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Chile: In der Angst gefangen

Wie das Thema Verbrechensbekämpfung seit Monaten alles dominiert

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Die Carabineros de Chile sollten wegen unzähliger Menschenrechtsverletzungen "neu gegründet" werden. Nun erhöht die Regierung Boric ihren Etat um 20 Prozent
Die Carabineros de Chile sollten wegen unzähliger Menschenrechtsverletzungen "neu gegründet" werden. Nun erhöht die Regierung Boric ihren Etat um 20 Prozent

Im Zentrum von Santiago steht das mächtige Gebäude der Nationalen Handelskammer. Stacheldraht trennt den hauseigenen Park vom Getümmel der chilenischen Hauptstadt. Kameras und Wachhäuser bewachen jeden Schritt der Passant:innen. Der Prachtbau beherbergte einst die US-amerikanische Botschaft und wurde 1997 von der Handelskammer übernommen. Bernardita Silva, die Geschäftsführerin des kammereigenen Studienzentrums, spricht in dem Gebäude von erschreckenden Zahlen: "Wir erleben einen starken Anstieg der Kriminalität". Umfragen bei Ladenbesitzer:innen hätten ergeben, dass im ersten Halbjahr 2022 knapp 60 Prozent aller Läden Opfer von Diebstahl, Raub oder Gewalt wurden. Die zweithöchste Zahl seit Beginn der Umfrage im Jahr 2007.

Als Konsequenz müssten immer mehr Läden auf immer mehr Sicherheitsmaßnahmen zurückgreifen: Gitter trennen Lokale von ihrer Kundschaft, Kameras werden überall angebracht und sofern sie es sich leisten können, stellen Läden mehr privates Sicherheitspersonal an. Und die Läden sind nicht die einzigen, denn in Chile herrscht Angst. Seit Monaten dominiert das Thema Kriminalität die Medien und öffentliche Debatten. So stark, dass die einst verlangten sozialen Veränderungen an Bedeutung verlieren und die Regierung ihr Programm in Richtung Sicherheit ändern muss. Was passiert in Chile?

Die Menschen sperren sich ein. Nach der Revolte von 2019 und monatelangen Lockdowns, hat sich die Straße zu einem Ort der Gefahr verwandelt. Nachdem die Polizei als Reaktion auf die Kritik an den begangenen Menschenrechtsverletzungen ihre Präsenz im öffentlichen Raum deutlich reduziert hatte, versuchen die Menschen auf andere Weise ein Gefühl der Sicherheit zu schaffen. Wer derzeit durch die Straßen der Wohnviertel von Santiago geht, bemerkt: kleine Gassen und Straßen werden mit Gittern und meterhohen Toren abgesperrt, die nur über den Tag für alle offen sind. In der Nacht sind die Tore verschlossen – nur Anwohner:innen mit Schlüssel kommen durch.

Auch Andrés Valbenedito hatte das ursprünglich vor. Zusammen mit Nachbar:innen seines Straßenzuges in einem typischen Santiagoer Arbeiter:innenviertel organisierte er sich, um einen Zaun am Straßenende zu bauen. Doch die Straße, in der er wohnt, ist zu groß als dass die Lokalregierung eine komplette Sperrung zulassen würde. "Wir haben uns deswegen entschieden, mit einer Betonsperre die Durchfahrt zur Autobahn zu sperren", erzählt er. Der schwere Klotz aus Beton hatte für die Bewohner:innen einen erfreulichen Effekt. "Wir erleben weniger Diebstähle und fühlen uns sicherer", meint Valbenedito. Früher seien viele Menschen von Motorradfahrern ausgeraubt worden, die den schnellen Zugang zur Autobahn nutzten, um zu flüchten. "Wir können nun unsere Autos ohne Sorgen draußen stehen lassen", sagt Valbenedito erfreut.

Straßen werden mit meterhohen Toren abgesperrt

Es vergeht kein Tag, an dem die chilenischen Nachrichtensender nicht über Diebstahl, Mord und Totschlag berichten: Erschrockene Menschen erzählen vor der Kamera von der täglichen Angst, aus dem Haus zu gehen. Verschwommene Videoaufnahmen von Sicherheitskameras zeigen bewaffnete Banden, die wahlweise Autos stehlen oder Geschäfte ausrauben.

"Ich habe Angst, wenn ich auf die Straße gehe", erzählt auch Valbenedito. "Das heißt für mich oder meine Frau, zu überlegen, mit welchen Wertsachen wir das Haus verlassen." Und das sei nicht nur bei ihm so, er kenne viele Menschen, die sich mit dem Thema beschäftigen.

Die Zahlen bestätigen Valbenedito. "Noch nie haben Menschen so viel Angst vor Kriminalität verspürt", meint Daniel Johnson, Geschäftsführer des Thinktanks Paz Ciudadana, der seit dem Jahr 2.000 Erhebungen zum Thema durchführt. Einmal jährlich fragt er in einer Umfrage Personen, ob sie oder andere aus ihrem Haushalt im vergangenen Jahr Opfer von Diebstahl wurden und ob sie Angst haben, Opfer zu werden. Im Jahr 2022 verspürten 28 Prozent der Befragten sehr viel Angst, von Kriminalität betroffen zu werden ‒ mit Abstand der höchste Wert seit Beginn der Studie.

Der Thinktank wurde in den 1990er Jahren vom ultrarechten Medienmogul Augustin Edwards ins Leben gerufen, der bis zu seinem Tod auch dessen Präsident war. Finanziert wird Paz Ciudadana von tragenden Unternehmen der chilenischen Wirtschaft. Derzeit arbeiten dort verschiedene Expert:innen, die unter der rechten Regierung von Sebastián Piñera in den Behörden tätig waren, so auch Johnson, der von 2011 bis 2013 die Santiagoer Zweigstelle der nationalen Behörde für Wohnen und Stadtplanung leitete und später in beratender Funktion für das Innenministerium tätig war.

"Es herrscht ein Klima der Angst", erklärt Johnson, "das allerdings nur teilweise mit der Realität übereinstimmt". Denn, so die Zahlen von Paz Ciudadana, die effektive Kriminalität ist im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie gesunken. 32 Prozent der Befragten gaben an, dass sie selbst oder jemand aus ihrem Haushalt Opfer eines versuchten oder gelungenen Diebstahls wurde. Mit Ausnahme der Pandemiejahre war dies die niedrigste Zahl seit 2001. Die Zahlen des chilenischen Innenministeriums bestätigen diese Entwicklung. Zwar machten seit Ende der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wieder mehr Menschen Anzeigen aufgrund von Diebstahl und anderen Delikten, die Werte von vor der Pandemie wurden bislang aber in keiner Weise überschritten.

Trotzdem prägt das Thema die Medien – untermauert durch verschiedene Studien wird dort regelmäßig gezeigt, wie das Thema der Unsicherheit an Bedeutung für die Bevölkerung gewinnt. Während in Umfragen aus den Jahren 2020 und 2021 soziale Reformen als wichtigste Aufgaben der Regierung angesehen wurden, ist es im Jahr 2022 durchgehend die Sicherheit.

Nachrichtensender berichten jeden Tag über Diebstahl, Mord und Totschlag

Johnson wundert das nicht: "Viele Menschen beurteilen soziale Fragen, wie die Renten oder Löhne, als individuelles Schicksal, an dem sie selber etwas ändern können. Bei der Sicherheit sind die Menschen auf den Staat angewiesen". Ein Verständnis von Staatsaufgaben, das an die Ideen des Nachtwächterstaates erinnert: Ein liberaler Staat, der sich vor allem auf die Sicherheit der Bürger:innen konzentriert und den Rest privaten Akteur:innen überlässt.

Aber woher kommt die Angst? Johnson meint, sie würde durch Debatten über Kriminalität und das Gefühl "unkontrollierter Migration" gefördert. Denn, so Johnson, "obwohl Migranten im Schnitt weniger häufig Straftaten begehen als Chilenen, führt das Gefühl, die Migration sei unkontrolliert, zu Angst", sagt Johnson. Dies sei nicht nur in Chile, sondern auch in Europa so.

Chile ist im Zusammenhang mit den Krisen in ganz Lateinamerika zu einem wichtigen Migrationsziel für Menschen aus Ländern wie Haiti, Kolumbien oder Venezuela geworden. In den letzten zehn Jahren stieg der Anteil an Migrant:innen in der Gesamtbevölkerung von 2,3 Prozent auf 7,5 Prozent. Viele Migrant:innen leben unter sehr prekären Verhältnissen, haben aufgrund eines laufenden Visaverfahrens keine formelle Arbeit und nur erschwerten Zugang zu Wohnraum, Bildung und Gesundheit. Aufgrund dessen wächst insbesondere in dieser Bevölkerungsgruppe die Anzahl an Menschen, die auf der Straße leben und an belebten Orten irreguläre Verkaufsstände eröffnen. Ein Phänomen, dass häufig mit Kriminalität in Verbindung gebracht wird.

Johnson teilt seine Analyse mit einem Großteil der politischen Klasse in Chile. Ob auf Basis eines imaginären oder wahren Phänomens, der Diskurs der Unsicherheit nimmt zunehmend an Raum ein – und damit auch typisch rechte Erklärungsansätze.

"Ohne Sicherheit funktioniert nichts", meint Bernardita Silva von der Handelskammer. "Geschäfte funktionieren nicht, es kommen keine ausländischen Investitionen, es gibt keine Arbeitsplätze. Und das wollen wir doch alle." Es sei deshalb richtig, dass die Regierung die Bekämpfung der Straßenkriminalität zur höchsten Priorität erklärt habe.

Anfang November erklärte Präsident Gabriel Boric bei einer Reise in die nördliche Küstenstadt Antofagasta, die Regierung würde mit harter Hand gegen die Kriminalität vorgehen und alle Migrant:innen des Landes verweisen, die in Chile das Gesetz brechen. Schon bis Oktober 2022 verwies die eigentlich linke Regierung knapp 1.000 Migrant:innen des Landes, eine leicht höhere Zahl als die der rechten Vorgängerregierung im Jahr 2021. Gleichzeitig erhöhte die Regierung den Etat für die militarisierte Polizei Carabineros de Chile sowie die Kriminalpolizei PDI um ganze 20 Prozent für das Jahr 2022.

Dadurch stärkt die Regierung eine Institution, die gar nicht mehr existieren sollte: Aufgrund der massiven Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei in den Jahren 2019 und 2020 hatte Boric noch als Präsidentschaftskandidat im Wahlkampf eine Neugründung der Carabineros de Chile angekündigt. Derzeit besteht einzig noch eine Kommission, die eine Polizeireform anstoßen soll.

Gleichzeitig sagen Umfragen, dass die Carabineros erneut Vertrauen und Rückhalt der Bevölkerung gewinnen. Während laut Paz Ciudadana im Jahr 2020 knapp 40 Prozent der Befragten Vertrauen in die Carabineros äußerten, tun dies mittlerweile wieder 50 Prozent – der höchste Wert seit fünf Jahren.

Die lang erwarteten Reformen sind auf unbestimmte Zeit verschoben oder unzureichend

Auch Andrés Valbenedito, der Anwohner des Santiagoer Arbeiter:innenviertels, glaubt, es brauche mehr harte Hand gegen Kriminalität. Doch er glaubt auch, dass das Problem tiefer sitzt. "Mit dem ganzen Gerede um Straßenkriminalität lenken die Politiker von sich selbst ab", sagt er erbost. In Chile habe eine Mentalität überhand gewonnen, in der alle stehlen. "Die oben stehlen und die unten auch. Dann sagen die einen, die Supermärkte rauben uns durch überhöhte Preis aus, deswegen darf ich dort klauen. Aber wohin kommen wir damit?", fragt er rhetorisch.

Er hat den derzeitigen Präsidenten Boric gewählt. "Ich hatte gehofft, er würde mit dem Diebstahl durch die Reichen Schluss machen", meint er, doch nichts von dem sei geschehen. Die lang erwarteten Reformen, die private Akteur:innen im Bereich der Pensionen, im Gesundheitssystem oder der Bildung zurückdrängen sollten, sind entweder auf unbestimmte Zeit verschoben oder werden aufgrund ihrer unzureichenden Tiefe von linken Sektoren kritisiert. Obwohl im August die ersten Schritte für eine Gesundheitsreform angekündigt wurden, ist seit dem gescheiterten Referendum von September nichts weiter passiert. Die langersehnte Rentenreform sieht derweil vor allem eine Erhöhung der Beitrage vor, während die privatisierten Rentenfonds nur leicht in die Schranken gewiesen werden und ein kleiner Teil der Beiträge in eine neue solidarische Rentenkasse eingezahlt werden soll.

Was daneben bleibt, ist der Kampf gegen Kriminalität und die Stärkung der sogenannten harten Hand.

Dieser Beitrag erscheint in den Lateinamerika Nachrichten 583