Valparaíso. Die Abgeordnetenkammer des chilenischen Parlaments hat das Gesetzesprojekt für eine Steuerreform abgelehnt. Die Regierung benötigte 74 Stimmen, um die erste legislative Hürde zu nehmen, erhielt aber nur 73 Stimmen, bei 71 Ablehnungen und drei Enthaltungen.
Die vorgelegte Reform war Kernstück des Regierungsprogramms. Es sieht vor, durch Besteuerung von Privat- und Unternehmensgewinnen Gelder zur Finanzierung für dringende Sozialprogramme zu bekommen.
Im Wahlkampf und nach seiner Wahl zum Präsidenten hatte Gabriel Boric immer wieder betont, dass es notwendig sei, die hohen und Höchsteinkommen mehr zu besteuern. Wer mehr Einkommen habe, müsse auch mehr bezahlen, so Boric. Chile liegt am unteren Ende aller OECD Staaten, was die Körperschaftssteuer angeht.
Neben mehr Steuergerechtigkeit sollen etwa 3,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, entsprechend zehn Milliarden US-Dollar, zur Finanzierung von Sozialprogrammen eingetrieben werden. Die Verwendung des Geldes war klar umrissen und beinhaltete strukturelle Verbesserungen sowie die Anhebung von Transferleistungen. Im Gesundheitsbereich soll die während der Pandemie stetig gewachsene Warteliste für chirurgische Eingriffe verkürzt sowie der staatliche Pro-Kopf-Zuschuss für Patienten der Primärversorgung angehoben werden. Weiterhin sollte der soziale Wohnungsbau verstärkt und der Familienzuschuss, eine Art Sozialhilfe für drei Millionen Menschen sowie die staatliche Mindestrente auf 250.000 Pesos (etwa 290 Euro) angehoben werden. Für bedürftige Familien sollte der Zugang zu Kindertagesstätten verbessert werden.
Im Vorfeld wurden 90 Änderungsvorschläge, vor allem aus Kreisen der konservativen Opposition sowie von gesellschaftlichen Organisationen und Unternehmerverbänden, in den ursprünglichen Vorschlag eingearbeitet. Die pauschale Ablehnung der konservativen Opposition mit der Begründung, "die Regierung wollte nicht zuhören", kontert die Regierung daher: "Die Ideologie hat über den Pragmatismus gesiegt. Es feiern die Steuerhinterzieher und ihre Berater."
Die Gesetzesvorlage beinhaltete auch Maßnahmen, um Steuerbetrug und Steuerhinterziehung ‒ nach einer Studie von 2022 in der Größenordnung von 4,6 Prozent des BIP ‒ einzudämmen.
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Ausschlaggebend für die Niederlage bei der Abstimmung war die Abwesenheit zweier Abgeordneter der Humanistischen Partei sowie von Viviana Delgado von der Partei der Grünen. Letztere hatte kurz zuvor eine Meinungsverschiedenheit mit dem Bildungsminister, worauf sie jeden Kontakt mit Regierungsvertretern abbrach und damit die Reaktion der beiden anderen Abgeordneten auslöste.
Beide Parteien gehören weder dem Regierungsbündnis noch der Opposition an, hatten aber immer wieder versichert, die Regierungspolitik zu tolerieren. Mit ihren Stimmen wäre die Gesetzesvorlage ins Parlament gekommen, wo in der Regel, Artikel für Artikel, solange debattiert wird, bis schließlich die Mehrheit einen gangbaren Kompromiss verabschiedet.
Gemäß der Rechtslage kann weder das Gesetz als ganzes noch eines seiner Teile während eines Jahres als Gesetzesvorlage eingereicht werden. Finanzminister Mario Marcel hat indes Alternativen zur Finanzierung der Reformvorhaben angekündigt, Einzelheiten liegen aber noch nicht vor.
Lautaro Carmona, Abgeordneter und Generalsekretär der Kommunistischen Partei, die Teil des Regierungsbündnisses ist, hat unterdessen vor möglichen Konflikten gewarnt, wenn die sozialen Probleme nicht angegangen würden. Er kritisierte die rechten Parteien, dass sie, gestützt auf die administrativen Mechanismen der Funktionsweise des Kongresses, bereits die Eröffnung der Debatte über das Gesetzesvorhaben verhinderten. Damit hätten sie signalisiert, dass es keine Dringlichkeit gebe, die Themen überhaupt zu besprechen, um die es mit der Reform gehe.
Die Regierung werde ihre Reformpläne nicht aufgeben, betonte Carmona. Seiner Meinung nach würden die Wirtschaftsakteure schließlich verstehen, dass eine Steuerreform dringend notwendig sei, um den Ausbau der sozialen Rechte zu finanzieren, sagte er im Interview mit Radio Cooperativa. Schließlich stünden ihnen Arbeiter gegenüber, "die von miserablen Löhnen leben". Aus sozialer Sicht würde ein Dampfkessel entstehen, wenn die Probleme nicht angegangen würden, so Carmona.