Chile / Politik

Chile: Parteien im Parlament einigen sich auf neuen verfassungsgebenden Prozess

Nach dreimonatigen Debatten finden Regierung und konservative Opposition einen Kompromiss. Boric: "Besser ein unvollkommenes, als gar kein Abkommen"

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Die Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Vlado Mirosevic (links), und des Senats, Álvaro Elizalde (Mitte), übergeben Präsident Boric (rechts) das Abkommen
Die Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Vlado Mirosevic (links), und des Senats, Álvaro Elizalde (Mitte), übergeben Präsident Boric (rechts) das Abkommen

Santiago/Valparaiso. Die Präsidenten von Parlament und Senat in Chile haben den Kompromiss für einen neuen verfassungsgebenden Prozess präsentiert. Dieser sieht ein parteipolitisch dominiertes Verfahren vor und steht damit diametral dem Willen der Mehrheit aus dem ersten Verfahren entgegen.

Eine Expertenkommission aus je zwölf Vertretern aus Parlament und Senat erarbeiten demnach einen unverbindlichen Verfassungsvorschlag. In dieser Expertenkommission sollen alle in den Parlamenten vertretene Parteien sowie Vereinigungen ohne Fraktionsstatus proportional vertreten sein.

In den 50 Wahlbezirken der Senatoren wird je ein Vertreter in allgemeiner und geheimer Wahl in einen zu bildende Verfassungsrat (Consejo Constitucional) gewählt. Es soll Geschlechterparität eingehalten werden und die Parteien können unabhängige Kandidaten in ihre Liste aufnehmen. Indigenenvertreter sollen proportional zum Wahlergebnis hinzugezogen werden.

Eine technische Kommission soll darüber wachen, dass die vorgesehenen Mehrheiten eingehalten werden, um einen Text in den Verfassungsvorschlag aufzunehmen. Allerdings enthält der Verfahrenskompromiss auch einen Katalog von zwölf Punkten, der es erlaubt, etwaige Vorschläge "als nicht den Rahmenbedingungen entsprechend" abzulehnen.

Streitfragen oder fehlende Mehrheiten sollen in einer gemischten Kommission gelöst werden.

Der ursprüngliche Verfassungsprozess wurde von den sozialen Unruhen vom September 2019 angestoßen. Im Oktober 2020 stimmten rund 79 Prozent der Chileninnen und Chilenen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Ebenso eindeutig war das Votum für eine vollständig neu gewählte "Constituyente". Lediglich 21 Prozent sprachen sich für eine gemischte Versammlung aus, in der die Hälfte der Mandate an Parlamentsabgeordnete gegangen wäre.

Das erste Mal in der Geschichte Chiles wurde eine Verfassung von einem demokratisch gewählten Organ geschrieben. Linke, Indigene und bewegungsnahe Kräfte erlangten einen Überraschungssieg bei der Wahl zum Konvent im Mai 2021. Linksgerichtete, anti-neoliberale Kräfte hatten die erhoffte Sperrminorität erreicht und konnten mit ihren Forderungen für mehr Demokratie, soziale Grundrechte und Umweltschutz die Verfassung maßgebend prägen. Beim Referendum im vergangenen September lehnte jedoch eine Mehrheit von 62 Prozent den erarbeiteten Verfassungsentwurf ab.

Währende des gesamten Prozesses arbeiteten die konservativen Parteien massiv gegen diese Reformen. Die Kräfte der "Ablehnung" (Rechazo) hatten fast unerschöpfliche Geldmittel zur Verfügung, um die Bevölkerung vor allem über die sozialen Medien für die Ablehnung des Verfassungsvorschlags zu gewinnen.

Dabei betonten sie unter dem Motto "So Nicht!" immer wieder, für einen neuen verfassungsgebenden Prozess und eine Verfassungsreform bereitzustehen. Sie bauten dabei auf ihre Mehrheit in Parlament und Senat, um die politischen Parteien unter weitestgehender Ausschaltung der sozialen, indigenen, linken und gewerkschaftlichen Organisationen, verstärkt ins Spiel zu bringen.

Diese Taktik hatte nun Erfolg. Fast alle Parteivorsitzenden der Regierungskoalition und der Opposition unterschrieben den Kompromiss für das neue Verfahren. Lediglich die ultrarechten Republikaner und die Volkspartei (Partido de la Gente) aus dem ultrarechten Lager verweigerten die Zusammenarbeit.

Es gibt viele Stimmen, die dieses Verfahren kritisieren. So meint der christdemokratische Senator Francisco Huenchumilla, es bestehe die Gefahr, dass die Menschen das Gefühl hätten, ihre Interessen würden nicht vertreten werden. Zudem "überwache" die Expertenkommission seiner Auffassung nach die Souveränität des Volkes.

Die feministische Bewegung Coordinadora Feminista 8M spricht von "einem Angriff auf die Demokratie und unser historisches Gedächtnis". Die Stimme einer politischen und wirtschaftlichen Elite werde durchgesetzt und den eingesetzten Experten ein Vetorecht eingeräumt. "In diesem Abkommen, an dem weder wir noch irgendein Teil der sozialen Bewegung beteiligt sind, ist der Charakter des Prozesses bereits festgelegt", so die Coordinadora.

Miguel Lawner, anerkannter sozial und politisch engagierter Architekt, bezeichnet die Vereinbarung als "infam", sie sei das Resultat "der schlimmsten Küche (cocinería) aller Zeiten" ‒ "cocinería" ist die abschätzige Bezeichnung für die unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgehandelten politischen Vereinbarungen in Regierung und Parlament.

Staatschef Gabriel Boric verteidigte indes den Kompromiss. Er verwies auf das Ergebnis des Referendums: "Diejenigen von uns, die eine Alternative wollten, die die Demokratie auf eine viel radikalere Art und Weise vertiefen würde, haben verloren". Er ziehe es vor "ein unvollkommenes Abkommen zu haben, als gar keins", denn das Land brauche eine neue Verfassung und "einen neuen Sozialpakt".

Der Zeitplan sieht vor, dass die Expertenkommission bereits im Januar 2023 zusammentritt und im November 2023 ein Volksentscheid über die Annahme der neuen Verfassung abgehalten wird.