Friedensprozess in Kolumbien: "Es gibt eine Zukunft, wenn es Wahrheit gibt"

Wahrheitskommission beendet ihre Arbeit mit Abschlussbericht. Neugewählter Präsident Gustavo Petro verpflichtet sich der Umsetzung der Empfehlungen

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Francisco De Roux, Präsident der Kommission, bei der Auftaktveranstaltung am Dienstag
Francisco De Roux, Präsident der Kommission, bei der Auftaktveranstaltung am Dienstag

Bogotá. Die von der Regierung eingesetzte Wahrheitskommission hat die bisher umfassendste Untersuchung des internen bewaffneten Konflikts in Kolumbien veröffentlicht, der sich von 1958 bis 2016 erstreckte.

Die Kommission wurde nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens im November 2016 zwischen der kolumbianischen Regierung und der größten Rebellengruppe des Landes, den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc-EP), eingerichtet. Der Bericht beruht auf Aussagen von 28.562 Personen, 14.928 individuellen und kollektiven Interviews sowie 1.203 Berichten von Nichtregierungsorganisationen, öffentlichen und privaten Unternehmen und Opferorganisationen.

"Der Abschlussbericht der Wahrheitskommission enthält einen wichtigen Teil der Wahrheit, um von einer traumatischen Vergangenheit in eine zivilisierte Zukunft zu gelangen, in der Differenzen demokratisch gelöst und die Faktoren der Ungleichheit, Korruption und Unmenschlichkeit überwunden werden", heißt es in der Einleitung des Berichts. Die Zahl der Toten in Folge des Konflikts wird auf 450.000 Menschen geschätzt, fast doppelt so viele wie bisher angenommen.

Der finale Bericht wird aus zehn Kapiteln bestehen. Zwei dieser Kapitel wurden schon am Dienstag veröffentlicht, darunter eine 896 Seiten lange Zusammenfassung der Ergebnisse und Empfehlungen für die Zukunft.

Die Zusammenfassung liefert einen detaillierten Überblick über das Leid, das paramilitärische Gruppen, die Farc und andere Rebellengruppen sowie staatliche Sicherheitskräfte der Zivilbevölkerung zugefügt haben. Sie dokumentiert Massaker, gewaltsames Verschwindenlassen, außergerichtliche Tötungen, Entführungen, Erpressung, Folter, sexuelle Übergriffe, die Rekrutierung von Kindern und andere Menschenrechtsverletzungen.

Zu den Empfehlungen der Kommission für die Polizei und das Militär gehören eine verstärkte Aufsicht und Rechenschaftspflicht, eine Umstrukturierung der staatlichen Sicherheitskräfte, bei der die Nationalpolizei aus dem Verteidigungsministerium herausgelöst wird, und die Abschaffung von wirtschaftlichen Kooperationen zwischen dem Militär und privaten Einrichtungen. Bei dieser Art von Zusammenarbeit beauftragen Konzerne wie zum Beispiel Ölfirmen Militärs für ihren Schutz. Außerdem sollen die Fälle von beschuldigten Angehörigen des Militärs von der Militärjustiz auf die Ziviljustiz verlagert werden.

Der Bericht könnte auch dazu beitragen, die künftigen Beziehungen Kolumbiens zu den USA zu gestalten. Zu den Themen, die in dem Bericht untersucht werden, gehört die Rolle der US-Regierung, die jahrzehntelang das kolumbianische Militär im Kampf gegen die Farc-EP und die Drogenwirtschaft finanziert und ausgebildet hat.

Der Wahrheitsbericht stützt sich auch auf Tausende von freigegebenen Dokumenten, die vom US-amerikanischen National Security Archive gesammelt und zusammengestellt wurden. Letztere ist eine in Washington ansässige Nichtregierungsorganisation, die sich auf die Unterstützung von Wahrheitskommissionen spezialisiert hat.

Die Dokumente verdeutlichen, dass die einschlägigen US-Regierungsstellen seit Jahrzehnten von den mutmaßlichen Verbrechen des kolumbianischen Militärs wussten. "Und dennoch wuchs die Beziehung weiter", so Michael Evans, Leiter des Kolumbien-Projekts des Archivs.

So stellte beispielsweise ein Bericht von 1988 fest, dass eine Welle von Morden an "mutmaßlichen Linken und Kommunisten" das Ergebnis einer "gemeinsamen Anstrengung" zwischen dem Geheimdienstchef der Vierten Brigade der kolumbianischen Armee und Mitgliedern des Drogenkartells von Medellín war.

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Débora Barros vom indigenen Volk der Wayuu als eine der vielen Repräsentant:innen von Opferverbänden
Débora Barros vom indigenen Volk der Wayuu als eine der vielen Repräsentant:innen von Opferverbänden

Ein weiteres Dokument aus dem Jahr 2003 weist auf eines der schlimmsten Kapitel des Krieges hin, den sogenannten "Falsos Positivos"-Skandal. Das kolumbianische Militär tötete während der Präsidentschaft von Álvaro Uribe Tausende von Zivilisten. Indem die Opfer als getötete Guerillakämpfer ausgegeben wurden, sollten "Erfolge" vorgezeigt werden, die von der Regierung mit Prämien wie beispielsweise Sonderurlaub belohnt wurden. In den vergangenen Wochen haben beteiligte Soldaten, Kommandeure und Opfer im Rahmen eines Teilverfahrens vor der Sonderjustiz ausgesagt (amerika21 berichtete).

Eine Nachricht des obersten Pentagon-Vertreters für Spezialoperationen an den damaligen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vom Juli 2003 feierte einen signifikanten Anstieg von getöteten Kämpfern seit dem Amtsantritt von Uribe: 543 Tote in nur sechs Monaten, verglichen mit 780 in den letzten zwei Jahren der vorherigen Regierung.

Die historische Untersuchung, die aussagt, dass der Staat einer der "Hauptverantwortlichen für systematische Morde" im Land ist, wurde inmitten des Übergangs von Präsident Iván Duque zu seinem gewählten Nachfolger Gustavo Petro veröffentlicht. Sie sei "der Einstieg in ein Gespräch ohne Angst über die Nation, die wir sind", sagte der Präsident der Kommission, Francisco De Roux, bei der Auftaktveranstaltung am Dienstag.

Symbolisch war die Abwesenheit des scheidenden Präsidenten Iván Duque aufgrund "internationaler Verpflichtungen" und seine Äußerung, dass dieser Bericht hoffentlich kein "Post-Wahrheits-Bericht" sei.

Im Gegensatz dazu nahm nicht nur der gewählte Präsident Gustavo Petro, sondern auch die Vizepräsidentin Francia Márquez an der Zeremonie teil. Petro bekräftigte, dass seine Regierung die Beiträge der Wahrheitskommission akzeptieren werde. "Diese Empfehlungen werden in die Geschichte Kolumbiens eingehen", sagte er in seiner Rede und richtete auch einen dringenden Appell an das Land: "Wir müssen den Kreislauf der Rache durchbrechen, der uns immer wieder zur Gewalt führt".

Er betonte, dass die Wahrheit nur einen Sinn habe, nämlich Dialog, Einigung, Koexistenz und Versöhnung. "Wir müssen die Räume der Wahrheit in Räume der Versöhnung verwandeln".