Ecuador / Politik

Ecuador: Konservative Restauration oder Reform im Geist von Montecristi?

Der ecuadorianische Journalist Orlando Pérez über die Konflikte in der Regierungspartei Alianza País und Widersprüche zur Politik von Präsident Lenín Moreno

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Beim Amtsantritt von Lenín Moreno in Ecuador wurde nicht nur das Bild seines Vorgängers ausgewechselt
Beim Amtsantritt von Lenín Moreno in Ecuador wurde nicht nur das Bild seines Vorgängers ausgewechselt

Ecuadorianer und Auswärtige fragen sich, was im Inneren der Regierungspartei Movimiento Alianza País (AP) passiert, da doch Lenín Moreno, derzeitiger Präsident des Landes, mehr als ein Jahrzehnt lang treuer Verbündeter und Bruder im Geiste des Anführers der Bürgerrevolution, Rafael Correa, war. Und die Fragen und Unklarheiten nehmen zu, vor allem, nachdem Vizepräsident Jorge Glas ‒ der dieses Amt bereits unter Correa innehatte ‒ Anfang Oktober auf Antrag des Generalstaatsanwalts Carlos Baca unter dem Vorwurf der kriminellen Vereinigung festgenommen wurde.

Hinzu kommt nun der Vorschlag einer Volksbefragung um die Verfassung zu ändern und einige Reformen an den von Correa eingeführten politischen Maßnahmen voranzutreiben. Hierbei schlägt Moreno beispielsweise vor, die Verfassungsänderung zu streichen, die eine unbegrenzte Wiederwahl für das Amt des Präsidenten der Republik ermöglicht. Damit würde eine mögliche Kandidatur Correas bei den Wahlen 2021 entfallen.

Findet also in Ecuador eine konservative Restauration statt, wie von einigen Beobachtern und Anhängern Correas angedeutet? Gibt es eine Reform oder Rückkehr zum "Geist von Montecristi", wie es von Moreno dargestellt wird?

Die ecuadorianische Verfassung wurde in der Stadt aufgesetzt, in der der 1912 ermordete Eloy Alfaro, führender liberaler Politiker am Ende des 19. Jahrhunderts, geboren wurde. In Montecristi, einer Kleinstadt an der südlichen Pazifikküste Ecuadors, wurde die Magna Carta, welche die Zukunft der Bürger des Landes bestimmt, in den Jahren 2007 und 2008 über einen Zeitraum von acht Monaten ausgearbeitet. In dieser Verfassung war festgelegt worden, dass der Präsident nur einmal wiedergewählt werden kann. Aber im Mai 2016 strengten Correa und seine Bewegung AP im Parlament eine Verfassungsänderung an, um eine unbegrenzte Wiederwahl aller vom Volk gewählten Mandatsträger zu ermöglichen.

In die Zukunft gehen, ohne in den Rückspiegel zu schauen

Eine der häufigsten Fragen, die sich die Ecuadorianer stellen, ist die, warum es zum "politischen Bruch" zwischen Correa und Moreno kam. Hierzu gibt es vielleicht zwei oder drei Erklärungen, Thesen, die es noch zu bestätigen gilt, die aber der Realität und der nahen Zukunft gegenübergestellt werden müssen. Eingangs die Frage: Sind heute die Differenzen der beiden politischen Anführer publik geworden, die es bereits seit 2007 gab? Ja, alles deutet darauf hin. Moreno war bei einigen Themen nie mit Correa einverstanden. Eines der offensichtlichsten war dessen Haltung gegenüber der Presse: Moreno hatte immer einen "absoluten" Respekt für die freie Meinungsäußerung verfochten. Für viele war dies ein Nachgeben gegenüber einem politischen Akteur, der als konservativer Medienapparat bezeichnet wird, den Correa niemals als Verbündeten geschweige denn als unabhängigen und neutralen Akteur ansehen würde.

In seinen Reden enthüllt Moreno jetzt, dass er mit vielen Dingen im Wirtschaftsbereich und im Bildungswesen nicht einverstanden war und vor allem nicht mit dem Geist der öffentlichen Politiken, der Rolle des Staates in der Gesellschaft sowie der Daseinsberechtigung von Alianza País. Daher ist es vielleicht auch verständlich, warum Correa überhaupt nicht begeistert war, dass Moreno ihn ersetzen sollte. Obwohl er selbst ihn bat, als Kandidat für die Wahlen in diesem Jahr anzutreten, weiß man, dass Jorge Glas immer seine erste Wahl war. Aber die Umfragen waren damals nicht günstig für ihn und zudem geisterten bereits die Anschuldigungen über eine mögliche Verbindung zum Odebrecht1-Fall herum, die bis heute noch nicht vollständig bewiesen wurden.

Bis zum Tag seines Amtsantritts im Carondelet-Palast (Sitz der ecuadorianischen Regierung) pries Moreno Correas Regierungsführung und ihn als den großen Anführer der Bürgerrevolution. Auch als Correa nach Brüssel ging, machte er ein Foto auf dem Balkon des Palastes um ihn zu verabschieden und seine Leistung anzuerkennen. Dieses Bild wird vielen Menschen als Akt der Loyalität in Erinnerung bleiben, das nur wenige Tage später zerfiel, als Moreno sagte, man habe ihm eine verschuldete Regierung mit vielen nicht fertig gestellten Arbeiten hinterlassen. Außerdem, und zur Überraschung aller, griff er in einer Reihe von Tweets Rafael Correa an, ohne ihn beim Namen zu nennen. Alle sahen dies als Schlag ins Gesicht seines ehemaligen Gefährten in der Präsidentschaft.

Correa schrieb seinerseits mehrere Tweets zur Verteidigung seiner Regierungsarbeit und erwähnte darin auch Moreno, den er als mittelmäßig und illoyal bezeichnete. Außerdem machte er Anmerkungen zur Auslandsverschuldung und zum realen Wert (wirtschaftlich und gesellschaftlich) der Infrastrukturarbeiten im Bereich der Bildung, der Energie und des Gesundheitswesens.

Darüber hinaus gab es sehr gezielte Aktionen, die die Fantasie einer Fortsetzung der Bürgerrevolution erschütterten: Moreno traf sich mit den Bankern und bot ihnen die Verwaltung des sogenannten elektronischen Geldes an; er setzte sich mit privaten Medienbesitzern zusammen und übergab Journalisten, die der rechten Opposition nahe stehen, die öffentlichen Medien; er traf mit sozialen Organisationen und politischen Anführern mit absolut konträrer Haltung zu Correa zusammen und schloss Vereinbarungen mit ihnen, die alles, was sein Vorgänger als seine soziale und Parteipolitik verkündet und ausgeführt hatte, zurück nahmen.

Und dann er entband Jorge Glas seiner Funktionen als Vizepräsident, nachdem dieser die Übergabe von Staatsunternehmen an die Familie Bucaram hinterfragt hatte ‒ eine der schärfsten Gegnerinnen Correas, deren Oberhaupt zudem aufgrund von Korruptionsvorwürfen 20 Jahre im Exil war. Dieser Tropfen brachte das Fass zum Überlaufen und Moreno ging fortan auf Distanz zu Glas; er bezeichnete ihn, ohne ihn beim Namen zu nennen, als Verantwortlichen für den "größten Korruptionsfalls in der Geschichte" und überließ ihn schließlich der Staatsanwaltschaft, was mit seiner Festnahme am 2. Oktober endete.

Odebrecht und Volksbefragung vermengt

Jorge Glas ist in Haft und hat wiederholt gesagt, dass es gegen ihn keinen einzigen Beweis gibt, dass alle Anschuldigungen einer Verschwörung entspringen, die mit der Bürgerrevolution Schluss machen und Rafael Correa politisch vernichten soll. Zuvor waren bereits etwa ein Dutzend Personen im Zuge der Korruptionsfälle in Sachen Odebrecht und den Aufträgen mit dem staatlichen Erdölunternehmen Petroecuador festgenommen worden. Alle Gerichtsverfahren begannen während der Regierungszeit Correas und die meisten der Festgenommenen waren auch Teil des von ihm eingeleiteten Rechtsstreites. Unter der Regierung Lenín Morenos sind es nur zwei oder drei Personen, darunter Glas.

Als im vergangenen Jahr die sogenannten Panama Papers auftauchten, begann in Ecuador eine umfangreiche Suche nach Verantwortlichen für die Korruption und tatsächlich wurden dank dieser Enthüllungen zwei der Hauptverantwortlichen der Ölpolitik und der Vergabe von Aufträgen in diesem Geschäftsfeld verhaftet, angeklagt und verurteilt. Es konnten dabei jedoch keine weiteren Fälle aufgedeckt werden und einige Personen mit Verbindungen zu Konzernen und rechten Gruppen blieben eher im Hintergrund, denn am 19. Februar gab es zudem eine Volksbefragung, in der es darum ging, dass kein Bürger mit Offshore-Konten politische Ämter ausüben kann. Diese Befragung war von Correa vorgeschlagen worden und das Volk hat ihr mit absoluter Mehrheit zugestimmt. Leute wie Guillermo Lasso und die gesamte Opposition gegen Correa lehnten sie ab.

Dieses Thema blieb indes auf der Strecke, als Beweise für unzulässige Zahlungen von Odebrecht an einige Personen ‒ unter ihnen der Onkel von Glas, Ricardo Rivera ‒ auftauchten. Rivera habe demnach um die 13 Millionen US-Dollar Provisionszahlungen für die Beschaffung von Staatsaufträgen erhalten. Ständig versuchte die Opposition, Glas mit diesen Aufträgen in Verbindung zu bringen, aber bis jetzt gibt es in keinem Dokument ein Indiz hierfür, außer der familiären Verbindung zu Rivera, einigen E-Mails, die nichts beweisen und Aussagen von Vertretern des korrumpierenden brasilianischen Unternehmens.

Und mittendrin brachte Moreno seinen Vorschlag für eine Volksbefragung mit sieben Fragen ein, die noch vom Verfassungsgericht überprüft werden müssen. Der Großteil dieser Fragen war im Wahlprogramm der rechten Opposition enthalten. Der Banker Guillermo Lasso und der christlich-soziale Bürgermeister von Guayaquil, Jaime Nebot, waren die Ersten, die die Volksbefragung begrüßten. In der Alianza País gibt es dagegen geteilte Meinungen.

Einige Beobachter meinen, dass mindestens fünf der sieben Fragen von der Nationalversammlung behandelt werden könnten und eine davon keinen Sinn habe, da sie Rechte internationaler Menschenrechtsorganismen berühre, die nicht Gegenstand eines Referendums sein dürfen. Morenos politisches Ziel ist also, sein eigenes Image, sein eigenes Projekt und den politischen Sinn seiner Regierung zu bekräftigen. Wenn die Befragung erfolgreich ist, sind die Fragen zweitrangig. Das Wichtigste ist: die wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen und Aktionen seines besonderen und sehr persönlichen politischen Projekts zu ergreifen.

Andererseits scheint eine Frage (die nach Abschaffung der unbegrenzten Wiederwahl von gewählten Mandatsträgern) sich gegen Rafael Correa zu richten, damit er nicht Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen 2021 wird. Das hatte sich die Rechte im Jahr 2016 auf die Fahnen geschrieben und ihr Wahlprogramm darauf gestützt. Moreno hat gesagt, dass er nie mit der unbegrenzten Wiederwahl einverstanden war und sie daher jetzt dem Volk zur Entscheidung stellt. Und wenn er in dieser Frage gewinnt, bleibt zu klären, ob die Anwendung dieser Entscheidung rückwirkenden Charakter hat und auch Correa trifft.

Tatsächlich sprechen wir von einem anderen Moment der Bürgerrevolution oder zumindest von einem anderen Projekt, das nicht in der politischen Agenda der Alianza País vorgesehen war. Allerdings gibt es auch im Kabinett von Moreno einige Leute von AP die sagen, dass es heute darum gehe, zum ursprünglichen Geist der Bürgerrevolution zurückzukehren, der im Laufe der Correa-Regierung verloren gegangen sei. Eine Schlüsselfigur und historische Persönlichkeit der AP ist Ricardo Patiño, der bis vor kurzem Berater des Präsidenten war. Zusammen mit Virgilio Hernández (Präsidentenberater) und Paola Pabón (Leiterin des politischen Sekretariats) trat er von seinem Posten zurück, da Moreno "die zehn Jahre der Revolution verunglimpft hat."

Es bleibt also abzuwarten, ob das Ergebnis der Volksbefragung das politische Szenario verändert und gleichzeitig, ob die Verhaftung von Glas einen noch nicht vorhersehbaren Faktor für die Zukunft der Bürgerrevolution bildet oder eine Bruchstelle mit Moreno für eine mögliche Spaltung der AP oder für die Bildung einer neuen Bewegung unter der Führung und Leitung von Correa wird. Alles hängt von der Volksbefragung und ihren Ergebnissen und von den Positionen aller politischen Akteure ab. Die größte Unterstützung Morenos kommt vorerst von der Rechten, den Wirtschafts- und Finanzeliten und einem Teil der traditionellen Linken.

Orlando Pérez aus Ecuador ist Journalist, Schriftsteller, ehemaliger Leiter der ecuadorianischen Tageszeitung El Telégrafo und Moderator des Programms "En Clave Política", das im lateinamerikanischen Fernsehsender Telesur ausgestrahlt wird

  • 1. Die brasilianische Odebrecht Group ist ein großer Mischkonzern und Lateinamerikas größtes Bauunternehmen. Im Jahr 2016 hatte Odebrecht sich laut einem Bericht des US-Justizministeriums dazu bekannt, unter anderem in zehn lateinamerikanischen Ländern Bestechungsgelder in Höhe von insgesamt 735 Millionen US-Dollar gezahlt zu haben. Momentan wird in mehreren Länder gegen Odebrecht ermittelt, darunter Peru, Kolumbien, Argentinien, Dominikanische Republik, Ecuador, Venezuela und Brasilien