Lebenslang für Entführer von Schüler:innen während der Diktatur in Argentinien

Verschwindenlassen von 600 Personen in mehreren geheimen Internierungszentren verhandelt. Freispruch für ehemaligen Klienten des aktuellen Justizministers

argentinien_los_lapices_siguen_escribiendo.jpg

"Die Bleistifte schreiben weiter": Gedenken an die bis heute in der Nacht der Bleistifte "verschwundenen" Schüler:innen
"Die Bleistifte schreiben weiter": Gedenken an die bis heute in der Nacht der Bleistifte "verschwundenen" Schüler:innen

La Plata. Ein Bundesgericht in der Provinz Buenos Aires hat zehn Personen wegen staatlicher Verbrechen während der zivil-militärischen Diktatur (1976–1983) zu lebenslanger Haft verurteilt. Eine Person erhielt eine Haftstrafe von 25 Jahren, eine weitere wurde freigesprochen.

Gegenstand des im Oktober 2020 eröffneten Verfahrens war die Entführung und Folter von 600 Zivilpersonen in mehreren geheimen Internierungszentren von Militär und Polizei in der Provinz Buenos Aires. Der Großteil von ihnen gilt bis heute als "verschwunden".

Unter den Opfern waren auch zehn jugendliche Schülerinnen und Schüler, die im September 1976 im Zuge der sogenannten Nacht der Bleistifte (Noche de los lápices) entführt wurden. Sechs von ihnen sind nie wieder aufgetaucht. Ihre Namen sind: María Clara Ciocchini, María Claudia Falcone, Horacio Ungaro, Claudio de Acha, Daniel Racero und Francisco Muntaner.

Die "Nacht der Bleistifte” wurde 1983 von der Nationalen Kommission über das Verschwinden von Personen (Conadep) erstmals dokumentiert und im Verfahren gegen die Militärjuntas 1985 mitverhandelt.

Die vom Heeresgeheimdienst geplante und von der Polizei der Provinz Buenos Aires durchgeführte Aktion hatte zum Ziel, gegen die "Subversion in den Schulen" vorzugehen. Die späteren Opfer waren dadurch aufgefallen, dass sie sich öffentlich für Schülerermäßigungen bei Tickets für den öffentlichen Verkehr eingesetzt hatten.

Das in dem jetzigen Prozess verhandelte Lagernetzwerk umfasste mehrere geheime Internierungszentren in den Bezirken Banfield, Quilmes, Lanús, Avellaneda und San Justo im Großraum Buenos Aires.

Angeklagt waren Heeresangehörige, Agenten des Militärgeheimdienstes und der Polizei sowie der von der Junta eingesetzten zivilen Regierung der Provinz Buenos Aires. Zu lebenslanger Haft verurteilt wurden der frühere Heeresoffizier Federico Antonio Minicucci; die ehemaligen Angehörigen des Heeresgeheimdienstes Guillermo Domínguez Matheu, Jorge Héctor Di Pascuale, Carlos María Romero Pavón, Roberto Balmaceda und Carlos Fontana; die früheren Polizeibediensteten Jorge Antonio Berger, Horacio Castillo und Juan Miguel Wolk. Der Geheimdienstmitarbeiter Alberto Julio Canditi bekam 25 Jahre Haft.

Mit Jaime Lamont Smart, dem früheren Minister in der von den Militärs eingesetzten Provinzregierung von Buenos Aires, wurde auch ein Zivilist zu lebenslanger Haft verurteilt. So wie die meisten Angeklagten, war er bereits davor in mehreren Prozessen verurteilt worden.

Fast alle verfolgten die Urteilsverkündung aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters aus dem Hausarrest. Das Gericht verfügte nun neue Gutachten, um ihre Haftfähigkeit und damit die Möglichkeit ihrer Überstellung in ein Gefängnis zu prüfen.

Für Aufsehen sorgte der Freispruch von Enrique Augusto Barre, dem Stellvertreter von Juan Wolk im gefürchteten Folterzentrum Pozo de Banfield. Er wurde bis zum Dezember 2023, dem Antrittsdatum der Regierung des rechtsradikalen Präsidenten Javier Milei, von dem Anwalt Mariano Cúneo Libarona vertreten. Libarona wurde zum Justizminister in Mileis Kabinett ernannt.

Auch wenn die genaue Urteilsbegründung erst im Juli veröffentlicht wird, kündigten Staatsanwaltschaft und Nebenkläger:innen bereits eine Berufung gegen den Freispruch an. Pablo Díaz, selbst Überlebender der "Nacht der Bleistifte", urteilte: "Das ist doch sehr auffällig."

Ansonsten zeigte sich Díaz mit dem Urteil zufrieden: "Es ist das erste Mal, dass die Repressoren individuell für jedes einzelne der begangenen Delikte verurteilt werden: Entführungen, Foltern, Vergewaltigungen und das Verschwindenlassen von Personen."

Emilce Moler, so wie Díaz in der "Nacht der Bleistifte" entführt und später wieder freigelassen, sagte gegenüber Pagina12: "Wir haben unseren Schmerz in rechtliche Beweisstücke verwandelt."

Ebenfalls bei der Urteilsverkündung anwesend war Daniel Santucho Navajas. Er ist der 133. von den Großmüttern der Plaza de Mayo wiedergefundene geraubte Enkel (amerika 21 berichtete). Seine Mutter Cristina Navajas brachte ihn im Folterzentrum Pozo de Banfield auf die Welt, bevor sie von den Militärs ermordet wurde.