelli8, dass einer der schlimmsten Feinde der Stabilität für die Regierenden die unheilvolle Rolle ihrer Minister und Berater sei, die immer bereit sind, ihnen zu schmeicheln und aus diesem Grund absolut unfähig sind, vor den Gefahren und Fallen zu warnen, die auf dem Weg lauern. Hoffentlich dienen uns die aktuellen traumatischen Ereignisse in Brasilien dazu, diese Lektionen zu lernen.

  • 1. siehe Das Wahlsystem Brasiliens im Überblick
  • 2. Brasiliens Regierungspalast
  • 3. Die 1978 uraufgeführte "Ópera do Malandro" (Gauneroper) des bekannten brasilianischen Musikers und Autors Chico Buarque;
  • 4. Ende Juni 2012 wurde der linksgerichtete Präsident von Paraguay, Fernando Lugo, in einem Eilverfahren vom Parlament abgesetzt. Zuvor war sein Koalitionspartner, die "Radikale Authentische Liberale Partei" (PLRA), zur Opposition übergelaufen
  • 5. Borón bezieht sich hier auf die Aussage des venezolanischen Pädagogen Simón Rodríguez (1769 – 1854): "Wenn wir nicht erfinden, dann irren wir" (O inventamos o erramos). Der Frühsozialist und Lehrer des Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar setzte sich für eine klassenlose Gesellschaft und eine "befreiende Bildung" in einem System öffentlicher Schulen ein
  • 6. Evo Morales, Präsident von Bolivien
  • 7. Rafael Correa, Präsident von Ecuador
  • 8. Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) gilt als einer der bedeutendsten Staatsphilosophen der Neuzeit
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