"Gesetz der Hoffnung": Amnestiekampagne für die Gefangenen aus der sozialen Revolte in Chile

Aktivist:innen und Parlamentarier:innen kämpfen für ein Amnestiegesetz für die Gefangenen aus der Protestwelle

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Demonstration für die Freiheit politischer Gefangener
Demonstration am 4. November für die Freiheit der politischen Gefangenen und die Wiedereinführung des Besuchsrechts, das aufgrund der Pandemie ausgesetzt wurde

“Die Polizei kommt häufig um vier oder fünf Uhr Morgens und kontrolliert, ob mein Sohn zu Hause ist”, erzählt Verónica Urrutia. "Es geht ihm sehr schlecht, der Stress, die Ungewissheit und Isolation machen ihm sehr zu schaffen". Ihr Sohn wurde im Zuge der Protestwelle vom 18. Oktober 2019 festgenommen, saß mehrere Monate in Untersuchungshaft und ist seit Juni 2020 im Hausarrest. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm das Werfen von Molotowcocktails vor. Bislang ohne handfeste Beweise. Menschenrechtsorganisationen sprechen deshalb von politischer Haft aufgrund der Teilnahme an einer Demonstration.

Rund 3.000, meist Jugendlichen, ergeht es derzeit gleich. Um die 300 sitzen bis heute in Untersuchungshaft. Die meisten haben keinerlei Vorstrafen, weshalb die harten Maßnahmen, von U-Haft bis Hausarrest, übertrieben wirken. Aus diesem Grund schlagen nun linke Parlamentarier:innen, Kulturschaffende und Aktivist:innen ein Amnestiegesetz für Festgenommene im Zuge der sozialen Revolte vor.

"Die, die heute in Haft sitzen, sind Menschen, die ein Drehkreuz in der Metro übersprungen haben und somit einen wichtigen Prozess des sozialen Wandels angestoßen haben", sagte die kommunistische Abgeordnete Camila Vallejo gegenüber Radio Universidad de Chile. "Wir dürfen nicht hinnehmen, dass jene sozialen Kämpfer als Verbrecher behandelt werden". Vallejo ist Teil der Gruppe aus Parlamentarier:innen, die das entsprechende Gesetz vorgeschlagen haben. Neben der Kommunistischen Partei unterstützen einzelne Abgeordnete aus der Frente Amplio, der Partei País und der Sozialistischen Partei die Initiative.

Urrutia ist Sprecherin der Familienangehörigen der politischen Gefangenen im größten Gefängnis von Santiago und ebenfalls Teil der Initiative. Sie erzählt voller Hoffnung, dass sich zwei Kommissionen gebildet haben: Eine, die den Gesetzestext ausarbeitet und im Parlament voranbringen will und eine andere, vorwiegend aus sozialen Organisationen und Kulturschaffenden, die die Situation der politischen Gefangenen an die breite Öffentlichkeit tragen soll. "Wir haben viele wichtige Persönlichkeiten dabei, wie etwa die Musikgruppe Inti Illimani. Es ist schön, eine so breite Solidarität zu erfahren".

Seitdem der Präsident Sebastían Pińera kurz nach Beginn der sozialen Proteste von einem "Kriegszustand" sprach, wird mit aller Härte gegen Protestierende vorgegangen. Neben den bekannten Fällen der Menschenrechtsverletzungen (amerika21 berichtete) gibt es eine große Anzahl Festgenommener, die meist beschuldigt werden, Molotowcocktails bei sich gehabt zu haben. Dies führt dazu, dass sie auf Basis des sehr harten Waffengesetz angeklagt werden. So werden lange U-Haften und spätere Haftstrafen ermöglicht. Diese müssen außerdem vollständig abgesessen werden. Eine vorzeitige Entlassung ist ausgeschlossen.

Daher wird neben dem Amnestiegesetz auch ein weiterer Gesetzesvorschlag gemacht, um das Waffengesetz so zu modifizieren, dass es nicht mehr möglich ist, aufgrund der Anschuldigung des Besitzes von Molotowcocktails eine so lange und harte U-Haft anzuordnen.

Bei bisherigen Verhandlungen gegen festgenommene Demonstrant:innen zeigte sich derweil ein stümperhaftes Verhalten der Polizei. Am 3. November sprach ein Gericht in der Hauptstadt Santiago einen Jugendlichen und seinen Onkel vom Vorwurf frei, eine Metrostation im Zuge der Protestwelle vom 18. Oktober angezündet zu haben. Die Polizei hätte die Beweise derart überarbeitet, dass eine Zuweisung der Taten unmöglich sei, hieß es von Seiten des Gerichts. Für beide Beschuldigten hatte die Staatsanwaltschaft Haftstrafen zwischen zehn und 20 Jahren gefordert. Sie saßen seit November 2019 in Untersuchungshaft.

Seitdem es seit September wieder vermehrt zu Demonstrationen kommt, wird auch wieder von harter Repression und Menschenrechtsverletzungen berichtet. So auch vergangenen Freitag, als im Zentrum von Santiago für die Freilassung der politischen Gefangenen demonstriert wurde. Es kam zum Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern. Ein effektives Demonstrationsrecht um den sogenannten "Platz der Würde", dem Ausgangspunkt der Protestwelle, scheint bis heute unmöglich.

"Mittlerweile kommen neue Häftlinge ins Gefängnis“, erzählt Urrutia. Jede Demonstration, jede Barrikade die errichtet wird, bringt neue Gefangene. Bei diesen erhebt die Polizei und Staatsanwaltschaft weiterhin schwere Anschuldigungen, und es werden lange U-Haften angeordnet. Die Regierung Piñera behauptet bis heute, es gebe keine politischen Gefangenen in Chile.

Nachdem über lange Zeit auf politischer Ebene wenig für die Gefangenen des 18. Oktobers unternommen wurde, zeigt sich Urrutia erfreut, dass endlich Bewegung in die Thematik kommt.

Doch für die Annahme des Amnestiegesetz braucht es noch viele Schritte. In ersten Verhandlungen, zeigten sich Parlamentarier:innen der Christdemokratischen Partei äußerst verschlossen und forderten sofort Gegenleistungen. "Es braucht den Druck von der Strasse, sonst schaffen wir es nicht das Gesetz durchzubringen", schlussfolgert Urrutia entschlossen.