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Allendes Lektion

Editorial der chilenischen Zeitschrift Punto Final zum 40. Jahrestag des Putsches in Chile

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Salvador Allende vor seiner ersten Regierungsansprache im Kongress 1971
Salvador Allende vor seiner ersten Regierungsansprache im Kongress 1971

Präsident Salvador Allende Gossens hat der chilenischen Linken eine unvergessliche Lektion der Konsequenz und des persönlichen Mutes gegeben. Diese Lektion ist das moralische und politische Kapital für eine sozialistische und demokratische Linke in Chile, die auf der Basis von Bürgerbeteiligung, sozialer Gerechtigkeit und der Integration in die Gemeinschaft der Völker Lateinamerikas eine neue Gesellschaft zu erreichen versucht.

Allende, der vor 40 Jahren gestürzt und in den Selbstmord getrieben wurde, war der herausragendste lateinamerikanische Politiker seiner Zeit. Anders als der Peruaner Víctor Raúl Haya de la Torre (1895-1979), der Puertoricaner Luis Muñoz Marín (1898-1980), der Costaricaner José Figueres (1906-1990) oder der Venezolaner Rómulo Betancourt (1908-1981) – alles Protagonisten der lateinamerikanischen Sozialdemokratie jener Zeit – hat Salvador Allende niemals seine antiimperialistische Position und seinen treuen Glauben an die Ziele des demokratischen Sozialismus seiner Jugend verloren.

Nicht erst mit dem Opfer seines Lebens in (dem Präsidentenpalast) La Moneda hat Allende die Treue gegenüber seinen ethischen Prinzipien unter Beweis gestellt, die den Revolutionär von gewöhnlichen Politikern unterscheidet. Zeitlebens hatte er immer wieder eine moralische Gradlinigkeit bewiesen, die ihn dazu brachte, sich uneingeschränkt für seine Überzeugungen einzusetzen. Er verachtete den politischen Opportunismus, der die Politik gemeinhin bestimmt. Von dieser Haltung zeugt seine Solidarität und frühe Zuneigung zur Kubanischen Revolution. Kurz nach dem Sieg der Revolution war er noch im Januar 1959 nach Havanna gereist, wo er Fidel und Raúl Castro, Che Guevara und weitere Anführer dieser ersten sozialistischen Revolution Lateinamerikas kennenlernte.

Salvador Allende – dessen politischer Horizont vom Lateinamerikanismus geprägt war – reiste mehrmals auf die Insel und gewann den Respekt und die Freundschaft der jungen kubanischen Politiker. Aus gutem Grund schrieb Che Guevara in einer Widmung in seinem Buch "Der Guerillakrieg": "Für Salvador Allende, der auf anderem Weg das Gleiche anstrebt. In Zuneigung, Che".


1964 war Allende – inzwischen zum dritten Mal – Präsidentschaftskandidat. Dieses Mal finanzierten und unterstützten die USA die Kandidatur des Christdemokraten Eduardo Frei Montalva. Eine beeindruckende Terrorkampagne mithilfe aller zur Verfügung stehenden Medien führte zur Niederlage des sozialistischen Präsidentschaftsanwärters. Es war die Zeit der Reformen, die von Washington im Rahmen der Allianz für den Fortschritt vorangetrieben wurden, um den Einfluss der Kubanischen Revolution einzudämmen. In Chile wurde diese Strategie in der "Revolution in Freiheit" von Eduardo Frei und seiner Christdemokratie umgesetzt. Aber Allende schwächte seinen politischen Diskurs nicht ab, noch glich er ihn an die Vorgaben der Oligarchie und des (US-)Imperiums an. Im Januar 1966 nahm er an der Tricontinental-Konferenz teil, die in Havanna mehr als 600 Delegierte von antiimperialistischen Parteien und Bewegungen aus Afrika, Asien und Lateinamerika vereinte. Allende schlug dabei vor, eine Struktur zu schaffen, mit deren Hilfe die Freiheitskämpfe weiter koordiniert werden könnten. Das war der Ursprung der Lateinamerikanischen Solidaritätsorganisation (OLAS), die in Havanna im August 1967 gegründet wurde, erneut auch mit Beteiligung Allendes. Im April desselben Jahres hatte Kommandant Guevara einen Brief veröffentlicht, in dem er zur Schaffung "zwei, drei, vieler Vietnams" aufrief.

Dennoch wurde der Impuls des revolutionären Kampfes durch den Tod des Che in Bolivien im Oktober 1967 nachhaltig unterdrückt. Im Februar des kommenden Jahres kamen drei Kubaner und zwei Bolivianer, Überlebende der Guerilla des Che, nach Chile. Allende, zu dieser Zeit Senatspräsident und kurz vor seiner vierten Präsidentschaftskampagne, zögerte nicht, sich mit den Kampfgefährten des Che zu solidarisieren. Er intervenierte bei der Regierung Frei und er begleitete die Fünfergruppe ein stückweit auf ihrem Flug nach Kuba. All dies inmitten eines von der reaktionären Presse beförderten Skandals und Protesten der chilenischen Rechten.

Am 4. September 1970 schließlich gewann Allende mit knapper Mehrheit die Präsidentschaftswahl. Auf ihn entfielen 36,3 Prozent gegenüber 34,9 Prozent für den liberalen Unternehmer Jorge Alessandri, der schon einmal zwischen 1958 und 1964 das Präsidentenamt innehatte. 27,9 Prozent konnte der Christdemokrat Radomiro Tomic auf sich vereinen, der für einen "kommunitären Sozialismus" für Chile warb. Bei diesem Resultat oblag es dem Kongress, unter den beiden erstplatzierten einen Präsidenten zu bestimmen. Traditionell wurde freilich der Anwärter mit den meisten Stimmen gewählt. Aber die Proklamierung Allendes war keinesfalls gesichert. Die Verschwörung nahm ihren Lauf. Der Unternehmer Agustín Edwards, Besitzer der Zeitungsgruppe El Mercurio, reiste nach Washington. Dort erhielt er von US-Präsident Richard Nixon das Versprechen, alle notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um die Proklamation Allendes zum Präsidenten zu verhindern. Sollte er dennoch gewählt werden, werde man die chilenische Wirtschaft leiden lassen. In dieser Situation wurde im Oktober 1970 der General und Oberkommandierende der Armee, René Schneider, ermordet. Dieses Attentat wurde von einem rechtsextremen Kommando verübt, das die Waffen von der CIA erhalten hatte. Schneider hatte zuvor seinen Respekt für die Verfassung bekundet, um sich zugleich dafür auszusprechen, die Armee von der politischen Bühne fernzuhalten. Parallel dazu sprachen sich die chilenische Rechte und die US-Regierung hinter den Kulissen ab, damit Alessandri im Kongress gewählt wird. Die Idee war, dass er daraufhin zurücktritt und Frei als Kandidat der Rechten und der Christdemokraten wieder antreten kann. Der Plan misslang, aber der Christdemokratischen Partei gelang es, im Kongress ein "Statut demokratischer Garantien" durchzusetzen, das die Aktionsfähigkeit der Regierung der Unidad Popular einschränkte. Dessen ungeachtet – und unter vollständiger Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung – gelang es Präsident Allende, seine Regierung auf den Weg des Sozialismus zu bringen und viele der Reformen umzusetzen, die Chile benötigte. In seiner ersten Regierungserklärung vor dem Nationalkongress im Mai 1971 führte er die Ziele des "chilenischen Sozialismus" aus. Am 15. Juli 1971 wurde das historische Gesetz zur Nationalisierung des Kupfers im Kongress einstimmig verabschiedet. Die Agrarreform, die Nationalisierung des Bankenwesens und eine solide Sozialpolitik machten diese demokratische Volksregierung aus. Bei den Regionalwahlen 1971 nahm der Zuspruch zu und erreichte 49,73 Prozent. Doch rechte Gruppen, die faschistische Nationale Front Vaterland und Freiheit und das Kommando Rolando Matus der Nationalen Partei säten mit Unterstützung von Vertretern der Streitkräfte Gewalt durch Sabotage und Attentate. Eines der Opfer war Marinekommandant Arturo Araya, ein Adjutant des Präsidenten. Araya fiel dem Kommando Rolando Matus zum Opfer, die Täter wurden später von der Junta begnadigt. Zum Terrorismus kam die Unterversorgung mit Gütern, die Blockade der Transportarbeiter, der Streit der Arbeiter in der Kupfermine El Teniente, der US-Importboykott für chilenisches Kupfer, eine Kreditsperre und andere Mittel, die zur Verschärfung der politischen und sozialen Spannungen beitrugen. Die Christdemokratische Partei schloss sich mit der Nationalen Partei in der Konföderation der Demokratie (CODE) zusammen. Durch ihre neue Parlamentsmehrheit ersetzten sie Minister und andere hochrangige Funktionäre und warfen der Regierung vor, Verfassung und Gesetze zu verletzen. Die reaktionären Kräfte arbeiteten so darauf hin, sich bei den Parlamentswahlen im März 1973 eine Zwei-Drittel-Mehrheit zu sichern. Das hätte ihnen erlaubt, den Präsidenten abzuberufen. Doch obgleich die CODE mit 54,78 Prozent gegenüber 43,85 Prozent der Unidad Popular die Mehrheit erhielt, verpasste sie dieses angestrebte Resultat. Damit gab es grünes Licht für die Putschpläne. Am 29. Juni 1973 erhob sich das Panzerregiment Nummer 2 gegen die Regierung, es gab 20 Todesopfer. Der Aufstand zielte darauf ab, den Rücktritt des verfassungstreuen Generals Carlos Prats aus dem Generalstab zu erreichen. Von der Oligarchie und dem Imperialismus angefeuert, nahm der Verrat der Generäle und Admirale Fahrt auf, als sie dieses Ziel erreicht hatten. Der Putsch verhinderte die letzte Geste demokratischer Überzeugung von Präsident Allende, der just am 11. September eine Volksabstimmung anberaumen wollte, damit das Volk entscheide, ob seine Regierung an der Macht bleibe oder Neuwahlen organisiert werden.

Allende lies sich in der Ausübung seiner Pflichten als Präsident der Republik nie aufhalten, noch machte er aus seinen Überzeugungen als sozialer Kämpfer einen Hehl. Er wich seiner Verantwortung nicht aus, noch machte er von brutaler Gewalt Gebrauch. Seine letzten Stunden in (dem Präsidentenpalast) La Moneda, von der Armee belagert und von der Luftwaffe bombardiert, zeugen von dieser heroischen Haltung und lassen die moralische Niederträchtigkeit der militärischen und zivilen Verräter nur noch schäbiger erscheinen. Allende löste sein Versprechen ein, sein Leben zu opfern, wenn dies nötig sein würde, um die Loyalität des Volkes zu vergelten. Den sozialen Kämpfern und Politikern heute kommt es zu, das Gedenken an Salvador Allende sowie an alle Chileninnen und Chilenen zu wahren, die in der Militär-Unternehmer-Diktatur ihr Leben gelassen haben. Nur eine demokratische Verfassung als Ergebnis einer Verfassunggebenden Versammlung des Volkes wird es ermöglichen, den Weg der Befreiung wieder aufzunehmen, der 1973 in den Flammen des zerstörten Präsidentenpalastes La Moneda vorerst endete.