Haiti / Politik

Progressive Internationale Rundbrief Nr. 11: "Haitis Freiheitsflut kann nicht ewig aufgestaut werden"

Historische Bezüge, unter anderem die Amtszeiten von Präsident Jean-Bertrand Aristide, die in der Berichterstattung zur aktuellen haitianischen Krise nicht fehlen dürfen

fire_in_saint-domingo_1791_german_copper_engraving.jpg

Historische Illustration zur haitianischen Revolution von 1791
Historische Illustration zur haitianischen Revolution von 1791

Hallo,

Vielleicht hast du Haiti in den Nachrichten gesehen. Die staatlichen Dienste sind zusammengebrochen. Die Hauptstadt wird von Banden überrannt. Hunderttausende sind intern vertrieben worden. Premierminister Ariel Henry wurde an der Rückkehr in das Land gehindert, als bewaffnete Männer drohten, den internationalen Flughafen zu stürmen. Er ist daraufhin zurückgetreten. Die USA versuchen, eine militärische Eingreiftruppe zu beschwören.

Aber die entscheidenden Fragen werden in den Mainstream-Berichten über die Krise selten gestellt: Was will die haitianische Bevölkerung? Wie organisiert sie sich? Und warum ist sie überhaupt mit einer solchen Krise konfrontiert?

Diese platte Darstellung der Ereignisse macht nicht nur die haitianische Bevölkerung, sondern auch die Leser oder die Zuhörerinnen zu passiven Beobachter:innen — oder, schlimmer noch, zu aktiven Kompliz:innen. Es führt dazu, die Unvermeidbarkeit der Gewalt zu beklagen oder ein Eingreifen zu fordern, weil etwas getan werden muss. In jedem Fall sorgt die Erzählung dafür, dass eine weitere von den USA unterstützte Militärintervention in dem Karibikstaat kaum aufzuhalten sein wird.

Aber wenn wir die ganze Geschichte erzählen und die Schlüsselfragen beantworten würden, würde sich diese Apathie in Wut und die Duldung in Antipathie verwandeln.

Die Krise in Haiti ist real. Die Grundversorgung ist lahmgelegt, Forderungen nach Veränderungen werden mit Schlagstöcken und Schüssen beantwortet, und Tod und Vertreibung sind auf erschreckende Weise alltäglich. Aber es handelt sich um eine externe Krise, nicht um eine interne. Die haitianische Bevölkerung ist nicht in einzigartiger Weise unfähig, sich selbst zu regieren. Sie hat mehr als zwei Jahrhunderte lang unter intensiven imperialen Bemühungen gelitten, ihre Selbstverwaltung zu zerschlagen und ihre Souveränität zu untergraben.

Im Jahr 1791 erhob sich die haitianische Bevölkerung, die hauptsächlich aus Afrika versklavt worden war, um Zucker für den europäischen Gaumen und Reichtum für das französische Reich zu produzieren, und befreite sich und führte eine Revolution an, die die Welt erschütterte. Am Neujahrstag des Jahres 1804 gründete sie die erste schwarze Republik der Welt.

In den zwei Jahrhunderten seither wurde die haitianische Revolution brutal bestraft: mit Sanktionen, Invasionen, Besetzungen und wiederholten Regimewechseln durch die westlichen Mächte. 122 Jahre lang bezahlte Haiti die Schulden für seine Befreiung an Frankreich. Im Jahr 1915 marschierten die USA in Haiti ein und besetzten es 19 Jahre lang, die längste Besetzung in der Geschichte der USA bis Afghanistan. Die USA hinterließen eine ruhige lokale Elite und eine Reihe von gewalttätigen Marionettenregimen, die den Interessen der US-Monopolisten dienten.

Aber die haitianische Revolution marschierte weiter. In den 1980er Jahren fand sie ihren Ausdruck in der sozialen Massenbewegung Lavalas, die die Regierung von Jean-Bertrand Aristide und seiner Partei Fanmi Lavalas an die Macht brachte. Mehr als fünfunddreißig Jahre lang hat die Geschichte der haitianischen Politik gezeigt, dass die Macht der Lavalas-Bewegung den unerbittlichen Versuchen der einheimischen Eliten und des ausländischen Militärs, sie zu zerstören, gegenübersteht.

Als Präsident forderte Aristide koloniale Reparationen von Frankreich und führte Reformen durch, die die Lebensbedingungen des haitianischen Volkes verbesserten. Dafür wurde er zweimal gestürzt: 1991 und, das zweite Mal unter der Flagge der Vereinten Nationen, 2004, als die kanadische Task Force 2 die Kontrolle über den internationalen Flughafen Toussaint Louverture übernahm, während US-Marines Aristide entführten und ihn in die Zentralafrikanische Republik flogen. Auch damals versuchten die nordamerikanischen Anführer und ihre Stenographen, humanitäre Gründe für ihre Aktionen vorzutäuschen. Doch ein WikiLeaks-Kabel, das 2008 veröffentlicht wurde, enthüllte die wahren Beweggründe der US-Intervention in Haiti: Sie wollten verhindern, dass "wiederauflebende populistische und marktwirtschaftsfeindliche politische Kräfte" Fuß fassen.

Im Gefolge dieses Putsches wurden die Institutionen des haitianischen Staates systematisch demontiert. An ihre Stelle traten vom Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen (NGO), die zeitweise 80 Prozent aller öffentlichen Dienstleistungen erbrachten und gleichzeitig das Elend, das sie zu bekämpfen versprachen, aufrechterhielten und davon profitierten.

Im Jahr 2009 wollte das haitianische Parlament den Mindestlohn auf 5 Dollar pro Tag anheben. Die USA intervenierten im Namen der Interessen von Unternehmen wie Fruit of the Loom, Hanes und Levi's und blockierten das Gesetz. Die Lohnerhöhung, so ein Beamter der US-Botschaft, sei eine unrealistische Maßnahme, um "die arbeitslosen und unterbezahlten Massen" zu beschwichtigen.

Haiti ist seit Juli 2021 ohne Präsident, als Jovenel Moïse ermordet wurde, angeblich von einer Gruppe kolumbianischer Söldner. Ariel Henry wurde daraufhin auf Geheiß der USA als Premierminister eingesetzt. Seitdem ist es ihm nicht gelungen, Wahlen abzuhalten, die Ordnung wiederherzustellen oder grundlegende Dienstleistungen bereitzustellen.

Um diese unpopuläre und illegitime Regierung zu stützen, wollten die USA eine ausländische Interventionstruppe aufstellen und finanzieren, aber nicht formell anführen. Kenia wurde ausgewählt — und sein Präsident William Ruto erklärte sich bereit, die Truppe zu leiten.

Die Unsicherheit in den Straßen von Port-Au-Prince wurde zur Ausrede von Henry, Ruto und [US-Präsident Joe] Biden. Aber diese Banden kommen nicht aus dem Nichts. Sie setzen sich zum großen Teil aus ehemaligen und einigen aktuellen Polizei- und Militärangehörigen zusammen. Einige arbeiten für Teile der politischen und wirtschaftlichen Eliten Haitis. Ihre Waffen kommen ausschließlich aus dem Ausland, insbesondere aus den USA und der benachbarten Dominikanischen Republik. Die USA — erstaunlich für ein Land, das behauptet, sich selbstlos um die Sicherheit Haitis zu kümmern — lehnen weiterhin Forderungen nach einem Waffenembargo ab.

Henry ist nicht mehr im Amt, er wurde schließlich ohne demokratisches Mandat aus dem Amt gedrängt. Aber der imperiale Plan der USA für Haiti bleibt bestehen: eine lokale Führung aufzubauen, die eine weitere ausländische Intervention willkommen heißt. Die Beteiligung Kenias an dieser Truppe hat sich durch die jüngsten Ereignisse verzögert, aber der Wille bleibt bestehen.

Die Vereinigten Staaten beabsichtigen immer noch, Afrikaner:innen zu schicken, um 12.000 Kilometer entfernt Afro-Amerikaner:innen abzuschlachten — für einen kleinen Preis, der an den kenianischen Präsidenten zu zahlen ist. Der Oberste Gerichtshof Kenias hat die Intervention bereits für verfassungswidrig erklärt, aber die Regierung ist entschlossen, das Vorhaben voranzutreiben.

Die Entsendung von kenianischen Polizeikräften zu dieser Mission in Haiti wäre ein Affront gegen den Geist des Panafrikanismus. Er spiegelt die Abhängigkeit der Vereinigten Staaten von Klientelstaaten und Stellvertretern wider, die nach ihrer Pfeife tanzen. Und sie droht, die ohnehin schon verheerenden Lebensbedingungen von Millionen Haitianer:innen noch zu verschlimmern.

Das Einzige, was diesen rücksichtslosen und gewaltsamen Kreislauf der Intervention stoppen kann, ist eine massive internationale Bewegung, die die politischen Kräfte von der Basis bis zur globalen Ebene vereint.

Wie in Kuba, das erstickt wird, weil es gewagt hat, seinen eigenen Weg zu gehen, und in Palästina, wo Bomben, Kugeln und Hunger versuchen, die Hoffnung auf Selbstbestimmung zu zerstören, stellt Haiti ein Schlüsselterrain im Krieg des Imperialismus gegen die Menschheit dar. Jede seiner Niederlagen ist unsere. Deshalb setzt sich die Progressive Internationale für die Souveränität und vollständige Befreiung Haitis ein.

Schließe dich uns an, wenn wir uns einer weiteren ausländischen Intervention widersetzen. Haitis Freiheitsflut kann nicht ewig aufgestaut werden.

In Solidarität,

Das Sekretariat der Progressiven Internationale