Protest in Brasilien, Kritik an Absetzung von Rousseff in Lateinamerika

Institutioneller Putsch sorgt für Widerspruch in der Region. De-facto-Präsident Temer kündigt Massenentlassungen an und schafft Ministerien ab

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Demonstration am Donnerstagabend in São Paulo gegen De-facto-Präsident Temer
Demonstration am Donnerstagabend in São Paulo gegen De-facto-Präsident Temer

Brasília. Während in Brasilien bereits Massendemonstrationen gegen De-facto-Präsident Michel Temer stattfinden, haben sich auch erste Regierungen der Region und die Union südamerikanischer Nationen (Unasur) gegen den "parlamtarisch-juristischen Putsch" geäußert.

Am Donnerstag hatte der brasilianische Senat ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff beschlossen und sie zunächst für 180 Tage suspendiert. Vizepräsident Temer übernimmt die Führung des Landes. Der Oberste Gerichtshof muss nun prüfen, ob ausreichend Beweise für ein strafbares Handeln Rousseffs vorliegen oder nicht. Für die endgültige Absetzung der Präsidentin ist dann eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Senat erforderlich.

Mit der Senatsentscheidung vom Donnerstag sei "ein grundlegender Schritt für die putschistischen Ziele" getan worden, heißt es in einer Stellungnahme der kubanischen Regierung. Die Oligarchie Brasiliens, "unterstützt von der reaktionären Presse und dem Imperialismus" wolle das politische Projekt der Arbeiterpartei rückgängig machen, die legitime Regierung stürzen und die Macht an sich reißen, die sie mit Wählerstimmen nicht gewinnen konnte. Dies sei "Teil der reaktionären Gegenoffensive des Imperialismus und der Oligarchie gegen revolutionäre und fortschrittliche Regierungen in Lateinamerika, die den Frieden und die Stabilität der Nationen gefährdet". Präsident Raúl Castro wird mit den Worten zitiert: "Die Geschichte zeigt, dass wenn die Rechte an die Regierung kommt, sie nicht zögert, die Sozialpolitiken abzubauen, die Reichen zu begünstigen, den Neoliberalismus wieder einzuführen und grausame Schocktherapien gegen die Arbeiter, Frauen und Jugendlichen anzuwenden."

Ähnlich äußerte sich Venezuelas Präsident Nicolás Maduro. Die Aggression gegen die brasilianische Regierung richte sich gegen alle fortschrittlichen Prozesse in der Region und die Integrationsbündnisse wie Unasur und Celac. Auch die Regierung von Ecuador bekräftigte ihre Unterstützung "des Volkes und der gewählten Präsidentin Brasiliens". Gegen Rousseff liege bislang keine einzige Beschuldigung wegen einer Straftat vor. Man hoffe, dass die aktuelle Situation "bald im Rahmen des Rechtsstaates und unter strikter Respektierung der demokratischen Institutionalität" überwunden werde. Boliviens Präsident Evo Morales meldete sich über Twitter zu Wort: "Wir, die einfachen Völker, verurteilen das Attentat auf die Demokratie und die ökonomische Stabilität Brasiliens und der Region".

Unasur-Generalsekretär Ernesto Samper wies den politischen Prozess gegen Rousseff im Namen des Regionalbündnisses zurück. Was in Brasilien vor sich gehe, sei eine Verschwörung gegen die Demokratie, sagte er bei einer Pressekonferenz am Donnerstag. Die Unasur werde die weiteren Vorgänge "eng verfolgen".

Dagegen begrüßten Wirtschaftsvertreter die Machtübernahme Temers und seines neoliberalen Kabinetts. Argentiniens Unternehmen bereiteten sich auf Veränderungen bei ihrem größten Handelspartner vor, berichtet das Portal iProfesional. Gustavo Segré, Analyst und Chef der Consultingfirma Center Group, erklärte, "das Ende der Ära Dilma" werde nicht im Senat entschieden sondern hänge davon ab, ob Temer mit seinen ersten Wirtschaftsmaßnahmen vorankomme: "Der Schlüssel der politischen Zukunft Brasiliens liegt ausschließlich in der Ökonomie. Temer muss das Vertrauen der Unternehmerschaft in diesen 180 Tagen wiederherstellen. Gelingt ihm das, beginnt damit das tatsächliche Ende der Präsidentschaft Rousseffs", betonte er.

Eine der ersten Amtshandlungen Temers bestand darin, das Regierungskabinett von 32 auf 22 Posten zu stutzen und die Entlassung von 4.000 Staatsbediensteten vorzubereiten. Mehrere Ministerien wurden abgeschafft, andere fusioniert. So löste Temer das bisherige Kultusministerium auf und gliederte es als Unterressort in das Bildungsministerium ein. "Wegen der massiven Gegenwehr von Intellektuellen und Künstlern gegen den institutionellen Putsch ist das keine Überraschung", schrieb die argentinische Tageszeitung Pagina12, deren Autor Eric Nepomuceno die Veränderungen auflistet. Die Staatssekretariate für Menschenrechte, ethnische Gleichheit und Frauen wurden aufgelöst. Diese Themen sollen fortan vom Ministerium für Justiz behandelt werden (das bis dato Ministerium für Justiz und Bürgerfragen hieß). Página12 weist darauf hin, dass der neue Justizminister, Alexandre de Moraes, bislang Anwalt des gerade wegen mutmaßlicher Korruption vom Obersten Gerichtshof abgesetzten Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha, war. Cunha ist einer der Hintermänner des institutionellen Putsches gegen Rousseff. De Moraes war bis Mitte dieser Woche zudem Beauftragter für öffentliche Sicherheit in São Paulo. "Dort war er dafür bekannt, jede Demonstration von Studierenden von der Polizei mit Kriegswaffen auflösen zu lassen", so Nepomuceno.

Eine ähnliche Haltung nimmt demnach der neue Minister für Nationale Sicherheit, General Sergio Westphalen Etchegoyen, ein. Als die brasilianische Wahrheitskommission ihren Abschlussbericht vorstellte und zahlreiche Staatsverbrechen während der Militärdiktatur (1964-1985) anprangerte, bezeichnete Etchegoyen das Dokument als "verantwortungslos". Ein möglicher Grund: Sein Vater, Leo Etchegoyen, ebenfalls ein General, taucht in dem Bericht auf Basis mehrerer Zeugenaussagen als Vergewaltiger und Folterer auf.

Der neue brasilianische Arbeitsminister Ronaldo Nogueira de Oliveira, ist Prediger einer evangelikalen Sekte. Als Abgeordneter hatte er einen Gesetzentwurf eingebracht, nach dem Hausangestellten während des gesetzlich garantierten Urlaubs die Tage in Rechnung gestellt werden sollten, die sie normalerweise hätten arbeiten müssen.

Bei der Verteilung der Kabinettssitze unter den neuen Regierungsparteien entfallen auf die Gruppierung von Temer, die rechtsgerichtete PMDB, sechs Minister, diese Zahl hatten sie auch unter Rousseff inne. Die nur ihrem Namen nach sozialdemokratische PSDB, die aus den letzten vier Präsidentschaftswahlkämpfen als Verliererin hervorgegangen war, kann auf einmal drei Minister entsenden. Die rechte DEM wird das Bildungsressort übernehmen. Sie entsendet einen Hinterbänkler namens Mendonça Filho, der im Laufe seiner Karriere allerdings nie mit kultur- oder bildungspolitischen Inhalten in Erscheinung getreten ist.

Die neuen Minister und der De-facto-Präsident haben indes mehrere Gemeinsamkeiten: Alle sind Männer, weiß und sehr reich. Unter ihnen befindet sich auch der Multimillionär Blairo Maggi, einer der größten Sojaanbauer der Welt. Er übernimmt das Agrarministerium. Eine weitere Charakteristik besteht darin, dass die Justiz gegen ein Drittel der Regierungsfunktionäre wegen Korruption ermittelt. Unter ihnen findet sich auch der Name des designierten Planungsministers Romero Jucá, der für einen Großteil der Investitionen und Privat-öffentliche Partnerschaften verantwortlich sein wird.

Die argentinische Zeitung weist auf eine andere interessante Parallele hin: Als die Putschisten 1964 ihr Regime errichteten, sprachen sie von einer "Regierung der nationalen Erneuerung". Seit dem gestrigen Donnerstag nun hat Brasilien eine "Regierung der nationalen Rettung". Am Ende, schreibt Página12, scheine nur eines sicher: "Vor dem Gericht der Geschichte wird sich keine dieser beiden Führungen retten können."

Unter dem Motto "Temer – niemals!" haben soziale Bewegungen für den heutigen Freitagabend erneut zu Demonstrationen aufgerufen. Sie fordern die sofortige Wiedereinsetzung der rechtmäßig gewählten Präsidentin.

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