Chile: "Das Virus steckt uns an, aber die Ungleichheit tötet uns"

Landesweit Proteste am 1. Mai. Polizei geht massiv gegen Demonstrierende vor. Zahlreiche Festnahmen, auch Journalisten betroffen

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In ganz Chile gab es am 1. Mai kleinere Proteste und Kundgebungen
In ganz Chile gab es am 1. Mai kleinere Proteste und Kundgebungen

Santiago. Trotz Ausgangssperre hat es in Chile wieder Proteste gegeben. Die Polizei unterdrückte sie gewaltsam und nahm Gewerkschaftsmitglieder und Medienschaffende fest.

"An diesem 1. Mai sagen wir Arbeiterinnen und Arbeiter: Unsere Leben stehen nicht im Dienst eures Profits" stand auf hunderten Plakaten, die verschiedene Organisationen an die Mauern in Chiles Hauptstadt Santiago geklebt haben. Und darunter: "Das Virus steckt uns an, aber die Ungleichheit tötet uns." Im ganzen Land gab es am Internationalen Tag der Arbeiterbewegung kleinere Proteste und Kundgebungen. Die größten fanden in Santiago, Antofagasta, Valparaíso und Concepción statt.

Die Polizei nahm Hunderte Personen fest mit der Begründung, dass Versammlungen von mehr als 50 Personen verboten sind. An manchen Orten war das aber nicht einmal der Fall, wie zum Beispiel bei der Kundgebung verschiedener Gewerkschaften in Santiago. Allein in der Hauptstadt gab es 57 Festnahmen, darunter zehn Gewerkschaftsführerinnen und -führer.

Die Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes CUT (Central Unitaria de Trabajadores), Bárbara Figueroa, kritisierte das Vorgehen der Polizei als "unnötig und unverantwortlich". Die Gewerkschaft CCA (Central Clasista de Trabajadores) veröffentlichte anschließend eine Erklärung: "Während der Diktatur brauchten sie keine Pandemie, um uns zu unterdrücken. Das Kapital widerspricht den Rechten der Arbeiterinnen und Arbeiter und diese Regierung wird vom Kapital gestützt."

Außerdem festgenommen wurde eine Gruppe nationaler und internationaler Journalisten und Fotografen, unter anderem von Reuters und AFP. Der Reporter des nationalen Fernsehsenders TVN filmte die Festnahme sogar noch im Inneren des Polizeifahrzeugs. In Valparaíso wurde ein Kameramann mit Pfefferspray angegriffen. Die Journalistengewerkschaft kritisierte das Vorgehen der Polizei, das die Pressefreiheit gefährde und forderte eine Stellungnahme der Regierung.

Die meisten sozialen und politischen Organisationen hatten aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus nicht zum Protest auf der Straße aufgerufen. Die Feministische Koordination 8. März (CF8M) organisierte stattdessen ein virtuelles Tagesprogramm mit Diskussionsrunden zu Themen wie doppelte Arbeitsbelastung durch Lohn- und Fürsorgearbeit, eine feministische Lesart der Krise und der Prekarisierung der Arbeit und feministische Stimmen der Revolte. "Wir klagen die Regierung an, die die Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter immer mehr verschlechtert. Das sogenannte Gesetz zum Schutz der Arbeit ist das genaue Gegenteil, weil es Unternehmen erlaubt, die Löhne und Arbeitsstunden zu senken und Verträge zu suspendieren", sagte Alejandra Valle von der CF8M bei einer der Diskussionsrunden. Über eine Millionen Menschen in Chile sind im Moment arbeitslos oder ihr Vertrag wurde suspendiert.

Die Teilnehmerinnen an den Diskussionsrunden machten außerdem auf die Doppelbelastung der Arbeiterinnen in der Coronoa-Krise aufmerksam. "Wir Frauen, die im Gesundheitswesen arbeiten, sind emotional und psychologisch überlastet. Wir machen Extra-Schichten im Krankenhaus, und zu Hause müssen wir die Haus- und Fürsorgearbeit erledigen. 80 Prozent der Angestellten im Gesundheitswesen sind Frauen", sagte Moreen Ramos von der Gewerkschaft des öffentlichen Gesundheitssystems. "Wir haben nicht genügend medizinische Mittel. Teilweise müssen wir sie selbst kaufen, zu Hause nähen oder sind auf Spenden angewiesen."

Am 26. April hätten die Chilenen eigentlich in einem Referendum darüber abstimmen sollen, ob sie die Verfassung aus der Zeit der Diktatur unter Augusto Pinochet hinter sich lassen wollen. Sie bildet die Grundlage des neoliberalen Wirtschaftssystems, gegen das sich die Menschen seit über sechs Monaten auflehnen. Aber das Referendum wurde auf den 25. Oktober verschoben, um Menschenansammlungen wegen der Ausbreitung des Coronavirus zu vermeiden. Präsident Sebastián Piñera hält es für möglich, das Plebiszit noch weiter nach hinten zu verschieben, Abgeordnete aus dem rechten Spektrum würden es am liebsten ganz absagen.

"Die wirtschaftliche Rezession wird vielleicht so groß sein, dass wir das Datum erneut diskutieren müssen", sagte Piñera am Sonntag in einem Interview mit CNN Español. Daraufhin hagelte es Kritik von der Opposition, Gewerkschaften, sozialen Organisationen und der Bevölkerung: Die Wirtschaft sei der Regierung wichtiger als die Bevölkerung. Dieser Vorwurf wird wegen des Coronavirus-Krisenmanagements der Regierung immer lauter.

Am 26. April und am 27. April, dem "Tag des Polizisten" (Día del Carabinero), gab es Proteste, Polizeigewalt und zahlreiche Festnahmen. Zwei unter Alkoholeinfluss stehende Polizisten schossen auf eine Gruppe von Demonstrierenden in der Gemeinde La Florida, zehn Personen wurden verletzt.

"Wir erleben dieselbe Krise aber noch viel deutlicher und viel brutaler, weil die Ungleichheit noch deutlicher ist, weil sie das Leben der Menschen riskiert. Der Zugang zur Gesundheit ist ungleich, auch die Arbeitsbedingungen und die Qualität der Bildung. Die Pandemie macht deutlich, dass die Priorität dieses Systems die Wirtschaft ist und nicht das Leben", sagte die Historikerin Carla Peñaloza in einem Interview mit dem Radio der Universidad de Chile.