Venezuela: "Die Hyperinflation muss gestoppt werden"

Der Ökonom und Ex-Minister Rodrigo Cabezas über die Verantwortung der Maduro-Regierung für die soziale und wirtschaftliche Krise und mögliche Lösungen

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Päsident Maduro führt einen neuen Geldschein vor. - Die Währungsumstellung mache keinen Sinn, wenn das Ziel nicht gesetzt wird, die Hyperinflation zu stoppen, so Cabezas
Päsident Maduro führt einen neuen Geldschein vor. - Die Währungsumstellung mache keinen Sinn, wenn das Ziel nicht gesetzt wird, die Hyperinflation zu stoppen, so Cabezas

Venezuela erlebt vielleicht seine schlimmste soziale und wirtschaftliche Krise. Die Regierung hat dafür eine Erklärung und ihre Gegner eine andere. Gibt es einen "Wirtschaftskrieg" oder eine Krise, an der die Exekutive selbst schuld ist?

In den letzten vier Jahren sind wir mit einer fortschreitenden Verschlechterung aller Variablen konfrontiert, die eine Wirtschaft funktionieren lassen. Die wirtschaftliche Rezession, die Hyperinflation, die Nichtbegleichung der Auslandschulden, der Zusammenbruch der Rohöl-Produktion und die Unterernährung sind gegenwärtig. Hier gibt es keine Phänomene oder Geheimnisse, die nicht mit wissenschaftlichen Instrumentarien erklärt werden könnten.

Was ist die Achillesferse der venezolanischen Wirtschaft?

Dies ist zweifellos die Hyperinflation. Diese ist beispiellos für die Venezolaner. Es ist eine soziale Tragödie, dass die Regierung die Hyperinflation nicht anerkennt und das Land nicht aufruft, diese zu überwinden. Es ist dringend nötig sie zu stoppen, aus humanitären und aus ökonomischen Gründen. Wenn die Regierung und die Zentralbank von Venezuela (BCV) dies weiterhin unterlassen, kann die Hyperinflation leicht im Dezember einen Wert von über 60.000 Prozent übersteigen.

Was führte in Venezuela zur Hyperinflation?

Die Regierungen haben die Hyperinflation vom Geld- und Wechselkursbereich aus herbeigeführt. In Venezuela haben wir einen überquellenden Geldmengenanstieg auf noch nie dagewesenem Niveau verzeichnet. Bis zu einem Punkt an dem sie von 4 Billionen Bolívar im Januar 2016 auf 422 Billionen im März dieses Jahres anstieg und zugleich das Bruttoinlandsprodukt, die Ölexporte und die Inlandseinnahmen sinken.

Ökonomen haben auch den Überschuss an ungedecktem Geld verantwortlich gemacht.

Die venezolanische Zentralbank BCV gibt Geld aus dem Nichts aus, mit nur einem Knopfdruck auf dem Computer. Aus elektronischem Geld werden billionenschwere Schulden der PDVSA bei der BCV, und damit finanziert sie fälschlicherweise die Steuerausgaben durch eine Ausweitung des Umlaufgeldvermögens.

Wer kann ernsthaft leugnen, dass diese unverhältnismäßig hohe Menge von elektronischem Geld, umgewandelt in Inlandsnachfrage über die aufgrund der Rezession knappen Waren und Produkte, den Schmuggel, den "Bachaqueo" 1 und den Rückgang der Importe aufgrund der finanziellen Blockade einen überdurchschnittlichen Preisanstieg in Bolivares bringen würde?

Was wäre Ihr wirtschaftliches Rezept, um diese Krise zu überwinden?

Als erstes sollten Berechnungen gemacht werden, um die Verankerung des Wechselkurses schätzen und beschließen zu können; zweitens sollte es der BCV untersagt werden, ungedecktes elektronisches Geld auszugeben; drittens sollten die Wechselkurskontrollen aufgehoben und zu einem freien Wechselkurs übergegangen werden, bei dem die BCV als Marktordner auftritt, bei gleichzeitiger vollständiger Entkriminalisierung des Kaufs und Verkaufs von Wertpapieren und anderen Finanzinstrumenten; viertens sollten die Inflationsziele in Bezug oder in Anlehnung an das Programm zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen festgelegt werden; fünftens sollte eine Politik bezüglich der Zinssätze und des Schuldenmanagements festgelegt werden, die den neuen Wechselkurs stützen könnten.

Gibt es noch andere Ursachen der aktuellen Wirtschaftskrise?

Das Fehlen oder der Mangel an professioneller Durchführung der Wirtschaftspolitik verhinderte das zu sehen, was uns erwartete. Die Antworten des Staates verharren beim gleichen Fehler, nämlich im Bereich der bestrafenden Verwaltungsentscheidungen. Wenn man denkt, man könnte die schwere Verzerrung der relativen Preise dadurch korrigieren, dass man tausende von Staatsanwälten auf die Straße schickt, Läden schließt und die Unternehmer und Händler ihrer Freiheit beraubt, ist dies nicht nur unwirksam und absurd, es wurde auch kontraproduktiv. Es erzeugte noch mehr Engpässe und Spekulationen.

Hat die Wechselkurspolitik die Krise begünstigt?

Die durch diese Regierung ausgeführte Wechselkurspolitik war der Hauptauslöser. Da die riesige Wechselkursdifferenz von bis zu drei offiziellen Dollarpreisen nicht rechtzeitig korrigiert wurde, wurde die Bildung von Kostenstrukturen in der Industrie, der Agroindustrie und dem Importhandel zerstört. Als sich die Inflation ab 2015 verschärfte haben wir eine Korrektur oder Vereinfachung des Wechselkurses gefordert, um die Korruption rund um den billigeren offiziellen Dollar zu stoppen und einen Anstieg des Wechselkurses zu vermeiden, der die Importe verteuerte. Diese Stimmen wurden nicht gehört.

Und der Absturz der Öl-Produktion?

Dass wir heute täglich 1,5 Millionen Barrel Öl produzieren sollen, ist für jeden Venezolaner überraschend. Es ist, gelinde gesagt, ein Schock. Der staatliche Einnahmeverlust durch den Produktionsabsturz übersteigt für die Jahre 2017-2018 rund 20 Milliarden US-Dollar.

Teilen Sie die Meinung, dass die Sanktionen ausländischer Regierungen gegen Staatsfunktionäre und den venezolanischen Staat ursächlich für die Krise sind?

Diese Maßnahmen haben einen geopolitischen Ursprung. Die Sanktionen gegen angeblich korrupte Amtsträger und private Geschäftsleute haben einen persönlichen Geltungsbereich. Auf der anderen Seite trifft die wirtschaftliche und finanzielle Blockade die Möglichkeit, Lebensmittel, Medikamente, Rohstoffe, Ersatzteile und anderes zu importieren, sowie auch die Marktmechanismen, um die Wirtschaft zu finanzieren. Ohne Korrespondenzbanken weltweit und mit dem Verbot, Titel venezolanischer Schulden zu erwerben dazustehen, ist sehr schwerwiegend. Diese Art von einseitigen und interventionistischen Sanktionen betreffen am Ende die schwächsten Sektoren, die Ärmsten.

Was geschah in der staatlichen Erdölgesellschaft PDVSA, das diese Krise erklären würde? Ihr ehemaliger Präsident Rafael Ramírez glaubt, dass sie sich am Rande des Zusammenbruchs befindet.

Die Industrie war durch die Wechselkursdifferenz und die Überbewertung betroffen, die eine Rentabilität unmöglich machte. Bei fallender Produktion von Rohöl und Raffinerieprodukten, zusammen mit einer hohen Verschuldung und einer Gehaltsliste mit mehr als 145.000 Beschäftigten, war es offensichtlich, dass ihre Basisgeschäfte unter Liquiditätsengpässen und verringerten Investitionen leiden würden, einschließlich bei der Instandhaltung.

Fühlen Sie sich mitverantwortlich für die Krise? Die Opposition behauptet, dass diese Krise die Schuld des Chavismus im Allgemeinen ist und auch passiert wäre, wenn Chávez noch leben würde.

Ich bin seit mehr als zehn Jahren nicht mehr Finanzminister. Ich habe nie wieder an wirtschaftlichen Entscheidungen des Staates teilgenommen. Alle meine kritischen Bemerkungen und Warnungen aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaften wurden ignoriert, abgetan und als neoliberale Ansätze verworfen.

Glauben Sie, dass Chávez andere wirtschaftliche Entscheidungen als die aktuellen getroffen hätte, um aus der Krise zu kommen?

Das kann man nicht wissen. Es wäre eine interessante Überlegung. Ich erinnere mich an einen Aufruf von ihm, als er sich im Juni 2011 zur Genesung in Kuba aufhielt und die Führung seiner Partei bat, ihm bei dem Thema "finanzpolitische Tragfähigkeit der Revolution" zu helfen. Vielleicht hätte er seine Haltung angesichts einer Krise erneuert und aktualisiert. Das ist möglich.

Was halten Sie von der neuen Währungsumstellung, die von der Regierung verordnet wurde? Sie haben selbst vor rund elf Jahren eine geleitet.

Ich habe einen Artikel geschrieben, in dem ich auf Versäumnisse bei dieser Umstellung aufmerksam machte, die schwerwiegende Liquiditätsengprobleme verursachen könnten. Das Vernünftigste ist, sie auf den 1. Januar 2019 zu verschieben. Nun, ich bestreite nicht die Notwendigkeit einer Anpassung im monetären Bereich, die die Verzerrungen im System der Zahlungen und Berechnungen korrigieren würde. Aber eine Umstellung macht dann keinen Sinn, wenn das Ziel nicht gesetzt wird, die verheerende Hyperinflation zu stoppen. In weniger als drei Monaten werden wir Banknoten mit höheren Nennwert benötigen. Ich denke, dass das BCV-Leitung die Regierung darüber informiert hat.

Wie bewerten Sie die Wiederwahl von Präsident Nicolás Maduro und den Abstimmungsprozess am 20. Mai, der von den anderen Kandidaten und etwa zwanzig Staaten als Illegal gebrandmarkt wurde?

In den vergangenen 18 Jahren war es das Wahlergebnis einer Regierung mit einem sehr fragilen politischen und gesellschaftlichen Boden. Es ist unmöglich, die Enthaltung der Mehrheit der Venezolaner zu verbergen. Das ist die historische Tatsache, denn sie ist beispiellos.

Halten Sie einen Kurswechsel oder Veränderungen in der wirtschaftlichen Führung unter Leitung von Maduro für möglich?

Ich habe keine Hoffnung auf Veränderungen in der wirtschaftlichen Leitung, die bis heute falsch ist. Wie ich schon sagte, sie werden von einem sterilen, unkritischen Dogmatismus beherrscht, der sie den Bezug zur Realität verlieren ließ. Sie werden nie verstehen, dass die wichtigste Maßnahme der Wirtschaftspolitik nicht eine wirtschaftliche im engeren Sinne ist; es ist eine volkswirtschaftliche. Ich beziehe mich auf die Dringlichkeit, die wirtschaftliche und finanzielle Blockade der USA zu beheben oder zu überwinden. Da die Erhaltung der Macht um jeden Preis ein Thema der aktuellen Führung ist, werden sie nicht mit der US-Regierung verhandeln. Es wird kein erfolgreiches wirtschaftliches und monetäres Stabilisierungsprogramm geben, sei dies noch so gut durchdacht und relevant, ohne dass zuvor die verhängnisvolle Blockade aufgehoben wird. Auch wird ihre dogmatische Kurzsichtigkeit es ihnen nicht erlauben, die Dringlichkeit neuer rechtlicher und wirtschaftlicher Regelungen zu sehen, um den Zusammenbruch der PDVSA zu verhindern.


Rodrigo Cabezas aus Venezuela war 2007 und 2008 Finanzminister der Regierung Chávez und bis 2016 Mitglied der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). Aktuell unterrichtet er an der Universität von Zulia

Das Interview erschien bei BBC Mundo am 24. Mai 2018. Wir bedanken uns für die Genehmigung zur Veröffentlichung der Übersetzung.

  • 1. Bachaqueo bezeichnet den Handel mit staatlich subventionierten Gütern des täglichen Bedarfs auf dem Schwarzmarkt