Argentinien / Politik

Ergebnisse der Vorwahlen in Argentinien erzeugen ein politisches Beben

Siegreicher Rechtspopulist Milei kündigt "Plan Motorsäge" an: "Minimaler Staat" und soziale Kürzungen. Unterlegener Peronismus sammelt Kräfte

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Auch in armen Regionen von Argentinien bekam die Programmatik des sozialen Kahlschlags Zustimmung
Auch in armen Regionen von Argentinien bekam die Programmatik des sozialen Kahlschlags Zustimmung

Buenos Aires. Bei den Paso-Vorwahlen (Primarias, abiertas, simultáneas y obligatorias) in Argentinien hat der "libertäre" Rechtspopulist Javier Milei überraschend die meisten Stimmen bekommen. Er erreichte einen Stimmanteil von rund 30 Prozent (7,11 Millionen Stimmen) und setzte sich in 16 von 24 Provinzen durch.

Auf den zweiten Platz kam die konservative Opposition "Juntos por el Cambio" (JxC) des früheren neoliberalen Präsidenten Mauricio Macri (Amtszeit 2015-2019) mit insgesamt 28,3 Prozent der Stimmen. Dabei setzte sich Macris ehemalige Sicherheitsministerin Patricia Bullrich gegen den Bürgermeister von Buenos Aires, Horacio Rodríguez Larreta, durch.

Die von der peronistischen Partei (PJ) geführte Regierungskoalition "Unión por la Patria" (UxP) kam mit knapp 27,3 Prozent auf den dritten Platz. Für die PJ war es das seit Jahrzehnten schlechteste Ergebnis. UxP gewann fünf Provinzen, darunter die von Buenos Aires, die bevölkerungsreichste des Landes. Wirtschaftsminister Sergio Massa wurde zum Kandidaten der Regierungskoalition für die Nachfolge des amtierenden Präsidenten Alberto Fernández gekürt. Massa bekam mit gut 5,1 Millionen deutlich mehr Stimmen als sein Herausforderer Juan Grabois, ein Linksperonist und Sozialaktivist, mit knapp 1,4 Millionen.

Die Paso-Vorwahlen wurden 2009 unter der damaligen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner (2007-2015) zur "Demokratisierung der politischen Repräsentation und zur Transparenz bei Wahlen" eingeführt. Ihre Ergebnisse entscheiden zum einen, welche Parteien oder Bündnisse landesweit mehr als 1,5 Prozent Stimmenanteil erhalten und so zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zugelassen werden. Zum anderen, welche der innerhalb der Parteienbündnisse konkurrierenden Kandidat:innenlisten für das jeweilige Bündnis antreten wird.

Die Wähler:innen können unabhängig von einer Parteizugehörigkeit für Kandidat:innen jeder Partei stimmen, haben aber nur eine Stimme. Es besteht Wahlpflicht, gegen die bei den Paso-Vorwahlen aber häufiger verstoßen wird. Deshalb wird ihr Ergebnis nicht nur als allgemeiner Stimmungstest, sondern auch als Indiz für das Mobilisierungspotential von Parteien und Kandidat:innen betrachtet.

Mileis Sieg hat national und international für Aufsehen gesorgt. Argentinische Meinungsforschungsinstitute hatten ihn mit 19-20 Prozent Stimmenanteil hinter Massa und Bullrich gesehen (amerika21 berichtete). Für den Wahlsoziologen Jerónimo Pinedo ist "ein neues wirtschaftliches und politisches Szenario" entstanden. Gespiegelt würden die gewachsenen Krisenphänomene wie eine ideologische Spaltung und die anhaltende Rezession mit hoher Inflation und Auslandsschulden.

Der 1970 geborene Milei bezeichnet sich selbst als "Anarcho-Kapitalist", der gegen den Staat und die etablierten politischen Kräfte ist und eine Dollarisierung der argentinischen Wirtschaft vertritt. Nach seinem Ökonomiestudium war er in der Versicherungs- und Finanzindustrie sowie in reichen Unternehmerkreisen tätig. Nachdem er Mitte 2021 das libertär-ultrarechte Parteienbündnisses "La Libertad Avanza" (Die Freiheit schreitet voran) gegründet hatte, wurde er im November 2021 in das Abgeordnetenhaus gewählt. Sein Stimmenanteil war in den von Armut betroffenen Stadtvierteln überdurchschnittlich.

Milei bezeichnete die etablierten Akteur:innen der argentinischen Politik wiederholt als "parasitäre und korrupte Kaste", die Staat und Bevölkerung ausnehmen würde. Er tritt für einen "minimalen Staat" ein, der sich allein um Sicherheit und Justiz kümmern soll. Damit würden die Kosten für die Politik und das Staatsdefizit Argentiniens reduziert. Die Idee von sozialer Gerechtigkeit bzw. Sozialstaat bezeichnet er als "Verirrung".

Milei ist gegen Abtreibung und negiert den Klimawandel, er ist für "freie Liebe" und freien Waffenbesitz, für gleichgeschlechtliche Ehe, freie Geschlechtswahl und die Legalisierung von Drogen. Er sei katholisch, aber bereit für den Übertritt zum Judentum; Papst Franziskus verkörpere den Kommunismus. "Leben, Freiheit und Eigentum" sind laut Medienberichten die Leitlinien seines Denkens. Milei zeigt gerne seine Affinität mit Ultrarechten des Kontinents, außerhalb Lateinamerikas hat er sich vor allem der spanischen Partei VOX genähert, die zu den ersten Gratulanten gehörten.

Für den Fall seines Wahlsiegs im Oktober hat er einen "Plan Motorsäge" angekündigt, der Einschnitte bei staatlichen Institutionen in Höhe von 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vorsieht. Rund ein Dutzend Ministerien sollen aufgelöst werden, nur die Ressorts für Verteidigung, Justiz, Wirtschaft, Außenbeziehungen, Infrastruktur und Inneres sowie ein neues Ministerium für "Menschliches Kapital", das die bisherigen Ressorts für Arbeit, Bildung, Gesundheit und Soziales vereinigen soll, würden bestehen bleiben.

Auch die staatlichen Förderorganisationen für Kultur, Film und Wissenschaft sowie die staatlichen Fernsehsender, die Milei als "unproduktiv, peronistisch unterwandert und voller Privilegien" ansieht, sollen geschlossen werden.

Zudem will Milei den Steuer- und Finanzausgleich zwischen der Zentralregierung, den Provinzen und der Hauptstadt Buenos Aires abschaffen. Das seit 1994 zum Verfassungsrang erhobene System ermöglicht es den Provinzen mit geringerer Wirtschaftskraft und entsprechend niedrigeren Steuereinnahmen, ihre Ausgaben für Bildung und Gesundheitswesen aufrechtzuerhalten. Regionen wie Salta, Jujuy und Mendoza, in denen Milei mit 40 bis 49 Prozent seine besten Ergebnisse erzielte, würden von diesen Plan stark betroffen sein.

Mileis Ideen scheinen bei vielen von den traditionellen Akteur:innen in Staat, Politik und Wirtschaft enttäuschten Argentinier:innen gut anzukommen. Beobachter:innen fragen jetzt, ob die Zustimmung eher spontaner Protest oder anhaltendes Votum ist. Ein bei den Präsidentschaftswahlen siegreicher Milei würde die politische Landschaft Argentiniens dramatisch verändern.

Allerdings wiesen frühere Wahlergebnisse große Unterscheide zu den Vorwahlen auf. Auch lag jetzt die Wahlbeteiligung deutlich niedriger als bei den Vorwahlen im August 2019, die der danach ins Amt gewählte amtierende Fernández gewonnen hatte. Dessen Amtsvorgänger Macri war bei den Vorwahlen von 2015 nur auf Rang zwei gelandet, hatte den Urnengang im Oktober aber gewonnen. Er setzte sich gegen den peronistischen Kandidaten durch, der die Vorwahlen gewonnen hatte.

Das Regierungsbündnis bemüht sich nun, Einheit um seinen Kanditaten Massa zu demonstrieren. Dieser zeigte sich kämpferisch: "Wir haben 60 Tage für die Wende, also um die zu gewinnen, die für den Hass gestimmt haben".

Um das Ergebnis drehen zu können, hoffen die Peronisten auf die Mobilisierung ihrer bisher nicht zur Wahl gegangenen Wähler:innen. Dies soll vor allem in der mit großem Abstand bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires geschehen, wo die PJ deutlich vor Milei lag, aber auch unabhängige linke Listen rund vier Prozent erreichten. Da in der Provinz die Wahlbeteiligung unter dem Durchschnitt lag, besteht in UxP-Sicht noch weiteres Mobilisierungspotential.

Angesichts der Einschätzung, dass Mileis Sieg eine "Gefahr für das demokratische System" darstellen würde, plädieren wichtige PJ-Politiker:innen dafür, das UxP-Bündnis um kleinere Mitte-Links-Parteien zu erweitern. Agustín Rossi, Kabinettschef des aktuellen Präsidenten und Kandidat für das Vizepräsidentenamt, sprach sich bei einem Wahlsieg für die Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit" aus.