Regierung in Brasilien bringt Steuerreform mit Stimmen der Opposition auf den Weg

Fraktionsführer:innen der Parteien von Mitte-rechts bis gemäßigt links einigten sich mit Regierung auf eine gemeinsame Linie

brasilien_steuerreform_7-23.jpg

Die große Mehrheit für die Regierungsvorlage sorgte im Mitte-Links-Lager für Euphorie
Die große Mehrheit für die Regierungsvorlage sorgte im Mitte-Links-Lager für Euphorie

Brasília. Das brasilianische Abgeordnetenhaus hat mit großer Mehrheit den Entwurf einer Steuer- und Abgabenreform verabschiedet, die die Regeln vereinfachen und untere Einkommensschichten entlasten soll. Die von der Regierung eingebrachte Vorlage PEC 45/2019 wurde mit 382 Stimmen bei 118 Gegenstimmen und vier Enthaltungen angenommen.

Bereits im Vorfeld hatten sich die Fraktionsführer:innen der meisten Parteien, von Mitte-rechts bis gemäßigt links, mit Regierungsvertreter:innen auf eine gemeinsame Linie geeinigt. Einzig die stärkste Partei im Parlament, die rechtskonservative Partido Liberal (PL) des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro, empfahl ihren 99 Abgeordneten vor allem auf Betreiben von Bolsonaro eine Ablehnung. 20 PL-Abgeordnete votierten trotzdem für die Vorlage, vier enthielten sich.

Die Grundlinien der Reform: Zum einen werden drei bisher zur Finanzierung von Industrie- und Sozialprogrammen erhobenen nationale Steuern zu einem einheitlichen "Beitrag zu Gütern und Dienstleistungen" (CBS) zusammengefasst. Zum anderen soll eine neue nationale Steuer für Güter und Dienstleistungen (IBS) die bisher von den Bundesstaaten erhobene "Zirkulationssteuer" auf Waren und Dienstleistungen wie auch die kommunale "Dienstleistungssteuer" ersetzen. Zur Verteilung der neuen IBS zwischen Bund, Ländern und Kommunen wird ein "Föderativer Rat" geschaffen, bestehend aus 27 Ländervertreter:innen – ein Mitglied pro Bundesstaat – und 27 Vertreter:innen der rund 5.600 Kommunen.

Der Entwurf war mehrfach überarbeitet worden, um die Anliegen unterschiedlichster Gruppen aufzunehmen. Allseits begrüßt wurde die neue, um 60 Prozent ermäßigte Mehrwertsteuer für verschiedene Dienstleistungen und Produkte. Diese soll neben Bildungs- und Gesundheitsleistungen auch für Mobilität, Lebensmittel, land- und forstwirtschaftliche wie Fischereiprodukte sowie journalistische, audiovisuelle und künstlerisch-kulturelle Erzeugnisse gelten.

Von der Mehrwertsteuer befreit werden Dienstleistungen im Hotel-, Gastronomie und Vergnügungsbereich, aber auch regionaler Flugverkehr, Treibstoffproduktion und Teile der Finanzwirtschaft. Auf Druck der evangelikalen Abgeordneten gilt die Befreiung nun auch für religiöse Gemeinschaften und verbundene Organisationen. Zugleich sollen die Steuererleichterungen für die Automobilproduktion abgeschafft werden. Eine neue, in der Höhe noch nicht geklärte "Sondersteuer" soll Produkte und Dienstleistungen verteuern, die wie Tabak oder Alkohol der Gesundheit schaden. 

Die große Mehrheit für die Regierungsvorlage sorgte im Mitte-links-Lager für Euphorie, zumal die Opposition fragmentiert und innerhalb des PL die Anhänger:innen von Bolsonaro geschwächt wurden, die vor allem gegen das Projekt waren.

Laut der Abgeordneten und ehemaligen Bildungsaktivistin Tabata Amaral (PSB-SP) habe das Parlament "den Verletzlichsten der Gesellschaft eine Stimme gegeben". Renildo Calheiros (PCdoB-PE) sprach von einem "historischen Moment", auch wenn im Entwurf nicht alle gewünschten Änderungen enthalten seien. Diesmal hatten die Gewerkschaften, aber auch der Industrieverband des Bundesstaats São Paulo (FIESP), traditioneller Verfechter des Wirtschaftsliberalismus, Einverständnis bekundet.

Über den Tellerrand schauen?

Mit Ihrer Spende können wir Ihnen täglich das Geschehen in Lateinamerika näher bringen.

Hintergrund ist ein Steuermodell, das nicht nur nach Meinung linker Ökonom:innen die Ärmeren durch "versteckte" indirekte Abgaben in Verbraucherpreisen noch ärmer macht. Nach Dão Real, Vizepräsident des Instituts für Steuergerechtigkeit (IJF), geben einkommensschwache Familien alles oder einen Großteil ihres verfügbaren Einkommens für elementare Bedürfnisbefriedigung aus. Angesichts der ungleichen Einkommensverteilung belasten die für alle gleichen Konsum- und Verbrauchssteuern die ärmeren Schichten mehr als die reicheren, die oft nur 10-15 Prozent ihres Einkommens für den Primärkonsum ausgeben.

Gemäß IJF-Berechnungen werden 60 Prozent der gesamten Steuereinnahmen Brasiliens durch Konsum- und Verbrauchersteuern erbracht, aber nur 20 Prozent durch die Einkommenssteuer und gerade einmal 4 Prozent durch Besteuerung von Immobilien- oder Kapitalbesitz bzw. -einkommen. Mit der geringen Besteuerung der für die Reichen vorherrschenden Einkommensarten wird die ökonomische Ungleichheit verstärkt.

Nach Dão Real hat die Steuerungerechtigkeit im Land Geschichte. 1989, im zweiten Jahr der demokratischen Verfassung, wurde der Einkommenssteuerhöchstsatz von 45 auf 25 Prozent reduziert. Heute sind es 27,5 Prozent in vier Steuerstufen. Aktiengewinne und Dividendenausschüttung werden nicht oder nur gering besteuert, womit den Reichen die Verantwortung für die Staatsfinanzierung erlassen werde.

Diese Steuerlogik steht einer "progressive Steuerlast" diametral entgegen, in der hohe Einkommen oder Kapitalerträge stärker als niedrige Einkommen besteuert werden. Nur wenn der Anteil der Konsum- und Verbrauchssteuern am gesamten Steueraufkommen gesenkt werde, könnten die ärmeren Schichten steuerlich entlastet werden. Die je nach ihrer Höhe unterschiedliche Besteuerung von Einkommen sollte daher in einer zweiten Etappe der Reform angegangen werden, so Dão Real.

Faktisch sind in dem Gesetzesentwurf viele Details noch ungeklärt. Die offenen Fragen müssen in den Beratungen im Senat beantwortet werden, der die Vorlage wegen ihres verfassungsändernden Charakters zweimal bestätigen muss. Dort haben die Führer:innen der Mitte-rechts-Parteien bereits grundsätzliche Billigung signalisiert, zugleich müsse mit "Vorsicht und Verantwortung" gehandelt werden.

Nach Meinung von Senatspräsident Rodrigo Pacheco wird die Prüfung noch einige Monate dauern, womit der Gesetzesentwurf gegen Ende des zweiten Halbjahres im Plenum debattiert werde.