"Mexiko ist ein Friedhof"

Seit acht Jahren sucht Ana Enamorado nach ihrem Sohn. Wie aus einer Mutter eine Aktivistin wurde, die alles diesem Ziel unterordnet

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Seit acht Jahren sucht Ana Enamorado nach ihrem Sohn
Seit acht Jahren sucht Ana Enamorado nach ihrem Sohn

Wir treffen uns am frühen Abend beim Revolutionsdenkmal in Mexiko-Stadt. Die Sonne taucht das Monument in ein warmes Licht, das viele Leute für Erinnerungsfotos oder Selfies nützen. Obwohl es unsere erste Begegnung ist, beginnt Ana ohne Umschweife zu erzählen. "Meine Geschichte hat kein Ende", lautet einer ihrer ersten Sätze. Sie hat ein Porträtfoto mitgebracht, das sie mit ernster Miene mustert bevor sie es in die Kamera hält. Darauf zu sehen ist ihr Sohn Óscar. Er war 17, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hat.

Ana Enamorado stammt aus Honduras. Dass sie eines Tages ihr Leben dort hinter sich lassen, nach Mexiko ziehen und auch in viele andere Länder kommen würde, hätte sie sich nie vorstellen können. Bis nach Italien und Deutschland hat sie es schon geschafft – jedoch nicht als Touristin. "Geschichten wie meine sind hart. Aber es ist wichtig, dass sie bekannt werden", sagt sie trocken. Ana arbeitet für das Movimiento migrante mesoamericano (Mesoamerikanische Migrantenbewegung), eine kleine, ehrenamtlich tätige Organisation, die in Mexiko nach vermissten zentralamerikanischen Migranten sucht. Óscar ist vor acht Jahren verschwunden. Ob er Opfer eines Gewaltverbrechens wurde oder noch lebt, Ana weiß es nicht. Wie tausende andere Familien in Honduras, El Salvador oder Guatemala, deren Angehörige unauffindbar sind, sucht sie Gewissheit.

Mexiko ist sowohl Ausgangspunkt, Ziel als auch Durchreiseland für Migranten. Viele Zentralamerikaner versuchen durch Mexiko in die USA zu gelangen. Wer scheitert, verschwindet im wahrsten Sinne des Wortes, denn es gibt nicht einmal eine offizielle Statistik, die die Vermissten zählt. Die irreguläre Migration wird von offiziellen Stellen kaum thematisiert. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass jedes Jahr zehntausende Migranten auf mexikanischem Boden verschwinden, die genaue Zahl kennt niemand. Viele Familien würden ihre Vermissten aus Angst oder Unwissenheit nicht melden, erklärt Ana. Die, die es tun, stoßen auf Untätigkeit. Anas Gesicht wird hart, wenn sie über ihren Kontakt mit den Behörden spricht. "Sie kennen die Wahrheit", sagt sie bitter, "Aber anstatt etwas zu tun, vertuschen sie. Oder machen mit." Tatsächlich gab es immer wieder dokumentierte Fälle, in denen die Migrationsbehörde oder die Polizei mit Menschenhändlern oder Drogenkartellen zusammenarbeitete. Die Entführung der Migranten ist ein lukratives Geschäft, entweder um Geld von ihnen oder ihren Familien zu erpressen oder um sie als Zwangsarbeiter einzusetzen.

Óscar brach 2008 in die USA auf. In Honduras war ein normaler Alltag unmöglich geworden. Das zentralamerikanische Land gehört zu den gefährlichsten der Welt und rangiert in den weltweiten Mordstatistiken seit Jahren ganz oben. Gewalttätige Jugendbanden dominieren das Leben der Menschen. "Früher war unsere Nachbarschaft ruhig", erzählt Ana. "Aber mit der Zeit wurde es schlimmer. Irgendwann gab es täglich Morde". Die Gangs würden alle Jugendlichen rekrutieren, die sie finden. Wer nicht mitmache, werde ermordet. Óscar ging weiterhin zur Schule, konnte aber nichts mehr mit Freunden unternehmen, sein Zuhause wurde zu einem Gefängnis. Mit 17 fasste er den Entschluss, Honduras zu verlassen. "Damals begann mein Leidensweg", sagt Ana. Óscar schaffte es zwar, sich in die USA durchschlagen und Arbeit zu finden. Anfang 2010 wurde die Sehnsucht nach seiner Familie aber so groß, dass er den riskanten Weg in die Gegenrichtung antrat. Im Bundesstaat Jalisco riss der Kontakt ab.

Ana wollte sich nicht mit dem Verschwinden ihres Sohnes abfinden und begann auf eigene Faust, zu suchen. 2012 beschloss sie, nach Mexiko zu ziehen. Die Trennung von Familie und Freunden sowie das Scheitern ihrer Ehe nahm sie in Kauf. Gemeinsam mit anderen Betroffenen gründete sie das Movimiento migrante mesoamericano. Das Kernteam besteht aus vier Personen. Ein Büro können sie sich nicht leisten. Jedes Jahr im Herbst organisieren sie eine sogenannte Karawane durch diejenigen Bundesstaaten Mexikos, durch die die wichtigsten Migrationsrouten verlaufen. Sie wollen einerseits Bewusstsein dafür schaffen, dass jedes Jahr tausende Menschen verschwinden. Andererseits suchen sie – in Gefängnissen, Krankenhäusern, entlegenen Dörfern. "Mexiko ist ein Friedhof", sagt sie. "Wir gehen auf Leichen." Immer wieder gelingt es der Gruppe, Fälle aufzuklären. Manchmal finden sie jemanden sogar lebend. "Dieses Glück bei den Angehörigen zu erleben, das gibt mir Kraft", schildert Ana. "Als mein Sohn verschwand, hatte nichts mehr Sinn in meinem Leben. Dann habe ich die Dimension des Problems begriffen. Die Wut hat sich in Stärke verwandelt."

Die vorherrschende Version, die mittelamerikanischen Migranten würden aus wirtschaftlichen Gründen in die USA gehen, will Ana nicht gelten lassen. "Das war vielleicht früher so. Heute ist es die zunehmende Gewalt, die sie forttreibt", sagt sie. Nichts werde diese Migration aufhalten, erklärt sie bestimmt. "Egal was für Mauern Trump baut, es wird weitergehen. Diese Jugendlichen müssen raus aus ihrer Umgebung, um ihr Leben zu retten. Niemand will sein Zuhause zurücklassen, aber sie haben keine Wahl."

Anas Suche hat bisher kein Ergebnis gebracht. 2015 erhielt sie einen Anruf von der Staatsanwaltschaft in Jalisco, dem letzten bekannten Aufenthaltsort ihres Sohnes. Man habe einen Toten gefunden und als Óscar Antonio López Enamorado identifiziert, hieß es. Als Ana hinfuhr, wollte ihr der Beamte ein Behältnis mit Asche überreichen. Die Leiche war ohne ihr Wissen eingeäschert worden. Sie verlangte die Kleidung und das Telefon zu Gesicht bekommen zu dürfen. Die Objekte waren verschwunden. "Gleichzeitig versuchten sie mich davon zu überzeugen, dass dies mein Sohn sei. Aber ich weigerte mich, das zu glauben." Ana kämpft gegen die Tränen, als sie das Erlebnis schildert. "Wir sind kein Spielzeug. Wir haben das Recht auf Unterstützung. Aber für sie ist es besser, wenn wir uns nicht zu helfen wissen." Auch die Regierungen in Zentralamerika blieben untätig, beklagt sie. Die Behörden ihres Heimatlandes hätten ihr nie geholfen, Óscar zu finden. Umso wichtiger sei es, dass die Betroffenen zusammenhalten, auch weil die Suche einem alles abverlangt, physisch, psychisch, wirtschaftlich. Daneben einer geregelten Arbeit nachzugehen ist schwer. "Ich muss auch auf mich aufpassen, das habe ich gelernt. Wenn ich nicht nach meinem Sohn suche, wird es niemand tun."

Ein Jahr später treffe ich Ana wieder, am selben Ort. Neuigkeiten über Óscars Verbleib gibt es nicht. Mit ihrer Erfahrung fungiert Ana mehr denn je als Anlaufstelle für Menschen aus Zentralamerika, die gerade erst mit der Suche beginnen. Sie gibt ihnen Tipps für den Umgang mit Behörden und teilt das erarbeitete juristische Wissen mit den Neuankömmlingen. Statt dem Bleiberecht, das ihr Mexiko gewährt hat, soll sie bald eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Sie und ihre Organisation tauschen sich auf internationaler Ebene mit anderen aus. Ana möchte, dass alle wissen was in Zentralamerika passiert. "Wir brauchen Unterstützung", sagt sie. "Das muss ein Ende haben." Bis dahin sucht sie weiter. "Wenigstens bin ich in dem Land, in dem Oscar verschwunden ist. Mein Glück ist, dass ich nur einen Sohn habe, ich kann mich auf die Suche nach ihm konzentrieren. Die Leute sagen mir manchmal, es sei noch schlimmer für mich, weil ich nur ein Kind habe. Das glaub ich nicht. Auch wenn jemand 15 Kinder hat, lebt er nicht glücklich, wenn eines fehlt."