Falsos Positivos in Kolumbien: Angehörige der Opfer auf Tour in Deutschland

Im Gespräch mit amerika21 kritisieren Angehörige die Übergangsjustiz und anhaltende Straflosigkeit. Wenig Hoffnung auf volle juristische Aufarbeitung. Appell an Bundesregierung

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Rubiela Giraldo (li) und Jacqueline Castillo beim öffentlichen Akt der Regierung Petro am 3. Oktober 2023
Rubiela Giraldo (li) und Jacqueline Castillo beim öffentlichen Akt der Regierung Petro am 3. Oktober 2023

Hamburg et al. Zwei Sprecherinnen der Organisation von Mordopfern der kolumbianischen Streitkräfte haben im Rahmen einer zweiwöchigen Rundreise durch Deutschland über ihren Kampf für die Ermittlung und Verurteilung der Hauptverantwortlichen für die Ermordung ihrer Angehörigen berichtet. Im Gespräch mit amerika21 äußerten Jacqueline Castillo und Rubiela Giraldo von den Müttern der Falsos Positivos (Madres de los Falsos Positivos, Mafapo) die Befürchtung, dass die Sonderjustiz für den Frieden (JEP) die Drahtzieher der Morde nicht aufdecken wird.

Nach Angaben der JEP wurden zwischen 2002 und 2008 6.402 Menschen, vor allem arme Jugendliche, vom Militär getötet, um sie als gefallene Guerilleros auszugeben und so Prämien zu kassieren. Diese sogenannten Falsos Positivos sind einer von elf Makrofällen, die von der JEP untersucht werden. Die Mitglieder von Mafapo glauben, dass die Zahl der Falsos Positivos noch höher ist.

Castillo und Giraldo, die vom Ökumenischen Büro München nach Deutschland eingeladen wurden, verweisen auf mehrere Probleme der JEP. Zum einen komme sie sehr langsam voran. Dies zeige sich etwa bei den Fällen von Castillos Bruder, Jaime, und von Giraldos Sohn, Diego Marín. Bisher gibt es kaum Ergebnisse.

Die JEP hat sechs Regionen für die Ermittlungen der Falsos Positivos ausgewählt. Castillo beklagt, dass bei den Prozessen in den jeweiligen Regionen nur eine zweistellige Zahl der Militärs Geständnisse machten. "Was wird mit dem Rest passieren?", fragt sie und verweist darauf, dass sich wegen der Falsos Positivos mehr als 3.000 Militärs der JEP gestellt haben.

"Das Leben wird uns nicht reichen", um alle vor Gericht zu stellen, sagt Castillo. "Ich würde sagen, wir müssen weiter über Straflosigkeit sprechen." Die JEP arbeitet seit fünf Jahren und kann noch weitere zehn Jahre tätig sein. Bisher wurden 59 Militärs als Hauptverantwortliche für die Falsos Positivos angeklagt.

In Kolumbien dauere es mehr als ein Jahr, um eine einzige lange verscharrte Leiche zu identifizieren, "und wir wissen, dass es noch tausende [nicht identifizierte] Leichen von Jugendlichen gibt, die Opfer von außergerichtlichen Hinrichtungen wurden", sagt Castillo. "Wir müssen in diesem Prozess vorankommen".

Ein weiterer Kritikpunkt der Mafapo an der JEP ist, dass sie kaum neue Verantwortliche der Falsos Positivos aufdeckt, die nicht bereits von der normalen Justiz verurteilt wurden. "Das macht uns ein bisschen traurig", sagt Castillo. "Nur weil sie sich der JEP gestellt haben, wurden sie freigelassen, keiner von ihnen sitzt im Gefängnis und die Ermittlungen der JEP haben die gleichen Ergebnisse gebracht wie die der Staatsanwaltschaft."

Der derzeit ranghöchste Angeklagte ist der pensionierte General Mario Montoya. Die JEP hat ihn als Hauptverantwortlichen für 130 Falsos Positivos angeklagt. Er soll "Ströme von Blut" von seinen Untergebenen gefordert haben, um die Toten als militärische Erfolge zu deklarieren. Zwar war er nicht von der regulären Justiz verurteilt worden, doch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft standen 2018 kurz vor der Anklageerhebung.

Montoya wies die Vorwürfe der JEP zurück. Sollte der General den Prozess vor der JEP verlieren, drohen ihm maximal 20 Jahre Haft. In einem normalen Gerichtsverfahren würde er eine wesentlich höhere Haftstrafe erhalten.

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Flyer zu den Mafapo-Veranstaltungen in Deutschland
Flyer zu den Mafapo-Veranstaltungen in Deutschland

Castillo und Giraldo kritisierten auch, dass die JEP keine vollständigen Geständnisse fördere. Sie sind zum Beispiel unzufrieden mit der Anhörung in Ocaña, in der Region Catatumbo, wo die Leichen der Kinder und Brüder der Mafapo-Frauen gefunden wurden. "Wir sehen nicht, dass sie die ganze Wahrheit gesagt haben", klagt Giraldo. "Sie haben nur das gesagt, was ihnen in den Kram passte."

Die elf Militäroffiziere, die von der JEP als Hauptverantwortliche im Fall Catatumbo angeklagt wurden, "sind für uns nicht die Hauptverantwortlichen", sagt Castillo. "Wir müssen an die hochrangigen Befehlshaber herankommen. Sie sind die wahren Verantwortlichen."

Aber zum einen gibt die große Mehrheit der Militärs keine Informationen über die Verwicklung ihrer Vorgesetzten preis. Zum anderen akzeptieren die hochrangigen Militärs, die sich der JEP stellen, nur die Anklage wegen Unterlassung, aber nie wegen Täterschaft. "Keiner von ihnen hat gesagt: 'Ich habe den Befehl gegeben. Ich war es, der diese Menschen umbringen ließ'", klagt Castillo.

Eineinhalb Jahre nach der Ocaña-Verhandlung "wissen wir immer noch nicht, welche Strafen diese Hauptverantwortlichen erhalten".

Unter der progressiven Regierung von Gustavo Petro fühlen sich die Mafapo-Frauen besser unterstützt als unter den Vorgängerregierungen von Juan Manuel Santos (2010-2018) und Iván Duque (2018-2022). Petro habe versprochen, in Soacha, dem Vorort von Bogotá, wo die Ermordeten lebten, eine Gedenkstätte zu errichten.

Auch haben der Regierungschef, der Verteidigungsminister und der Armeekommandant Anfang Oktober in einer Zeremonie im Namen des Staates die Mütter und alle Angehörigen der Opfer der Falsos Positivos um Vergebung für die Staatsverbrechen gebeten.

Von Deutschland erwarten die Sprecherinnen von Mafapo Beistand. Da die Bundesregierung die JEP als Teil des Friedensabkommens 2016 unterstützt, solle sie sicherstellen, dass sie echte Fortschritte und Ergebnisse erzielt, so Castillo.

Für Castillo und Giraldo als Opfer der Streitkräfte ist es auch wichtig zu wissen, was genau in dem Militärabkommen zwischen Deutschland und Kolumbien steht. Weder hochrangige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes noch die SPD-Bundestagsabgeordnete Heike Engelhardt, die sie trafen, gaben ihnen Auskunft. "Die wissen nicht, was drin steht", sei die Antwort gewesen.

In Kolumbien kämpfen die Frauen von Mafapo nicht nur für die juristische Wahrheit. Sie leisten Aufklärungsarbeit in Schulen und Universitäten über die Verbrechen der Falsos Positivos. Sie setzen sich dafür ein, dass der Abschlussbericht der Wahrheitskommission über die strukturelle Gewalt in Kolumbien zu Unterrichtsmaterial an Schulen wird. So sollen Staatsverbrechen wie die Falsos Positivos "nicht in Vergessenheit geraten, damit sie sich niemals wiederholen", so Castillo.