Chile / Politik

Chile: Rechte Parteien übernehmen den verfassungsgebenden Prozess

Bei Wahlen zum Verfassungsrat erzielen Ultrarechte Erdrutschsieg. Rechtsparteien können nun mit absoluter Mehrheit die Verfassung schreiben

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Der Sieger der Wahl, José Antonio Kast, beim Gang zur Urne. Seine Partido Republicanos wurde zur führenden Kraft im Verfassungsrat
Der Sieger der Wahl, José Antonio Kast, beim Gang zur Urne. Seine Partido Republicanos wurde zur führenden Kraft im Verfassungsrat

Santiago. Am 7. Mai hat eine große Mehrheit der Bevölkerung Chile für rechte und ultrarechte Parteien gestimmt, die im Verfassungsrat ‒ verantwortlich für den zweiten verfassungsgebenden Prozess ‒ eine neue Verfassung fertig stellen sollen.

"Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Linke keine Ideologien installieren kann, die unserem Land schaden", sagt Ruth Hurtado von der ultrarechten Partido Republicano de Chile gegenüber den Medien am 8. Mai, einen Tag nachdem am Sonntag mehr als 35 Prozent der Wähler:innen für die Partei stimmten, die sich mit Giorgia Meloni in Italien und Jair Bolsonaro in Brasilien identifiziert.

Mit 23 von 51 Sitzen werden die "Republicanos" stärkste Kraft, die traditionelle Rechte hat mit ihrem Bündnis Chile Seguro weitere elf Sitze gewonnen. Damit besitzen beide zusammen eine absolute Mehrheit, die ihnen erlaubt die Verfassung ohne die restlichen Abgeordneten im Rat zu schreiben.

Vorsitzender der Partido Republicano ist José Antonio Kast, der in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 2021 mit 27,9 Prozent Wahlsieger wurde und erst in der Stichwahl gegen den Linkskandidaten Gabriel Boric unterlag.

Die Regierungsparteien gewannen am Sonntag 16 Sitze, mit knapp über acht Prozent der Stimmen innerhalb der Koalition wurde die Kommunistische Partei zur stärksten linken Kraft. Ein weiterer Sitz ging per Sondersitz für Indigene an den Mapuche Alihuén Antileo Navarrete. Ohne Vertretung im Rat sind die Christdemokratische Partei und die Partido por la Democracia, die mit ihrem Bündnis Todos por Chile knapp neun Prozent der Stimmen erreichten. Weit abgeschlagen ist auch die einst erfolgreiche rechtspopulistische Partido de la Gente mit 5,5 Prozent.

Bei obligatorischer Wahlteilnahme gingen außerdem knapp 2,5 Millionen der über 14 Millionen Wahlberechtigten nicht zur Urne. Weitere 22 Prozent der Wähler:innen gaben eine ungültige Stimme ab. Dazu hatten unter anderem linke Sektoren aufgerufen, die damit dem "von oben" geführten verfassungsgebenden Prozess eine Absage erteilen wollten.

"Mit der Wahl wurde die Concertación abgestraft", sagt der linksgerichtete Soziologe Carlos Miranda gegenüber amerika21. Die Parteien des ehemaligen Regierungsbündnisses, dass von 1990 bis 2010 regierte, ist gespalten und versinkt mit der Wahl in die Bedeutungslosigkeit. "Zwar konnten davon die linken Kräfte profitieren, doch insbesondere die Ultrarechte hat mit ihrer Anti-Establishment-Kampagne gewonnen", meint Miranda weiter.

Über Monate führten die "Republicanos" eine Kampagne, die sich insbesondere gegen Migrant:innen richtete und mehr "harte Hand" gegen Straßenkriminalität verlangte. In Chile steigt seit Monaten die Angst vor Kriminalität, obwohl die Statistiken nur teilweise damit übereinstimmen.

Die Partei war stets gegen den verfassungsgebenden Prozess und verteidigte die Verfassung aus Zeiten der Militärdiktatur als Basis für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes. Laut der Zeitung La Tercera, will die Mehrheit der neuen Ratsmitglieder Abtreibungen wieder vollumfänglich verbieten und das private Rentensystem aufrecht erhalten.

Luis Silva, der Kandidat von der Partido Republicano mit den meisten Stimmen, sagte noch am Wahlabend gegenüber den Medien: "Wir werden uns an der Verfassung aus dem Jahr 1980 orientieren". Silva ist Mitglied der ultrakonservativen katholischen Sekte Opus Dei und Rechtsprofessor an der Katholischen Universität.

Der gewählte Verfassungsrat wird von Anfang Juni bis November einen weiteren Verfassungsentwurf fertig stellen. Dabei orientiert er sich an einem Entwurf, der bis Ende Mai von einer Expert:innenkommission geschrieben wird. Diese Kommission wurde von den Parlamentskammern eingesetzt und wird zur Hälfte von rechten Kräften dominiert.

Zusätzlich sorgt eine Vereinbarung vom Dezember 2022, als der zweite verfassungsgebende Prozess entschieden wurde, für einen inhaltlichen Rahmen. Dort wird Chile als sozialer und demokratischer Rechtsstaat definiert, gewisse soziale Rechte garantiert und gleichzeitig der bestehende institutionelle Rahmen, mit dem Zweikammernsystem, der territorialen Ordnung und Rechtssystem, fortgeführt.

Am 17. Dezember 2023 sollen die Chilen:innen über den endgültigen Entwurf abstimmen. Präsident Gabriel Boric lud bei seiner Ansprache die Republicanos dazu ein, "nicht den gleichen Fehler zu machen wie wir. In diesem Prozess darf es nicht um Vendettas gehen, sondern um Chile und seine Leute". Die neue Verfassung müsse im Dialog mit allen politischen Kräften geschrieben werden.

Der Soziologe Miranda geht derweil davon aus, dass ein Großteil der Wähler:innen, die für die Republicanos stimmten, selbst keine Ultrarechten sind. "Es geht ihnen darum, gegen das Establishment zu wählen. Sobald die Republicanos als Teil der normalen Politik erkannt werden, dürfte deren Wählerpotential wieder sinken". Ob der verfassungsgebende Prozess dafür ausreicht, kann Miranda nicht sagen.

Trotz allem sieht er ein Licht am Ende des Tunnels: "Die Parteien links von der ehemaligen Concertación sind deutlich über die Zehnprozentmarke gekommen", dass sei eigentlich ein positives Zeichen. Doch seit dem 4. September, als gut 62 Prozent der Bevölkerung den damaligen progressiven Verfassungsentwurf ablehnten, fehle es laut Miranda an einem Plan, wie es weitergeht.

"Es muss jetzt Klarheit geben, wie man einen Wahlsieg der ultrarechten Kräfte im Jahr 2025 verhindern kann. Dafür muss die Regierung es schaffen, dass die Menschen erleben, wie sich ihr Leben durch die Politik spürbar verbessert", sagt er abschließend.