Höhere Strafen, weniger Rechtsstaat in Chile

Parlamentskammern verabschieden zwei Gesetze, die mit mehr Repression auf soziale Probleme reagieren. Regierung Boric versucht per Präsidialveto das Schlimmste zu verhindern

52232604422_c055495c42_o.jpg

Die "Toma 17 de Mayo" in Chile soll laut Gerichtsentscheid bis April 2024 geräumt werden
Die "Toma 17 de Mayo" in Chile soll laut Gerichtsentscheid bis April 2024 geräumt werden

Santiago. Bewohner:innen von Landbesetzungen und Aktivist:innen haben in Chile vor dem Ministerium für Wohnraum und Stadtentwicklung gegen zwei neue Gesetze protestiert, die sich explizit gegen Besetzungen und Proteste richten.

José Hidalgo, Sprecher der Nationalen Bewegung von Bewohner:innen von Landbesetzungen (Movimiento Nacional de Pobladores) forderte gegenüber der Zeitung El Ciudadano vom Wohnungsminister, Carlos Montes, "er soll sich für die Wohnungslosen einsetzen, die leiden und denen auch noch ein repressives Gesetz vorgesetzt wird, das die Möglichkeit angreift, eine gute Lebensqualität zu erreichen".

Konkret geht es dabei um ein Gesetz, dass Besitzer:innen von Ländereien dazu ermächtigen würde, besetzte Grundstücke auf eigene Initiative zu räumen, ihnen bei der Räumung und möglichem Einsatz von Gewalt Straffreiheit garantiert und Besetzungen mit Gefängnisstrafen sanktioniert. Proteste sollen zudem durch ein weiteres Gesetz bekämpft werden, das unter anderem den "grundlosen" Besitz von kleineren Mengen Brennstoff an öffentlichen Plätzen für illegal erklärt und mit Gefängnis bestraft.

Das erste Gesetz wurde bereits am 30. August vom rechtsdominierten Parlament angenommen. Allerdings legte die Regierung ein Veto ein. Innenministerin Carolina Tohá erklärte gegenüber der Presse, dass man nicht gegen das Gesetz an sich sei. Man wolle lediglich 14 Teilaspekte ändern, insbesondere jene, die den Eigentümer:innen das Recht geben, auf eigene Faust ein Grundstück zu räumen. "Dies widerspricht der Basis unserer Rechtsordnung und insbesondere unserem Strafsystem", sagte die Ministerin. Des Weiteren wolle man weniger hohe Strafen für Besetzungen ansetzen.

Auch das zweite Gesetz wird von der Regierung und regierungsnahen Parlamentar:innen scharf kritisiert. Ursprünglich wurde es im Mai 2023 von der Regierung entworfen und sollte als Teil der "Sicherheitsagenda" schärfer gegen gewalttätige Proteste und solche mit errichteten Barrikaden vorgehen.

Die derzeitige Formulierung überschreite den ursprünglichen Sinn des Gesetzes, so Ministerin Tohá gegenüber dem Parlament. Eigentlich sei nur geplant gewesen, den Besitz von kleinen Mengen an Brennstoff für illegal zu erklären, um so das Einschreiten der Polizei zu erleichtern. Es sei aber nicht vorgesehen gewesen, darauf Gefängnisstrafen zu setzen. Außerdem gebe das Gesetz keinen Kontext an. Unter den gegebenen Umständen sei es möglich, Personen zu inhaftieren, die nicht stichfest beweisen können, dass sie Brennstoff für ihre Heizung oder Auto einkaufen. "Wir dürfen keine Person ins Gefängnis bringen, die noch keine Straftat begangen hat", meinte die Ministerin.

Trotz der Kritik legte die Regierung kein Veto gegen das Gesetz ein. Dieses muss nun nur noch veröffentlicht werden, um in Kraft zu treten.

Der für die rechtsgerichtete Renovación Nacional im Parlament sitzende Andrés Longton verteidigte gegenüber der Presse beide neuen Gesetze: "Wir wissen alle, dass Geldbußen nicht davon abbringen, Delikte zu begehen". Es brauche effektive Gefängnisstrafen, so Longton.

Beide Gesetze reagieren auf zwei gleichzeitig stattfindende Phänome. So erklärte der Präsident der rechten Partei Unión Democrática Independente, die Regierung müsse sich mit ihrem Veto gegenüber jenen Menschen im Süden des Landes erklären, deren Grundstücke von Mapuche besetzt werden. Im Kampf um die Rückgabe indigener Ländereien kommt es immer häufiger zu Landbesetzungen und Straßenbarrikaden. Schon seit längerem fordern Großgrundbesitzer:innen, mit privaten Sicherheitsfirmen dagegen vorgehen zu dürfen.

Gleichzeitig herrscht in Chile derzeit eine extreme Wohnungsnot. Regierungskreise sprechen von einem Defizit von über 600.000 Wohnungen, Aktivist:innen gehen vom Doppelten aus. Seit Beginn der Pandemie steigt darum die Anzahl an Landbesetzungen, um darauf Siedlungen zu errichten. Laut der Nichtregierungsorganisation Techo leben derzeit über 113.000 Haushalte in solchen Siedlungen, sogenannte Tomas (Übernahmen), die höchste Zahl seit 1996. Viele weitere Familien leben unter beengten Bedingungen in Untermiete oder bei Familienmitgliedern.

Derzeit braucht es in Chile langwierige rechtliche Prozesse, um eine Landbesetzung zu räumen. Dies ist schon länger ein Dorn im Auge von Landbesitzer:innen und rechten Politiker:innen, die kritisieren, dass der Staat zu wenig dagegen unternehme. Auch bei Landbesetzungen kommt es häufig zu Protesten und Straßenbarrikaden, da die Bewohner:innen den Erhalt der Besetzung und Unterstützung durch die Regierung fordern, um eine dauerhafte Bleibe zu erhalten.

Derweil kündigte die Regierung bereits im Jahr 2022 einen Notplan zur Errichtung von mehr als 260.000 Wohneinheiten bis zum Ende der Regierungsperiode im Jahr 2026 an.

Währenddessen spricht die Opposition von einer "gebrochenen Beziehung" mit der Regierung aufgrund des Präsidialvetos. Man werde ein ähnliches Gesetz aufsetzen, um "das Privateigentum zu schützen", so der Abgeordnete Henry Leal.

Die Proteste von Bewohner:nnen der "Tomas" gehen derweil weiter. So etwa in der Hafenstadt San Antonio, wo die Bewohner:innen einer der landesweit größten Besetzungen regelmäßig gegen deren unmittelbare Räumung protestieren. Über 15.000 Personen leben derzeit dort.