Wirtschaftsliberal oder sozial?

Bei den jüngsten Wahlen hat die sozialreformerische PT die städtischen Wahlbezirke an die wirtschaftsliberale Opposition verloren. In der Kritik steht die Regierung bei den neuen Mittelschichten

In diesem Jahr gingen die Wähler in sieben der 22 Länder Lateinamerikas an die Urnen. Brasilien galt dabei – als sechstgrößte Volkswirtschaft weltweit und Land der Region mit der größten Wahlbevölkerung – als Gradmesser für die Zufriedenheit mit dem linkspolitischen Kurs der letzten Dekade. Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober wurde die regionale Tendenz zur Wiederwahl der regierenden Partei bestätigt. Davon zeugt ein gewisses Vertrauen der Wähler. Jedoch gilt die knappe Mehrheit von 51,6 Prozent für Dilma Rousseff als "Denkzettel". Ihr Mitstreiter Aécio Neves lag mit 48,4 Prozent der Stimmen dicht hinter der amtierenden Präsidentin.

Laut Weltbank und OECD sind die Mittelschichten zwischen 2003 und 2009 in Lateinamerika um 50 Prozent gewachsen. Die Armuts- und Ungleichheitsindikatoren zeigen zudem eine positive Bilanz der Linksregierungen. Aus der Interessenlage der neuen Mittelschichten und den politischen Zielsetzungen der sozialdemokratischen PT ergibt sich eigentlich eine große Schnittmenge. Allerdings sprechen die Wählerverteilung im Vergleich urbaner und ländlicher Regionen, wie auch der Verlust der Stimmen in den städtischen Zentren eher für eine abnehmende Unterstützung seitens der neuen Mittelschichten. Obwohl Rousseff sie im Wahlkampf als  "sichtbarsten Erfolg" ihrer Regierungszeit bezeichnet hatte und auch für die kommende Amtszeit gezielte Förderung angekündigt hat.

Mehr als die Hälfte der Brasilianer in der Mitte der Gesellschaft

Die Bilanz der Regierung spricht für sich. So wurden nach offiziellen Angaben in drei Regierungszeiten der PT seit 2003 rund 36 Millionen Brasilianer aus extremen Armutsverhältnissen geholt, davon allein 22 Millionen zwischen 2011 und 2013. Besonders ausgeprägt ist die soziale Mobilität der mittleren Sektoren (Gruppe C). Denn im gleichen Zeitraum sind die Mittelschichten um 18 Prozent gewachsen und machen heutzutage 55 Prozent und damit den größten Teil der brasilianischen Bevölkerung aus. In absoluten Zahlen ist somit, laut Regierung, 42 Millionen Menschen der soziale Aufstieg gelungen.

Das tatsächliche Vermögen der Mittelschichten in Pro-Kopf-Einkommen gemessen, reicht allerdings weit auseinander. Es liegt zwischen umgerechnet 95 und 817 Euro monatlich. Von der materiellen Ausstattung häng ab, wie sehr die Menschen auf öffentliche Dienstleistungen zurückgreifen müssen. Oder sich ihren Lebensstandard verbessern können, etwa was Gesundheitsversorgung, Privatversicherungen oder Kredite für den Hausbau und die Finanzierung eines Autos betrifft. So ist es für Mittelschichtsfamilien der unteren Einkommensklassen beispielsweise schwierig, ihren Kindern eine qualitativ höherwertige, private Schulbildung zu finanzieren. Dadurch bleibt ihnen der Zugang zu renommierten öffentlichen Universitäten oftmals noch verwehrt.

Dass aus unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten vielschichtige Interessen hervorgehen, ließ sich schon bei den Demonstrationen im Vorfeld des Confederation Cups im Juni 2013 deutlich erkennen. Neben den vornehmlich jungen, urbanen Mittelschichten waren darunter auch Studenten und Angestellte aus den oberen Schichten. Rund eine Million Menschen forderten mehr Qualität und Sicherheit im öffentlichen Bildungssystem, den Ausbau von Verkehrswegen, insgesamt eine bessere Infrastruktur, zum Beispiel bei der Abwasserversorgung und dafür weniger staatliche Investitionen in das Mega-Sport-Event der Fußballweltmeisterschaft 2014. Anders als soziale Bewegungen, die meist durch ein Hauptanliegen zusammengehalten werden, waren die Interessen und politischen Einstellungen der Protestierenden vielfältig. Kern ihres Anliegens war jedoch der Wunsch, ihre Unzufriedenheit mit dem Status-quo zu verlautbaren.

Seit den 1990er Jahren ist es Brasilien gelungen, seine Wirtschaft zu stabilisieren. Der Einsatz von staatlichen Sozialprogrammen, wie etwa  "bolsa família" oder  "fome zero", die den armen Teilen der Bevölkerung ein Grundgehalt sicherten und zu einer gewissen Kaufkraft verhalfen, haben zu mehr Wohlstand geführt und die soziale Mobilität in der brasilianischen Gesellschaft befördert. Auch sind 2014 mehr Menschen formal beschäftigt. Rund zwei Drittel der Erwerbstätigen arbeiten in formalen Lohnverhältnissen. Allerdings erwächst aus mehr Wohlstand das Streben, die eigenen Lebensumstände auch zukünftig zu verbessern. Der Anspruch nimmt eher zu.

Vertrauenskrise in den Zentren

Auch die neuen Mittelschichten leben in den verstädterten Bundesstaaten São Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro, wie auch rund 40 Prozent der sehr jungen Bevölkerung Brasiliens. Etwa 50 Millionen Menschen sind zwischen 15 und 29 Jahren alt. Der Demografie Rechnung tragend, hatte die PT das freiwillige Wahlrecht ab 16 Jahren eingeführt. Seit den 1950er Jahren gab es die Tendenz, dass die städtische Bevölkerung bevorzugt Parteien und Kandidaten des linken Spektrums wählte. Als Motivation galt der Wunsch, die soziale Ungleichheit zu senken. Währenddessen wählten die ärmeren, ländlichen Regionen eher konservativ. Was wiederum mit dem historischen Erbe lokaler Patronage-Netze zusammenhing. Die Stimmenverteilung in diesem Wahljahr zeigt jedoch, dass die Regierung ihre Unterstützung nicht aus den Wahlkreisen der Metropolregionen und industrialisierten Zentren bekommen hat.

Der Trend hat sich gewendet: Heute nimmt Rousseffs Beliebtheit mit der Höhe des Einkommens und des Bildungsabschlusses der Wähler ab. So spürte die PT den Verlust der Kernzentren der ehemaligen  "Lulistas" in diesem Wahlgang. Zuspruch fand Rousseff hingegen im ländlichen Norden (57 Prozent) und Nordosten (72 Prozent). Aécio Neves lag im zentralen Osten (57 Prozent) und dem verstädterten Südosten (56 Prozent) und Süden (59 Prozent) vorn.

Die Entwicklung der Wahlergebnisse der letzten vier Präsidentschaftswahlen zeigt zudem, dass die PT ihre landesweite Zustimmung bereits 2006 verloren hatte. Ein Grund dafür, folgerten Wahlbeobachter, war der 2005 entdeckte Korruptionsskandal  "mensalão", der einen Vertrauensverlust in die progressive politische Führung zur Folge hatte, weil seitens hochrangiger Regierungsfunktionäre des damaligen Kabinetts von Lula da Silva Bestechungsgelder für politisches Wohlverhalten gezahlt wurden.

Wahlkonservativ oder wertkonservativ?

Der dritten Mitbewerberin um das Amt des Präsidenten, Marina Silva, gelang es im ersten Wahlgang mit ihrem "dritten Weg" die beiden verhärteten politischen Kräfte aufzuweichen. Angesichts ihres weitgefassten Profils und ihrer Biographie erreichte sie Wähler des progressiven und konservativen Lagers. Sie erreichte 22 Prozent im ersten Wahlgang, neben Dilma Rousseff (43 Prozent) und Aécio Neves (34 Prozent).

Während sich Silva in den Demonstrationen von 2013 zu einer Figur der jungen Proteste stilisierte, verlieh ihr ihre Biografie im Wahlkampf, ähnlich wie einst Lula da Silva, die Glaubwürdigkeit einer gewissen Vormundschaft der Armen. Denn sie kommt aus dem ländlichen Acre im zentralen Nordosten, lernte erst als Teenager lesen und schreiben und kennt die ärmsten Regionen und die Nöte der Menschen.

Die programmatische Offenheit Silvas im Wahlkampf ließe sich vielleicht am ehesten als  "Sowohl-als-auch"-Prinzip beschreiben. Als ehemalige Umweltministerin im ersten Kabinett von Lula da Silva trat sie in diesem Jahr für die dem linken Spektrum zugehörige Sozialistische Partei Brasiliens (PSB - Partido Socialista Brasileiro) an. Progressiv eingestellt in ökologischen Fragen, erklärte sie sich für den Schutz des Amazonas. Allerdings vertrat sie gleichzeitig ein marktliberales, exportorientiertes Entwicklungsmodell.

In gesellschaftspolitischen Fragen zu Familie, Homosexualität oder Abtreibung steht Silva zu ihrer wertkonservativen Haltung. Sie ist aktives Mitglied der Assembléia de Deus, einer der größten Pfingstkirchen in Brasilien. Bereits 2010 waren mehr als zwölf Millionen Brasilianer Mitglied dieser Kirche. Damit liegt Silva im religiösen Trend. Denn nicht nur, dass sich die historische Verbreitung des Katholizismus seit den 1970er Jahren in eine stetige Zunahme der Protestanten verkehrt. Mittlerweile bezeichnet sich jeder fünfte Lateinamerikaner als evangelisch (22,2 Prozent) und dabei wächst die Zahl der Anhänger von Freikirchen am schnellsten. Zudem gelten die Anhänger der freien Kirchen sogar als konservativer im Vergleich zu praktizierenden Katholiken.

Nach dem ersten Wahlgang sprach Silva ihre Unterstützung für das liberalkonservative Lager aus. Zwei Drittel ihrer Wähler folgten dem Ruf und entschieden sich im zweiten Wahlgang für den konservativen Neves. Die Wählerwanderung zugunsten der PSDB, die ihren Hauptzuspruch im verstädterten Süden und Südosten erhielt, der traditionell dem linken Spektrum zugeordnet wird, spricht für einen Stimmungswandel der städtischen Bevölkerung, von der die mittleren Schichten nicht ausgenommen sind.

Mehr Konsumenten, mehr Zuspruch in Zukunft?

Trotz vielschichtiger Forderungen und einer durchaus heterogenen Mittelschicht ist die Botschaft an den Urnen klar: Es wird nicht ausreichen, das Wachstum der Mittelschichten als Ergebnis einer positiven Wirtschaftsentwicklung des Landes festzustellen. Vielmehr muss die anhaltende Chancenungleichheit auch innerhalb der neuen Mittelschichten der Anstoß für weiterführende Debatten über eine nachhaltige Veränderung der Sozialstruktur sein. Wege dahin wären etwa ein progressives Steuersystem sowie ein inklusives Bildungswesen und Investitionen in die Verbesserung der öffentlichen Einrichtungen.

Die Wiederwahl der Präsidentin zeugt von einer gewissen Zufriedenheit der Mittelschichten mit dem vom Staat getragenen sozialpolitischen Kurs der PT. Jedoch rückt der Wählerzuspruch für Aécio Neves das Streben der Mittelschichten nach Wohlstand durch Wirtschaftswachstum in den Blick und zeugt von dem Wunsch nach einer politischen Veränderung. Das Wählerverhalten spricht allerdings auch dafür, dass sich die Wählerschaft auf soziale und wirtschaftliche Sicherheit konzentriert, ohne sich politisch links oder rechts zu positionieren.

Um die breite Unterstützung dieser Wählergruppen zurückzugewinnen, muss die PT daher nicht nur mehr Menschen in die gesellschaftliche Mitte bringen, sondern auch für deren weiteren sozialen Statuserhalt sorgen. Nur so dann kann es gelingen, die Mittelschichten als künftige Wähler zu mobilisieren.