Kultur- statt Wahlkampf in Argentinien: "Gegen-Erinnerung" und Papst-Beleidigungen

Rechtes Lager von "Anarcho-Kapitalist" Milei sieht sich im Aufwind. Kandidatin für Vizepräsidentschaft leugnet Staatsterrorismus und Diktaturverbrechen

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Proteste gegen die Leugnerin der Diktarturverbrechen: Villarruel hatte Ex-Diktator Videla im Gefängnis besucht und auch Jugendliche dazu eingeladen
Proteste gegen die Leugnerin der Diktarturverbrechen: Villarruel hatte Ex-Diktator Videla im Gefängnis besucht und auch Jugendliche dazu eingeladen

Buenos Aires. In Argentinien wird der Wahlkampf für die anstehenden Präsidenten- und Gouverneurswahlen am 22. Oktober immer mehr zum Kulturkampf.

Nachdem der ultrarechte, selbsternannte "Anarcho-Kapitalist" Javer Milei die Paso-Vorwahlen gewann, wähnt sich sein Lager in der Offensive. Als Folge kommt es vermehrt zur Infragestellung der Verbrechen der Militärdiktatur und auch zu Beleidigungen des Papstes.

Mileis Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin, Victoria Villarruel, ist seit vielen Jahren für die sogenannte "contra-memoria" (Gegen-Erinnerung) aktiv. Die 48-jährige Juristin stammt aus einer Familie mit hohen Militärs. Sie kritisiert die Gerichtsverfahren gegen Angehörige der Militärdiktatur, die während der Regierungszeit Néstor Kirchners (2003-2007) wegen Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt wurden.

Um die Erinnerungskultur für die "Opfer" bei den Militärs voranzubringen, gründete sie 2006 das "Rechtswissenschaftliche Studienzentrum über den Terrorismus und seine Opfer".

Seit 2021 sitzt sie für Mileis Parteienbündnis "La Libertad Avanza" im Abgeordnetenhaus. In Interviews verteidigte sie die Militärs wiederholt gegen den Vorwurf des Staatsterrorismus, bezweifelte die anerkannte Zahl von circa 30.000 Opfern und bekräftigte, dass die Bevölkerung nach der militärischen Machtübernahme von 1976 "geschützter" gewesen sei.

Am 4. September protestierten tausende Menschen vor dem Gebäude der Stadtverordnetenversammlung von Buenos Aires, wo Villarruell zu einer nicht-öffentlichen Veranstaltung unter dem Motto "Ehrung der Opfer des Terrorismus" und einer "Zeremonie zu Ehren der anderen Opfer der politischen Gewalt der 1970er Jahre" geladen hatte. In Villarruells Sicht gab es in Argentinien keinen Staatsterrorismus, sondern einen Bürgerkrieg zwischen staatlichen und kommunistischen Kräften, in dem es vereinzelt "Missbräuche" der Polizei und des Militärs gegeben habe. "Terror" hätten demnach allein die linken Guerillagruppen ausgeübt, deren "Opfer" nicht gewürdigt würden.

Jüngst bezeichnete sie in einem Radiointerview Estela de Carlotto, die 93-jährige Präsidentin der Großmütter der Plaza de Mayo, als "unheilvolle Person“. Dies rief Protest in den sozialen Medien, in politischen Kreisen und auf der Straße hervor.

Die größte Gewerkschaft des Landes, CGT (Confederación General del Trabajo), betonte, "unheilvoll" sei es, "das erzwungene 'Verschwinden', den Massenmord an 30.000 Menschen zu leugnen."

Der Negationismus könne sich mit gerechten Urteilen und Strafen nicht abfinden, sagte Martin Ocampo, Vizepräsident der Stadtverordnetenversammlung von Buenos Aires. Die Verurteilung der Diktatur sei ein breiter Konsens, der von Mileij und Villaruel aufgekündigt werde.

Die Angegriffene selbst rief zum Zusammenhalt auf: "Wir müssen verhindern, dass eine solch elende Person für 45 Millionen Menschen Verantwortung tragen wird."

Myriam Bregman, langjährige Menschenrechtsaktivistin, Abgeordnete und Präsidentschaftskandidatin der linken Front aller Arbeiter:innen, sprach explizit von einem Kulturkampf: "Aber wir werden diesen gewinnen, denn es ist nicht zu bestreiten, dass es einen Massenmord gab". Wenn Villaruel die "vollständige Erinnerung" und die "Wahrheit wissen" wolle, hätte sie General Jorge Rafael Videla, den von 1976 bis 1981 amtierenden Diktator, fragen sollen. Sie spielte darauf an, dass Villaruel den bis zu seinem Tod einsitzenden Videla, der 2012 zudem wegen des von der Junta organisierten Babyraubs zu lebenslänglich verurteilt worden war, ebenso wie andere verurteilte Diktaturverbrecher mehrfach besuchte.

Auch Javier Milei selbst, der schon mehrmals die Idee sozialer Gerechtigkeit verhöhnt hatte, teilte aus – gegen den Papst. Den aus Argentinien stammenden Franziskus nannte er "eine schändliche Person" und das "größte Übel der Menschheit".

Die Antwort: Rund 70 Priester aus den ärmeren Stadtvierteln der Hauptstadt hielten vor der Basilika von Caacupé eine Messe zur Verteidigung des Papstes, der mehrere Hundert Gläubige beiwohnten. "Das Vaterland wird mit Einheit und sozialer Gerechtigkeit gebaut", so ihr Motto. Sie fordern daher mehr ‒ statt wie Milei, weniger ‒ Präsenz des Staats, mehr Unterstützung für die Ärmeren.

Beispielhaft erklärte Pater Jorge von der Pfarrei San Martín de Porres: "Wir verteidigen das Projekt des Papstes: Gemeinschaft, Inklusion, Solidarität, Gewaltverzicht. Unsere Messe soll uns von Mileis Beleidigungen erleichtern. Wir beten und arbeiten für ein gerechteres Argentinien. (…) Mehr als je zuvor brauchen wir Einheit und Hoffnung." Am Ende der Messe wurde eine Erklärung verlesen, in der Mileis Äußerungen wegen ihrer Aggressivität und Falschaussagen energisch verurteilt werden.

Die mit dem "Kulturkampf" einhergehende Polarisierung im Wahlkampf lässt sich vermittelt auch in den jüngsten Wahlumfragen ablesen. Während Milei trotz leichter Verluste mit 31 Prozent weiter führt und Sergio Massa mit 28 Prozent leicht dazu gewann, scheint die konservative Kandidatin Patricia Bullrich mit 21 Prozent zunehmend abgeschlagen. Vieles deutet auf eine Stichwahl zwischen Milei und Massa hin.