São Paulo. Die sich verschärfende soziale Lage vieler Brasilianer manifestiert sich auch anhand neuester Erhebungen über die Zahl Obdachloser in São Paulo. In den letzten drei Jahren soll deren Zahl in der 20-Millionen-Einwohner-Stadt um 60,5 Prozent angestiegen sein, wie Bürgermeister Bruno Covas bekanntgab. Darunter befinden sich häufig Familien mit Kleinkindern. Sie leben an einem Mauerstück unter Kartons, waschen ihre Wäsche in den Springbrunnen der öffentlichen Parkanlagen oder verstecken sich in Bauruinen. Im Jahr 2015 gab es in São Paulo 15.900 Personen ohne Wohnung, nun sind es 24.344.
Doch die Bewegung Pop Rua ("Straßenvolk") versichert, dass die Zahl in Wirklichkeit weit höher liege. Es handle sich um rund 32.000 Obdachlose. Sie kritisiert die Kriterien der Zählung. Denn Personen, die zum Beispiel in Hütten leben, oder in Höhlen unter Gebäuden und unter den von Pfeilern gestützten Hochstraßen seien bisher nicht registriert worden.
Bürgermeister Covas kommentierte die soziale Entwicklung mit einem Satz, der aus Bolsonaros Zitatenschatz stammen könnte: "Es hat keinen Sinn, Geld in Sozialwohnungen zu stecken, solange das Problem nicht gelöst ist". Bruno Covas ist Mitglied der sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB), die Teil der Regierungskoalition des Putschpräsidenten Michel Temer war.
Vor ziemlich genau einem Jahr, am 30. Januar 2019, organisierte die Wohnungslosenbewegung (MTST) in São Paulo eine Demonstration mit über 10.000 Teilnehmern. Sie markierte damit den Beginn einer Kampagne für menschenwürdige Unterkünfte. "Wir sind keine Terroristen, wir sind Menschen, die am Monatsende die Miete nicht bezahlen können", erklärte Guilheme Boulos, der Koordinator der MTST. Die Bewegung besetzt häufig leerstehende Gebäude oder ungenutzte Grundstücke, auf denen sie prekäre Siedlungen errichtet.
In Brasilien besteht ein Defizit von etwa sechs Millionen Wohnungen. Das von den PT-Regierungen durchgeführte Programm "Mein Haus, mein Leben" zum Bau von sozialem Wohnraum wurde seit der Machtübernahme von Michel Temer stark zurückgeschraubt und von Bolsonaro völlig stillgelegt.
Insgesamt gibt es nach den Daten des Forschungsinstituts für angewandte Ökonomie (IPEA) über 100.000 Obdachlose in Brasilien.
Das strukturelle Problem konnte unter den Regierungen von Lula da Silva und Dilma Rousseff zwar zurückgedrängt, jedoch nicht gelöst werden. Damals gab es Tageszentren für die "Straßenmenschen", in denen sie kostenlos Ausweispapiere erhielten und auf eine Rückführung in den Arbeitsmarkt oder gar in ihre Herkunftsorte vorbereitet wurden. Doch auch sie reichten kaum aus, um der Zahl der internen Armutsmigranten Brasiliens Herr zu werden.
Die Sozial- und Bildungsprogramme verhalfen besonders der diskriminierten farbigen Bevölkerung zu einer gesicherten Ernährung und Aufstiegsmöglichkeiten. Zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens erreichte sie im Jahr 2018 mit 50,3 Prozent der Studenten die Mehrheit an den Universitäten.
Die Regierungen von Michel Temer und Jair Bolsonaro haben die Sozial- und Bildungsprogramme weitgehend beendet und damit die Probleme wieder verschärft. Die hohe Arbeitslosigkeit, die teuren Tarife für den Nahverkehr und unbezahlbare Mieten ließen die Zahl der Straßenbevölkerung in allen Großstädten Brasiliens wieder in die Höhe schießen.
Die Megastädte sind Auffangbecken der Landflüchtlinge, Opfer der großflächigen industriellen Agrarproduktion. Zehntausende von Familien der bäuerlichen Subsistenz wurden entweder gewaltsam von ihrem Landbesitz vertrieben oder können mit dieser Art Landwirtschaft nicht mehr Schritt halten. Manche flüchten auch aus Gebieten extremer Armut, in denen es weder Transportmöglichkeiten noch Schulen noch ärztliche Versorgung gibt.
Laut der kommunalen Erhebung verursachen noch zahlreiche andere Probleme die Entwurzelung. Genannt werden familiäre Konflikte, Drogenabhängigkeit, Depression und Entlassungen aus der Haft.
Die extreme Armut stieg 2019 wieder auf 6,5 Prozent an, das sind 13,5 Millionen der rund 200 Millionen Brasilianer. Unter dem ehemaligen Präsidenten Lula da Silva betrug sie 4,5 Prozent.