Argentinien: Proteste Indigener aus Jujuy gegen die Verfassungsreform halten an

Seit Anfang August protestieren Vertreter:innen auch in Buenos Aires. Justizminister Soria ruft Oberstes Gericht auf, die Verfassungsmäßigkeit der Reform zu überprüfen

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Vertreter:innen mehrerer indigener Gemeinden aus Jujuy tragen ihren Protest bis in die Hauptstadt Buenos Aires
Vertreter:innen mehrerer indigener Gemeinden aus Jujuy tragen ihren Protest bis in die Hauptstadt Buenos Aires

Jujuy/Buenos Aires. Angesichts der vom rechten Gouveneur Gerardo Morales durchgesetzten Verfassungreform in Jujuy sind zahlreiche indigene Gemeinschaften in einem Protestmarsch vor den Obersten Gerichtshof in Buenos Aires gezogen.

Die Demonstrationen in der nordargentinischen Provinz Jujuy gegen die umstrittenen Gesetzesänderung (amerika21 berichtete) gehen damit in den zweiten Monat. Kurz vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober ist die Stimmung zunehmend angespannter.

Im Juni hatte die verfassungsgebende Versammlung der Provinz einstimmig mehrere Änderungen des Grundgesetzes beschlossen. Einige stellen das Demonstrationsrecht in Frage, indem sie in vagen Formulierungen etwa Protestformen wie Straßenblockaden oder die Besetzung öffentlicher Gebäude kriminalisieren. Andere in der neuen Provinzverfassung vorgesehene Artikel dienen dazu, die Vertreibung indigener Gemeinden von ihren Territorien zu erleichtern, für die sie keinen offiziellen Landtitel besitzen. Dies löste umgehend Massenproteste aus.

Um die Aufmerksamkeit für die Proteste und ihre Forderungen zu erhöhen, machten sich Vertreter:innen mehrerer indigener Gemeinden am 25. Juli von Jujuy auf den Weg in die Hauptstadt. Teils begleitet von Unterstützer:innen, sozialen Organisationen und Gewerkschaften trafen sie dort am 1. August, dem "Tag der Pachamama" (Mutter Erde) ein.

Vor Ort überreichten sie dem Obersten Gerichtshof eine Petition mit Beschwerden über fehlende Rechtsstaatlichkeit und institutionalisierte Gewalt und kündigten zugleich an, bis vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen. Protestierende berichten, dass die Polizei ihnen nicht erlaubte, Chemietoiletten oder Zelte als Schutz gegen Kälte, Wind und Regen aufzustellen.

Die Proteste in Jujuy finden unter dem Motto "El Tercer Malón de la Paz" (Die Dritte Friedensinvasion) statt und knüpfen damit an historische Protestmärsche der indigenen Völker im Norden Argentiniens an. Der erste kam 1946 nach mehr als zwei Monaten in der Hauptstadt Buenos Aires an und forderte von Präsident Juan Domingo Perón Landtitel ein, die er ihnen noch im Wahlkampf versprochen hatte. Das nächste Mal sperrten sie im Jahr 2006 großflächig Straßen ab. Um die Situation zu beruhigen, versprach die Politik Landtitel, auf die die meisten Gemeinden bis heute noch warten.

Die indigenen Massenproteste 2023 fußen wiederum auf drei zentralen Forderungen: 1. Der Oberste Gerichtshof soll die Verfassungsreform der Provinz Jujuy für verfassungswidrig erklären. 2. Das nationale Parlament soll in der Provinz Jujuy einschreiten. 3. Der Kongress soll ein Gesetz für indigenes Gemeinschaftseigentum verabschieden.

Am Dienstag ketteten sich drei Männer aus Protest an den Gittern vor dem Obersten Gerichtshof an und traten in den Hungerstreik. "Wir müssen diese Maßnahmen ergreifen, weil es keine Antworten gibt. Wir bitten alle Institutionen, einzuschreiten und sofort zu handeln", sagte Néstor Jerez, Kazike des Volks Ocloya. Am Nachmittag besuchte der argentinische Nobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel die Gruppe und kritisierte dabei, dass keine der Richter:innen, sondern lediglich Sekretäre sie empfangen und angehört haben.

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Protest vor dem Obersten Gerichtshof in Buenos Aires
Protest vor dem Obersten Gerichtshof in Buenos Aires

Mit Blick auf die landesweiten Vorwahlen, die am Sonntag stattfinden, unterbrachen die Männer die Protestaktion am Donnerstag. "Als Geste des politischen Willens zum interkulturellen Dialog werden sich die drei Heldenbrüder die Ketten abnehmen und bis Montag zurücktreten", sagte ein Sprecher. Sollten sie aber bis Montag keine Antwort erhalten, wollen sie die Proteste weiter verschärfen.

Die Demonstrierenden hoffen, noch vor den Präsidentschaftswahlen am 22. Oktober ihre Ziele zu erreichen und damit die Verfassungsreform rückgängig zu machen. Ähnliche Forderungen kommen auch aus den Reihen der Bundespolitik. Generalstaatsanwalt Eduardo Casal erklärte Ende vergangener Woche in einem Schreiben, dass der Oberste Gerichtshof in diesem Fall zuständig sei und die Verfassungsmäßigkeit der Reform zu überprüfen habe. Auch Justizminister Martín Soria hatte bereits Ende Juni ein ähnliches Schreiben formuliert.

Demnach sind insbesondere die Artikel 67, 94 und 95 der Provinzverfassung verfassungswidrig, da sie nicht mit internationalen Abkommen zum Schutz indigener Völker vereinbar sind. Artikel 67 verbietet etwa Straßensperrungen als Protestform, um - laut Verfassungstext - den "sozialen Frieden" und "das friedliche demokratische Zusammenleben" zu schützen.

Besonders heikel ist für viele Indigene Artikel 94, der die staatlichen Grundstücke behandelt, auf denen viele indigene Gemeinschaften leben. Die alte Verfassung garantierte die Vergabe von Landtiteln bevorzugt an Anwohner:innen und Kooperativen, die darauf arbeiten und heimisch sind. Genau jener Teil wurde nun gestrichen und schlicht auf "Die Erde ist ein Mittel für Arbeit und Produktion" reduziert, wodurch das Land den ökonomischen Interessen der Provinz und nicht der Indigenen unterliegt.  

Der Provinzgouverneur Morales, bezeichnete die Proteste hingegen als einen “versuchten Staatsstreich” und beschuldigt die Regierung, die Proteste in Jujuy angestiftet zu haben, um ihn zu destabilisieren. Morales wurde noch während der Proteste zum Kandidaten für die Vizepräsidentschaft der konservativ-liberalen PRO-Partei erklärt. Die Verfassung sei "einwandfrei, progressiv, modern", garantiere den Menschen neue Rechte und sehe die Befragung der Indigenen nach dem Abkommen 169 der ILO vor.

Die indigenen Gemeinschaften in Jujuy gehören verschiedenen indigenen Völkern wie den Atacama, Quechua, Chicha oder Kolla an und berufen sich auf das Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Das Abkommen garantiert ihnen eine vorherige, freie und informierte Befragung, "wann immer sie gesetzgeberische Maßnahmen unmittelbar berühren”. Das gilt auch für die Provinzverfassungen der 23 argentinischen Gliedstaaten und Buenos Aires. 

Seit mehr als zehn Jahren wehren sich in Jujuy und vor allem im Gebiet der Salzwüste Salinas Grandes über 30 Gemeinden gegen den Lithium-Abbau. Sie befürchten, dass mit der Verfassungsreform nun über ihre Köpfe und ihre Rechte hinweg neue Bergbauprojekte beschlossen werden.

Allein beim Lithium befinden sich nach Angaben des Ministers für Wirtschaftliche Entwicklung, Juan Carlos Abud Robles, 42 Projekte in der Forschungsphase. Und auch Kupfer, Kobalt und Seltenerdmetalle tauchen als Hoffnungsträger aus dem argentinischen Norden immer wieder in den Wahlkampfreden der beiden größten politischen Lager auf.