Die sechs Monate, die Chile verändert haben

Zwischenbilanz des Aufstands gegen die Prekarisierung des Lebens

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Angriff und Verteidigung: Die "primera línea", an der marginalisierte Jugendliche ebenso teilnehmen wie Büroarbeiterinnen
Angriff und Verteidigung: Die "primera línea", an der marginalisierte Jugendliche ebenso teilnehmen wie Büroarbeiterinnen

Zwischen Oktober 2019 und April 2020 ereignete sich ein Umbruch auf dem Terrain und in der Dynamik des chilenischen Klassenkampfes. Seit dem 18. Oktober haben wir beobachtet, wie sich die Gesamtheit der sozialen und politischen Kräfte fast vollständig entfaltet hat, um Mehrheiten für ihre jeweiligen Projekte zu schaffen und zu erstreiten.

Angefangen bei der Verteidigung der Verfassung von 1980 über den Staatsterrorismus der rechten Regierung bis hin zur gemäßigten Verteidigung der Errungenschaften des "chilenischen Modells" durch das ehemalige Mitte-links-Bündnis Concertación; von der möglichen Wiedererlangung der politischen Initiative der breiten Bevölkerung durch den neuen feministischen Generalstreik, zu dem das feministische Bündnis Coordinadora Feminista 8M aufgerufen hatte, bis hin zur Möglichkeit einer Popularen Verfassunggebenden Versammlung (Asamblea Popular Constituyente, APC), initiiert durch die Koordination der Territorialen Versammlungen (Coordinadora de Asambleas Territoriales, CAT) und andere soziale Organisationen, eine Initiative, die den verfassungsgebenden Prozess vorbereiten und überschreiten kann, den jene Parteien entworfen haben, die das "Abkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung" mit der Regierung unterzeichnet haben; vom Aufstand der am stärksten prekarisierten Sektoren des Landes bis hin zu neuen Formen direkter Demokratie in den Stadtteilen. Seitdem hat sich Chile für immer verändert.

Das Jahr 2020 wird durch eine Konjunktur geprägt sein, die konstituierend ist für ein Volk, dem es noch an Stärke und Projekt fehlt, und konstitutionell für die Parteien, die sich jener Ordnung verschrieben haben, die uns in diese Krise geführt hat. Letzteren geht es darum, die Stabilität des Regimes mit einer neuen Version der alten Verfassung zu garantieren, während sich für die Bevölkerung die Möglichkeit eröffnet, endlich ein Gegengewicht und eine gesellschaftliche Alternative zu artikulieren, die die Grundlagen für eine Offensive schafft gegen das politisch-gesellschaftliche Regime, das seit 1973 in Chile herrscht.

Ich möchte im vorliegenden Text eine Bilanz aus dieser kritischen Übergangszeit ziehen.

Der wahre Notstand sind unsere Lebensbedingungen

Zu Beginn des Monats November 2019, als wir uns auf einem Platz im Zentrum von Santiago versammelt hatten, wo seit einigen Wochen die "Selbsteinberufene Versammlung" (Asamblea Autoconvocada) des Stadtteils ihre Arbeit aufgenommen hatte, erhob mein Nachbar Miguel enthusiastisch seine linke Faust und rief gemeinsam mit mehr als hundert Personen: "Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden!" Mein Nachbar ist ein Veteran des Kampfes gegen die Diktatur und wir waren seit einigen Wochen damit beschäftigt, unser Viertel im Kontext der Welle massiver Proteste zu organisieren, die das Land seit dem 18. Oktober 2019 erschütterten. Der sogenannte soziale Ausbruch (estallido social) hatte in jener Woche in den U-Bahn-Stationen von Santiago, der Metro, begonnen.

Hunderte Schüler der Sekundarstufe protestierten gegen die Fahrpreiserhöhung um 30 Pesos pro Ticket und organisierten eine Kampagne des Massenboykotts, dessen zentrale Taktik darin bestand, mit dem Ruf "Ausweichen, nicht bezahlen, eine andere Form des Protests!" (¡evadir, no pagar, otra forma de luchar!) über die Drehkreuze zu springen. Mit dieser Geste kristallisierten sie eine ganze Bandbreite an Forderungen und Aktionen, die sich innerhalb weniger Stunden durch Kundgebungen in ganz Chile äußerten. Diese reichten von spontanen Massendemonstrationen in den urbanen Zentren bis hin zu Auseinandersetzungen mit den Polizeikräften, die ausgesandt wurden, um die "öffentliche Ordnung" zu kontrollieren, vor allem in Metro-Stationen, Banken, Apotheken und Supermärkten, die mit ideologischer Präzision zu Zielscheiben von Plünderungen und Brandanschlägen wurden.

Das Überspringen des Drehkreuzes war gleichzeitig Ausdruck einer Forderung (kostenloser öffentlicher Nahverkehr) und der Aufruf zu einer Taktik (direkte Aktion). Diese einfache, aber wirkungsmächtige Art und Weise, sich inmitten einer gesellschaftlichen Krise zu bewegen, wurde in den folgenden Monaten zur allgegenwärtigen Antwort der Völker Chiles.

Ländliche Gemeinschaften, die von Großgrundbesitzern beschlagnahmte Flussbette befreiten. Ganze Stadtviertel, die Versammlungen einberiefen, um die Verteidigung gegen die Repression und die Versorgung angesichts der Preiserhöhungen zu organisieren und Diskussionen über die notwendigen Veränderungen für ein würdiges Leben zu führen. Millionen Frauen in allen Regionen forderten den öffentlichen Raum für sich ein, um die patriarchale Gewalt anzuprangern, deren stärkster Ausdruck ein Staat ist, der sowohl durch seine Politik als auch durch seine repressiven Vertreter Gewalt ausübt. Auf diese Weise verdrängten sie tatsächlich die polizeilich-militärische Besetzung, die die Regierung als Antwort auf die Krise aufgezwungen hatte.

Der 18. Oktober zeigte, dass sich in Chile neue populare Subjektivitäten schmiedeten, die auf eine rebellische Explosion gewartet hatten, um sich öffentlich auszudrücken.

Die Losungen des kollektiven Gedächtnis sind in dieser Hinsicht von großer Bedeutung. "Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre", ist die erste, die auf den Charakter der Krise hinwies, weit über die Fahrpreiserhöhung hinausging und in 30 Jahren neoliberaler demokratischer Regierung begründet ist (nach 17 Jahren zivil-militärischer Diktatur).

"Chile ist erwacht" zeugte von einem vollständigen subjektiven Wandel. Es ist nicht so, dass wir in Chile nicht gewusst hätten, wie schlecht die Lebensbedingungen waren. Diesem schlechten Leben wurde nur plötzlich nicht mehr mit Resignation und Hoffnungslosigkeit begegnet. "Chile ist erwacht" will sagen, dass sich die Völker Chiles neu zusammengefunden haben, mit der Hoffnung, dass sich die Dinge ändern können.

Schließlich taucht wieder eine Parole auf, die die Feministinnen bereits während der Diktatur verbreiteten: "NO+" (Nicht mehr). Das ist der konzentrierte Ausdruck des "Wir haben genug von der Diktatur", der sich auf die neuen Formen der Diktatur des Kapitals erstreckt. Gegen die patriarchale Gewalt und die unwürdigen Renten gerichtet, gegen die Privatisierung des Wassers und die Verletzungen der Menschenrechte, gegen all die Formen der Unterdrückung, denen ein Ende gesetzt werden soll. Und damit nicht genug, die Feministinnen sagen: "NO+ porque SOMOS+" (Nicht mehr, denn wir sind mehr).

Dies ist das erste Kennzeichen der "sozialen Explosion" vom Oktober in Chile: Es handelt sich um einen Massenprotest gegen die Lebensbedingungen, dessen zündender Funke die Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr war, der jedoch auf eine unterdrückte soziale Kraft übersprang, die das sozialpolitische Regime in seiner Gesamtheit angefochten hat. Es ist eine plurinationale, generationenübergreifende Bewegung, mehrheitlich aus Arbeiterinnen und Arbeitern zusammengesetzt, die durch die Krise verarmt sind. Es ist ein Aufstand gegen die Prekarisierung des Lebens.

Der repressive Moment der autoritären Wende der liberalen Demokratie in Chile

Die Antwort des Staates war brutal. Die Regierung des rechten Unternehmers Sebastián Piñera brauchtete nur ein paar Stunden, um einen Notstand auszurufen, der die Militärs autorisierte, die Straßen zu besetzten, um die öffentlichen Ordnung zu kontrollieren.

"Wir befinden uns im Krieg gegen einen mächtigen Feind, der vor nichts und niemandem Respekt hat", sagte Piñera in der Nacht des 20. Oktobers. Er zielte darauf ab, den sozialen Protest zu kriminalisieren, und berief sich auf eine vermeintlich nach mehr polizeilicher Sicherheit im städtischen Raum sehnende Wählerschaft.

Diese Erklärungen hatten einen doppelten Effekt. Auf der einen Seite ermutigten sie die Sicherheitskräfte dazu, auf brutalste Weise die Massen zu unterdrücken, die nicht aufhörten zu demonstrieren, trotz und gegen die Ausgangssperre und die Militärpräsenz in den Straßen; auf der anderen Seite bestärkten sie eine Bevölkerung, die beschlossen hatte, sich nicht mehr einschüchtern zu lassen. Der Nettoeffekt dieses erhöhten Einsatzes seitens der Regierung bestand darin, dass sie einer fortschreitenden Schwächung ihres Kontrollvermögens der Ereignisse und Umstände ausgesetzt war. Die militärische Karte in der ersten Nacht des Aufstandes auszuspielen, war ihr erster großer Fehler.

Die Überzeugung, mit der die popularen Sektoren die Repression beantworteten, hatte einen hohen Preis. Mit grenzenloser Grausamkeit begannen die Polizeikräfte, ihre Angriffe mit Schusswaffen auf die Körper und Gesichter der Demonstrierenden zu richten. In der Folge erlitten bis zum heutigen Tag um die 500 Personen Augenverletzungen, bis hin zur vollständigen Erblindung. Als wollte der Staat sagen, dass der Preis für das Erwachen im Verlust des Augenlichts besteht.

Dazu kommt eine systematische Verletzung der Menschenrechte durch illegale Festnahmen, Folterungen, Verstümmelungen, Ermordungen, Vergewaltigungen und andere Formen politisch-sexueller Gewalt, verübt von Vertretern des Staates gegen Jungen, Mädchen, Jugendliche und Erwachsene in ganz Chile.1 Eine weitere repressive Taktik des Staates bestand in der Anwendung von „vorbeugenden Maßnahmen“ wie Hausarrest oder Präventivhaft für Tausende von Menschen, die während des Aufstands festgenommen wurden. Folglich lässt sich mit Sicherheit erneut sagen, dass es in Chile politische Gefangene gibt.

Die zweite allgemeine Charakteristik der gegenwärtigen Krise besteht darin, dass sie den Kompromiss der Parteien, die Chile seit 1990 mit dem neoliberalen Regime regiert haben, für die Generationen der Post-Diktatur vollständig offengelegt hat. Konfrontiert mit einer sozialen Krise, die durch besagten Kompromiss verursacht wurde und angesichts der Bedrohung der Stabilität der kapitalistischen Normalität Chiles, war die erste und hauptsächliche Antwort die massive Entfesselung der staatlichen Gewalt. Doch die Militärpräsenz auf den Straßen war mit einer Jugend konfrontiert, die keine Angst hatte.

Zudem ist deutlich geworden, was sich bereits seit einigen Jahren abgezeichnet hat: Die liberalen Demokratien befinden sich inmitten einer autoritären Wende, die dazu führt, dass sie angesichts der wachsenden Schwierigkeit, den Zusammenhalt der Gesellschaft in Krisenzeiten zu steuern, mittels Dekreten und administrativen Wegen regieren und zunehmend den Staatsterrorismus als Mittel der Bewältigung sozialer und politischer Konflikte nutzen. Durch die Ausrufung des Notstandes und die nachfolgenden Gesetzesinitiativen zur öffentlichen Kontrolle nutzte die rechte Regierung Chiles lediglich die Gelegenheit, diesen Prozess zu beschleunigen und ihm institutionelle Legitimität zu verschaffen.

Kontinuitäten und Brüche

Auf den verschiedenen Seiten, die sich in der Hitze des Aufstandes herausgebildet hatten, sowohl innerhalb der Bevölkerung als auch in den Parteien der Regierung und der Opposition gab es das weit verbreitete Gefühl, dass sich während jenes heißen Oktobers etwas Grundlegendes verändert hatte. Dabei handelte es sich jedoch nicht um das Auftauchen von etwas Neuem, sondern um die Enthüllung von etwas bereits Allgegenwärtigem. Es ging darum, dass eine tiefgreifende soziale Krise des chilenischen Lebensmodells eine schwere politische Krise auf der gesamten institutionellen Ebene zum Ausbruch brachte. Es handelte sich um einen Moment, in dem es nur dann möglich war, die Kontinuitäten zwischen der Zeit vor und nach Oktober zu entdecken, wenn man große Aufmerksamkeit auf die Brüche legte.

Forderungen: Von sozialen Rechten bis zur verfassunggebenden Versammlung

Während der allmählichen Wiederherstellung der Organisationen der Arbeiterklasse in der Zeit nach der Diktatur entstand ein Bündel an sozialen Forderungen, die den Widersprüchen des "chilenischen Modells" Rechnung trugen: Schluss mit der Profitorientierung im Bildungssystem, ein neues Rentensystem auf Grundlage des solidarischen Umlageverfahrens anstatt des erzwungenen individuellen Sparens, würdiger sozialer Wohnraum, politische und territoriale Autonomie für die indigenen Völker, legale Abtreibung, ein Arbeitsgesetzbuch, welches Streikrecht und Tarifverhandlungen garantiert, ein einheitliches, öffentlich finanziertes Gesundheitssystem und andere. Es war möglich, in all diesen Forderungen einen roten Faden ausfindig zu machen, der schließlich als "soziale Rechte" bezeichnet wurde, jene Aspekte der Reproduktion des Lebens einer jeden Person, die abgesichert sein sollten, vom chilenischen Staat jedoch nicht garantiert werden.

Diese über Jahrzehnte hinweg von verschiedenen sozialen Bewegungen, Parteien und Gewerkschaften formulierten Forderungen bestimmten in den ersten Tagen des Oktoberaufstands schnell die öffentliche Meinung. Der Forderungskatalog entwickelte sich jedoch sprunghaft weiter. Die starke Fokussierung auf die Renten und die Gesundheit, zentrale Dimensionen der Krise der sozialen Reproduktion in Chile, machte einer Losung Platz, die es ermöglichte, die Frage der sozialen Rechte in einer einzigen politischen Forderung zu umfassen: verfassunggebende Versammlung.

In programmatischen Begriffen finden wir darin den größten Sprung im politischen Bewusstsein der arbeitenden Klasse in Chile als Resultat des Aufstands vom Oktober. Die Gefahren einer Verkürzung der Bestrebungen auf einen von Experten durchgeführten konstitutionellen Wandel sind sehr präsent, aber die verfassunggebende Versammlung erscheint heute als eine progressive Forderung, insofern sie die Quelle des Problems in einer strukturellen und umfassenden Dimension identifiziert, die deutlich mehr erfordert als nur Anpassungen der öffentlichen Politik oder spezifische Gesetze.

Die einzige, mit diesem politischen Forderungsrahmen vergleichbare Ausarbeitung ist das Programm, das in den letzten zwei Jahren von der feministischen Bewegung entwickelt wurde. Aus dem ersten Plurinationalen Treffen der kämpfenden Frauen (Dezember 2018, 1.500 Teilnehmende) ging eine erste Annäherung an das Streikprogramm hervor, das im Feministischen Generalstreik des 8. März 2019 gipfelte.

Das Ziel besteht darin, die Gesamtheit der Forderungen der Bevölkerung nicht zersplittert, sondern gebündelt auszudrücken, wobei der Feminismus als roter Faden der übergreifenden Forderungen erscheint und somit als globales emanzipatorisches Projekt, nicht nur als Unterpunkt im Forderungskatalog oder als eine bloße separate Gruppierung innerhalb der arbeitenden Klasse.2

In diesem Jahr hat sich die Teilnahme an dem Plurinationalen Treffen verdoppelt und gemeinsam mit einem Kampfplan für 2020 wurden 16 programmatische Schwerpunkte ausgearbeitet, die von nicht-sexistischer Bildung und dem Recht auf Stadt bis hin zu Antirassismus und sozialer Sicherheit reichen.3

Akteure: Die neue plurinationale arbeitende Klasse

Das gesellschaftliche Feuer, das sich in Chile seit Oktober 2019 unaufhaltsam ausbreitet, hat die neuen Subjektivitäten der arbeitenden Klasse in Chile sichtbar gemacht. Dieser Aufstand hat einen stark generationenübergreifenden, plurinationalen und feministischen Charakter, denn er ist Ausdruck der Widerstände einer hochgradig prekarisierten und fragmentierten Klasse. Ihre Diversität in Bezug auf Geschlecht, ethnische Herkunft und Nationalität kreuzt sich mit der städtischen Aufspaltung und der Vielfalt ideologischer Ausdrucksformen, die ihren Platz auf der Landkarte der popularen Sektoren gefunden haben.

Neben dieser vielschichtigen Klassenzusammensetzung hat der Aufstand eine starke interne Differenzierung erfahren, die es erlaubte, seine Reichweite zu vergrößern. Rund um die massenhaften Mobilisierungen bildete sich ein Ring der Selbstverteidigung, der "primera línea" (erste Reihe) getauft wurde. Diese Verteidigungslinie gegen die Repression hat in allen urbanen Zentren eine enorme materielle Existenz erreicht ‒ und eine symbolische, fast mythologische Existenz in der Vorstellungswelt des Aufstands.

Zusammengesetzt aus einer Vielfalt von Individuen, von marginalisierten Jugendlichen bis hin zu Büroarbeiterinnen, repräsentiert die "primera línea" die wichtigste politisch-militärische Innovation dieses Aufstands und es ist vorstellbar, dass es kein Zurück mehr gibt.

Zusätzlich zu den Massendemonstrationen und den Dynamiken der Selbstverteidigung entstanden in den ersten Tagen des Aufstands Formen der territorialen Selbstorganisation. Sie bezeichneten sich als Versammlungen und Räte und organisierten sich, um sich der Repression zu widersetzen, die Demonstrationen zu organisieren und die Umrisse dieses neuen Chiles zu diskutieren, das wir im Rhythmus unserer Kochtöpfe, Schreie und Barrikaden entstehen sahen.4

Einer der wesentlichen Züge dieser territorialen Instanzen besteht darin, dass sie in gemeinschaftlichen Räumen der kollektiven Arbeit und Beratung eine Vielfalt sozialer und politischer Ausdrucksformen zusammenbringen; und sie beanspruchen für sich das Kriterium der "Selbsteinberufung" (autoconvocadas) als Zeichen des Protestes gegen die Instrumentalisierung durch die traditionellen politischen Parteien der Linken, denen mit tiefem Misstrauen begegnet wird. Viele der Teilnehmenden, wie mein Nachbar Miguel, sind ehemalige Mitglieder linker Parteien. Auch wenn die historische Rolle der Parteien anerkannt wird, so fühlen sie sich heute dazu berufen, ausgehend von den Territorien eine politische Kraft aufzubauen, die sich nicht durch Verhandlungen mit denen von Oben belastet sehen, sondern ihre gesamte selbstorganisierte Macht im Protest, in der Versammlung und der Selbstverwaltung der Stadtviertel entfalten kann.

Die Gefahr der lokalen Begrenztheit ist in jeder Initiative vorhanden, die in einem bestimmten Gebiet verwurzelt ist. Doch im Falle der Versammlungen wurden sie durch die Umstände im Land angestoßen, sich nahezu von Beginn des Aufstandes an zu verbinden. In Santiago begann sich ab Ende Oktober die CAT-Initiative zu organisieren, mit dem Ziel, die Verschiedenheit der organisatorischen Erfahrungen zusammenzubringen, die in der Metropolregion entstanden waren. Heute beteiligen sich mehr als 50 Versammlungen an der CAT und am 18. Januar berief sie ein Treffen ein, bei dem 1.000 Personen zusammenkamen, um einen Kampfplan für das Jahr 2020 zu diskutieren. Gegenwärtig entsteht eine landesweite Koordination, um ein "Nationales Treffen der Versammlungen" zu organisieren.

Taktiken: Das Auftauchen der demokratischen Gewalt

Am zweiten Tag des "Ausbruchs", während wir uns über die Taktiken des Aufstands unterhielten, sagte eine Nachbarin zu mir: "Gut, das Volk nimmt den Kampf an der Stelle wieder auf, wo es ihn beim letzten Mal aufgehört hat". Die Schönheit und Kraft dieses Bildes sollte von einem Blick auf die Sprünge begleitet werden, die wir in dieser Revolte sehen. Eine Lebensform inmitten eines Transformationsprozesses beinhaltet eine veränderte Form des Kampfes.

In den vergangenen Monaten haben wir das erneute Auftauchen einer besonderen Form der massenhaften politischen Gewalt in Chile erlebt: die demokratische Gewalt. Es handelt sich um eine praktische und symbolische Bestätigung der Gewalt mit politischen Zielen, die sich rund um den Bruch mit der kapitalistischen Normalität und einer Periode der Destabilisierung organisiert; sie garantiert in sich selbst keine neue soziale Ordnung, aber ermöglicht es, diese aufzuzeigen.

Es handelt sich um eine demokratische Gewalt gegen den Staatsterrorismus, was sich mit jeder Barrikade bewahrheitete, die die Ausgangssperre herausforderte, mit jeder Besetzung des öffentlichen Raums, der es gelang, die Militärs aus den Straßen zu treiben (nach fast zehn Tagen des Ausnahmezustands), mit jeder spontanen Demonstration, die Nachbarinnen und Nachbarn desselben Viertels vereinte, um die politische Debatte mit anderen Mittel fortzusetzen.

Wenn man sich nicht von den Katastrophenberichten der traditionellen Presse und der Vertreter der Ordnungskräfte beeinflussen lässt, kann man den demokratischen Charakter der Formen des Aufstandes erkennen: Er ist kollektiv und nicht individuell, er verteilt Aufgaben ohne Hierarchien, er besitzt absolute Klarheit über seine Ziele und greift das Volk nicht an.

Schließlich ist es eine demokratische Gewalt, weil sie die "primera linea" in einem Prozess bildet, der sein Programm nur durch eine von der Bevölkerung ausgehende und revolutionäre Demokratie in Chile erreichen kann. Von der Bevölkerung ausgehend, weil die Massen mit ihren vielfältigen organisatorischen Ausdrucksweisen die Protagonisten sein müssen; und revolutionär, weil der Prozess eine radikale Transformation der bestehenden Institutionen braucht, um den Interessen der neuen plurinationalen arbeitenden Klasse Chiles Raum zu geben. Nur auf diese Weise ist das "Minimalprogramm" des Aufstandes umsetzbar: Wahrheit und Strafverfolgung der Politiker und Kriminellen, die für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, grundlegende Veränderungen in den Bereichen Gesundheit, Lohn, Renten, Bildung, Abtreibung und andere soziale Rechte sowie eine freie und souveräne verfassunggebende Versammlung, ohne Bindungen an den Kongress oder die Regierung.

Die vollendetste Form dieser demokratischen Gewalt hatte ihren Vorläufer während des Feministischen Generalstreiks, zu dem die Feministische Koordination 8M am 8. März 2019 aufgerufen hatte. Dieser Tag repräsentierte die Rückkehr der Generalstreik-Taktik ins politische Leben in einer nie dagewesenen Weise: Ausgerufen von Arbeiterinnen, Angestellten in Lohn- und in prekären Verhältnissen und unbezahlten Arbeiterinnen öffnete er den Weg für eine starke Politisierung sehr vieler aus der arbeitenden Klasse rund um eine Taktik, von der angenommen worden war, dass sie auf gewerkschaftlich organisierte Arbeiter beschränkt sei.

Strategische Hypothesen: Der neue soziale Pakt versus die Vertiefung der politischen Krise

Am 12. November 2019 kehrte der Generalstreik erneut in den Mittelpunkt zurück, als es eine explosive Kombination aus wirkungsvollen Behinderungen im öffentlichen und privaten Sektor mit Straßensperren, Demonstrationen und Barrikaden in ganz Chile gab.5 Der 12N ermöglichte es, Stellung zu beziehen. Die Regierung und ihre Parteien, die den möglichen Überraschungseffekt der militärischen Karte sehr früh verspielt hatten, sahen sich gezwungen, mit den Oppositionsparteien zu verhandeln.

Innerhalb von 48 Stunden schlugen sie vor, eine "Vereinbarung für den sozialen Frieden und die neue Verfassung" voranzubringen, die es erlauben würde, gleichzeitig die politischen Kräfte des Establishments mit der Dringlichkeit der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung in Einklang zu bringen und die Ausbreitung der sozialen und politischen Krise auf den Bereich der Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu reduzieren.

Am frühen Morgen des 15. Novembers wurde diese Vereinbarung im Rahmen einer Live-Übertragung, die einer Realityshow würdig war, unterzeichnet. Sie repräsentierte den Kurswechsel, der die politische Initiative zurück an die Regierung und an eine neue, erweiterte "Partei der Ordnung" gab, die aus der rechten Regierungskoalition Chile Vamos, den alten Parteien der Concertación und einem Teil der neuen Progressiven der Frente Amplio bestand.6

Die Entscheidung der Kommunistischen Partei (gemeinsam mit dem linksgerichteten Flügel der Frente Amplio, der schnell entschied, die Koalition zu verlassen), besagte Vereinbarung nicht zu unterzeichnen, ließ den Versuch scheitern, die Konjunktur über die politisch-institutionelle Flanke zu beenden. Die Gewerkschaftsführungen und Anführer zahlreicher sozialer Bewegungen, ebenso wie der Zusammenschluss der lokalen Versammlungen, wiesen die "Vereinbarung für den Frieden" zurück, weil sie die demokratische Gewalt kriminalisierte, zu der sich die Vorsitzenden aktiv bekannten; gleichzeitig reduzierte sie die Chancen für eine souveräne verfassunggebende Versammlung auf einen Prozess, der als "Verfassungskonvent" (Convención Constitucional) bezeichnet wurde – maßgeschneidert für das Regime (die Freihandelsabkommen stehen nicht zur Diskussion) und für die Parteien (mit einem Quorum von zwei Dritteln und einem repräsentativen Wahlsystem, das Frauen, indigene Gemeinschaften und parteilose, unabhängige Kandidaten ausschließt).

Es besteht kein Zweifel, dass die Möglichkeit, eine neue Verfassung zu erarbeiten, das direkte Resultat des Aufstandes ist. Die Regierung hatte dies kurz zuvor noch explizit abgelehnt. Seit jenem Tag dreht sich die politische Auseinandersetzung im Land zunehmend um den konstitutionellen Kurs, den die Regierungsvereinbarung festlegt. Doch auf lange Sicht hat sie dazu geführt, hinsichtlich der Charakters und der Entwicklungsmöglichkeiten der Krise die Fronten zu klären.

Für die Regierungs- und ihre Co-Abgeordneten in der Concertación und das, was von der Frente Amplio übrig geblieben ist, ist diese Krise eine Chance für einen "neuen sozialen Pakt". Dieser Pakt hat sehr klare Merkmale: Die grundlegenden Aspekte der kapitalistischen Normalität in Chile sollen erhalten bleiben (von der präsidialen Autorität und der Macht des Kongresses bis hin zur Vorherrschaft des Marktes über die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen sowie die private Kontrolle über Land und Wasser als Rohstoffquellen); und die Mechanismen der sozialen Kontrolle sollen aktualisiert werden, um für Auseinandersetzungen mit zukünftigen Krisen besser gerüstet zu sein (dies beinhaltet eine Reihe repressiver Gesetze mit erhöhten Haftstrafen für Plünderungen, Barrikaden und Konfrontationen mit Ordnungskräften sowie die Möglichkeit des Militäreinsatzes in den Straßen, ohne dass dafür ein Ausnahmezustand ausgerufen werden muss).

Indem sie die sogenannte Politik der Vereinbarungen des demokratischen Übergangs der 1990er Jahre neu auflegen wollen, fährt diese neue erweiterte Partei der Ordnung in einem äußerst instabilen globalen Szenario eine konservative Strategie, die kläglich scheitern könnte angesichts der gegen das Establishment gerichteten rechten Sektoren in einer Zeit der akuteren Krise.7

Für die Linke und die in sozialen Bewegungen und Versammlungen organisierte Bevölkerung ist diese Konjunktur eine Chance gewesen, um mit einer Strategie zur Vertiefung der politischen Krise weiterzukommen; sie leitet einen Prozess der programmatischen Klärung und der Organisierung einer sozialen und politischen Kraft ein, eine Gegenoffensive, um das neoliberale politische und soziale Regime zu Fall zu bringen. Dieser breite und heterogene sozialpolitische Sektor hat richtig erkannt, dass die grundlegende Anfechtung der Lebensbedingungen in Chile das Potential hat, eine vorteilhafte Wechselwirkung für die neue plurinationale arbeitende Klasse zu schaffen. Aus diesem Grund hat sich eine Haltung ständiger Mobilisierung in den Straßen und Vierteln und eine konfrontative Position hinsichtlich des Weges für eine neue Verfassung durchgesetzt.

Diese Strategie der Vertiefung der politischen Krise entspricht dem langwierigen Charakter der Konjunktur. Dieser Wesenszug wurde deutlich, als es nicht einmal durch die "Vereinbarung für den Frieden" gelang, die auch einen Monat nach dem 18. Oktober nach wie vor massenhaften Demonstrationen zu beschwichtigen. Trotz der langen Vorgeschichte der Organisierung vor dem Aufstand und des explosiven Auftauchens neuer Bereiche der Selbstorganisation der Bevölkerung hat uns der Oktober mit einer geringen politischen Kapazität erwischt; das heißt, ohne eine substantielle Alternative und ohne das notwendige Organisationsniveau, damit der Sturz des Regimes durch die Errichtung einer neuen sozialen Ordnung ersetzt wird, die den Interessen der Bevölkerung entspricht.

Folglich bedarf es mittelfristig einer Strategie der Akkumulation der Kräfte. Hierbei hat sich jede Intervention daran zu orientieren, die Fähigkeit der sozialen und politischen Kräfte der plurinationalen arbeitenden Klasse zu steigern, um einen Bruch mit dem Regime zu vollziehen. Es ist denkbar, dass dieser Bruch nur in einem Szenario einer größeren sozialen Krise möglich sein wird, wenn die Integrationsmechanismen über die Sozialausgaben durch eine Verschärfung der aktuellen Wirtschaftskrise beträchtlich eingeschränkt würden. In diesem Szenario könnte nur eine Konfrontation mit Enteignungscharakter einen für das Volk günstigen Ausgang ermöglichen, da auf der anderen Seite der Druck zur Steigerung der Prekarisierung des Lebens unserer Völker stehen würde, mit der daraus folgenden Repression.

Die Probleme des gegenwärtigen Moments

Ich möchte diese Reflexion über den chilenischen Oktober mit einem Blick auf einige Probleme schließen, mit denen die gesellschaftlichen Kräfte in Chile konfrontiert sind.

Die Sackgasse der "Vereinbarung für den Frieden" und der Weg hin zur verfassunggebenden Versammlung

Obwohl die Revolte in subjektiver Hinsicht einen Fortschritt darstellt, sind ihre objektiven Errungenschaften sehr viel bescheidener. Millionen auf den Straßen und ein Generalstreik weisen auf eine sehr schlagkräftige Neuzusammensetzung und "Wiederbewaffnung" hin; doch bislang besteht das Nettoergebnis der Konjunktur in einer sozialen Agenda, deren wesentlicher Erfolg eine Rentenreform ist. Mit breiten parlamentarischen Mehrheiten wurden indes repressive Gesetze und ein für das Regime maßgeschneiderter Kurs für eine Verfassungsreform beschlossen.

Die Regierung hat darauf gesetzt, die "soziale Agenda" und die "politische Agenda" voneinander zu trennen, wobei Erstere auf die Rückkehr zur Normalität und Letztere auf die Verfassungsänderung reduziert wird. Die Kräfte der Linken stehen heute davor, diese Trennung auf ihre eigene Art zu wiederholen, wenn sie es nicht schaffen, den Kampf gegen die Straflosigkeit, grundlegende soziale Forderungen und die Auseinandersetzung um den Verfassungsprozess miteinander zu verbinden. Dies ist das Minimalprogramm der aktuellen Situation.

Es sind stürmische Wochen für die Organisationen gewesen, die sich mobilisiert haben oder die seit Oktober neu entstanden sind. Die Dringlichkeit, gegenüber dem konstitutionellen Kurs der "Vereinbarung für den Frieden" und besonders zur Volksbefragung am 26. April8 Stellung zu beziehen, war überall spürbar. Die zentralen Bedrohungen des gegenwärtigen Moments zeichnen sich ab : Dass uns die Notwendigkeit der Positionierung dazu bringt, uns zu spalten, und uns zugleich das Fehlen einer Position an den Rand drängt.

Daher kann nur eine Taktik angemessen auf diese Situation reagieren, die die Mobilisierung der Bevölkerung (in Form von Straßenprotest als auch in Form lokaler verfassunggebender Organisation) rund um dieses Minimalprogramm zum Ausdruck bringt. Diese Taktik erfordert die größtmögliche Einheit hinsichtlich der gemeinsamen Punkte und den ausdrücklichen Willen der taktischen Koexistenz zwischen gesellschaftlichen und politischen Kräften, die dasselbe Programm teilen (und den gleichen Hauptgegner: die Rechte an der Regierung).

Der Vorschlag, der bislang die größte Zustimmung sowohl bei denen findet, die am konstitutionellen Kurs teilnehmen, als auch bei denen, die eine Teilnahme ablehnen, ist der einer Popularen Verfassunggebenden Versammlung (Asamblea Popular Constituyente, APC), die eigenständig von Versammlungen, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften einberufen werden und einen feministischen und plurinationalen Charakter haben soll.

Wenn diese Versammlung vor dem Verfassungskonvent stattfindet, der im Rahmen der Regierungsvereinbarung geplant ist, würde sie für die Verfassungsdebatte als eine Instanz der Einheit dienen und eine verfassunggebende populare Kraft vorbereiten, die eine "innere" und "äußere" Wirkung auf den offiziellen Verfassungsprozess hätte.

Wenn sie auch nur in der Lage wäre, verfassungsgebende Mandate aufzustellen, die als programmatische Schützengräben dienen könnten, von denen aus die popularen Organisationen ihre Position in einer nationalen Verfassungsdebatte verteidigen könnten (unabhängig davon, ob sie am Verfassungskonvent der "Vereinbarung für den Frieden" teilnehmen oder nicht), dann hätte sie ihr Minimalziel erreicht.

Es ist aber auch möglich, dass sie zu neuen Bündnissen und zum Entstehen politischer Kräfte führt, denen es gelingt, den Kampfgeist und das Programm der Revolte für eine neue Etappe zu verkörpern.

Jede Beteiligung am Referendum muss ab sofort der Notwendigkeit untergeordnet werden, diese Ausübung programmatischer Souveränität zu realisieren. Die notwendige taktische Schlussfolgerung ist, dass, wenn kein wirksamer Prozess der Verfassungsänderung eingeleitet wird, man sich eine Populare Verfassunggebende Versammlung nicht einmal vorstellen kann.

Aus diesem Grund ist das günstigste Szenario für die Einberufung einer APC eine hohe Wahlbeteiligung beim Plebiszit, ein mehrheitlicher Sieg über die "Vereinbarung für den Frieden" mit über 70 Prozent und eine ähnliche Abstimmung für den Verfassungskonvent. Ein Sieg der Option "Ablehnung" (eines Verfassungsreform) würde einen Erfolg für die Rechte bedeuten (die das größte Interesse daran hat, dass kein konstitutioneller Wandel stattfindet) und eine niedrige Beteiligung bei der "Zustimmung" würde wahrscheinlich bedeuten, dass die traditionellen Mitte-links-Kräfte eine Hauptrolle übernehmen, da es das Votum ihres härtesten Kerns darstellen würde.

Die "Illusion des Oktober", die Überschätzung der popularen Kräfte in einer reformistischen Konjunktur

Eine der Fragen, die den gegenwärtigen politischen Debatten zugrunde liegt, ist die, bis wohin diese Konjunktur reicht und folglich, wie die Kräftverhältnisse tatsächlich sind. Einige Gruppierungen auf den Barrikaden und in den Versammlungen sind unter dem Einfluss der faszinierenden Reichweite der Revolte gefangen in dem, was ich als die "Illusion des Oktober" bezeichnen würde; eine Position, der zufolge die Massivität und Radikalität der Oktobertage von einer gesteigerten Kraft zeugten, die es erlauben würde, 1. vollkommen außerhalb des zeitlichen Rahmens des Verfassungsreform zu handeln, 2. die Verlängerung der Konjunktur mit einem permanenten Aufstand zu beantworten, und 3. die Regierung allein durch die Tatsache der Straßenmobilisierung zu Fall zu bringen. Aber heute müssen wir die Realität deuten, indem wir offene Szenarien akzeptieren und ohne von den Prämissen der Vergangenheit auszugehen.

Die Versammlungen sind keine Sowjets, die "primera línea" ist keine Armee und die niedrige Zustimmungsrate für die Regierung und die Institutionen bei den Umfragen ist nicht gleichbedeutend mit einer Krise der Hegemonie.

Daher ist es sinnvoll zu betonen, dass dies keine revolutionäre Konjunktur ist, dass das, was sich derzeit offenbart, kein Aufstand gegen den Staat und das Kapital ist, sondern ein Aufstand gegen die Prekarisierung des Lebens und für eine populare revolutionäre Demokratie (wie oben beschrieben). Und eine Konjunktur dieser Art, mit einem eher reformistischen und auf Verteilung ausgelegten Programm, trifft mit einem Volk zusammen, das bislang noch nicht die Kraft hat, dem Regime einen endgültigen Schlag zu versetzten, da ihm das Organisationsniveau und das Programm dafür fehlen.

In diesem Kontext hat das Volk nicht die volle Macht, um eine freie und souveräne verfassunggebende Versammlung durchzusetzen oder anzuordnen; sondern es muss herausfinden, welches die politischen und sozialen Interventionsformen auf dem Terrain sind, das der Aufstand eröffnet hat (bislang ein Szenario der Kräfteakkumulation und ein konstitutioneller Kurs), um dieses Ziel zu erreichen. Es wäre ein schwerer Fehler, in ein Kontinuum der Ultralinken zu verfallen, bei dem die bloße Parole "Kampf und Organisation", die wir seit den neunziger Jahren ständig wiederholen, eine konkrete Einschätzung der politischen Situation und unserer eigenen Kräfte ersetzt.

(…)

Dem Oktober treu zu bleiben setzt voraus, die Kräfte nicht zu überschätzen, sondern den geeigneten Weg für ihre Entfaltung und Entwicklung zu finden. Bislang können wir mit unseren eigenen Mitteln noch keine landesdweite politische Tagesordnung mit antikapitalistischem Charakter durchsetzen, das heißt, wir sollten das Jahr 2020 nutzen, um die notwendige Kraft dafür aufzubauen.

Schlussfolgerung: Die Muskulatur der Volksmacht weiterhin trainieren

Was also ist zu tun, um diese Kraft der plurinationalen arbeitenden Klasse aufzubauen?

Erstens, vorwärts kommen, die Bereitschaft zum Voranschreiten nicht dämpfen. Weiterhin die Muskulatur der Diskussion in den Territorien trainieren, der Selbstverteidigung auf der Straße, der Organisation neuer Räume kollektiver Aktion, der Artikulation unserer Forderungen vor dem Horizont des einheitlichen Kampfes, der nicht nur ausdrückt, was wir wollen, sondern unser Handeln orientiert.

Wenn also 2020 nicht das "entscheidende Jahr" eines revolutionären Prozesses in Chile ist, sondern die Generalprobe für eine neue Dynamik des Klassenkampfes, dann besteht die erste Aufgabe darin, uns vorzubereiten. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass die beste Form des Muskeltrainings darin besteht, die jüngsten Entwicklungen auf die Probe zu stellen.

Die organisatorische Entwicklung der territorialen Versammlungen, der feministischen Bewegung, der Schülerbewegung, der Gesundheitsbrigaden, der gewerkschaftlichen Gruppen mit der Bereitschaft zu kämpfen, der "primera línea" (und aller ihr nachfolgenden Reihen) muss folglich für die Destabilisierung der Stützpunkte des Feindes bereit sein.

Das bedeutet, die Rechte und den Mitte-links-Block zu konfrontieren, die gemeinsam das Regime und die prekarisierende Agenda verteidigen – und zwar in allen Bereichen. Bei den Märschen, im derzeit unvorhersehbaren Zeitraum zwischen Mai und Oktober und beim Rest des konstitutionellen Kurses, falls dieser weiterhin verfolgt wird, können wir weder die Straße verlassen noch die Fahnen mit unseren Forderungen gegen die Prekarisierung des Lebens und die Straflosigkeit senken.

Zweitens ist es unerlässlich, das neue soziale Gewebe zu festigen, das in der Hitze des Aufstands durch eine starke Allianz zwischen alten und neuen mobilisierten und organisierten Sektoren entstanden ist. Das Mindeste, was wir in diesem Jahr von uns verlangen können, ist, dass die organisierten Ausdrucksformen (wie die Feministische Koordination 8M, die Koordination der Territorialen Versammlungen, die Bewegung Gesundheit im Widerstand sowie die Organisationen und Gremien, aus denen sich die Unidad Social zusammensetzt) auf der Basis eines gemeinsamen Programms für strukturelle Änderungen des Staates und des Entwicklungsmodells hin zur Bildung einer neuen sozialpolitischen Opposition vorankommen. Nur wenn wir in der Lage sind, den Sprung hin zu einer Opposition mit einem Programm, mit der Fähigkeit zur Massenmobilisierung und mit einer Organisation zu machen, die verschiedene Sektoren nach dem Prinzip der Einheit in der Vielfalt vereint, werden wir die Fäden des Oktober zu dem Seil machen, das das Regime zu Fall bringen kann.

Um uns nicht in dem abgesteckten Bereich des konstitutionellen Prozesses der Regierungsvereinbarung einsperren zu lassen, besteht schließlich eine zentrale Aufgabe in der Schaffung programmatischer Schützengräben, die uns erlauben, die wesentlichen subjektiven Errungenschaften zu sichern, die wir bislang erreicht haben: Die Idee, dass kein Weg zurückführt und dass wir so lange kämpfen werden, bis das Leben lebenswürdig ist.

Dafür ist es notwendig, dass sich die Populare Verfassunggebende Versammlung und alle anderen Praktiken des Zusammentreffens, der Diskussion und Programmentwicklung nicht darauf beschränken, sich eine neue Verfassung nach dem Vorbild der liberalen Demokratien vorzustellen, sondern dass sie die tiefsten Bestrebungen der popularen Sektoren vereinen.

Ohne eine Alternative, die die Macht der Sicherheitskräfte des Regimes abbaut, gibt es weder einen Ausweg aus der politischen Sackgasse, noch ein Ende der Straflosigkeit in Chile. Es gibt keine Lösung für die gesellschaftliche und ökologische Krise, außer einer neuen Eigentumsform, die auf sozialem und gemeinschaftlichem Eigentum basiert. Es wird kein würdiges Leben in den Territorien geben, wenn es nicht die Gemeinschaften selbst sind, die die Entscheidungen darüber treffen, wie gelebt, wie viel gearbeitet und wofür produziert wird. Die Unterdrückung der Frauen und geschlechtsbezogene Dissidenzen werden nicht enden, bis die Selbstbestimmung über alle Körper errungen wurde, und wir können uns keine gerechte Gesellschaft ohne das Selbstbestimmungsrecht aller Völker vorstellen. Mit anderen Worten, die dauerhaften Lösungen für die soziale und politische Krise werden in einem antikapitalistischem Programm mit feministischem, plurinationalem und libertärem Charakter enthalten sein.

Aus all dem folgt, dass dieses Jahr 2020 eine entscheidende Gelegenheit sein wird, um die organisatorischen und programmatischen Positionen zu erobern, die die kommenden Jahre prägen werden. Dies ist die tiefgreifendste Konsequenz daraus, dass Chile erwacht ist.

Anm. d. Red.: Dieser Beitrag stammt vom 23. Februar, daher sind die Massendemonstrationen im März und der Frauenstreik sowie die Proteste gegen die Politik der Regierung angesichts der Corona-Pandemie nicht berücksichtigt.