Venezuela / Wirtschaft

Venezuela: Ist der Aufschwung der Wirtschaft nachhaltig?

Wachstum, Inflation, Verschuldung - Das Center for Economic and Policy Research (CEPR) über die wichtigsten Faktoren der venezolanischen Wirtschaft

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Abbildung 1: Reales BIP Venezuelas, saisonbereinigt
Abbildung 1: Reales BIP Venezuelas, saisonbereinigt

Kurzfassung

In den vergangenen 13 Jahren haben die meisten Debatten über die venezolanische Wirtschaft vermutet oder sind zu dem Ergebnis gekommen, dass dieser ein Zusammenbruch bevorstünde. Während der ersten vier Jahre der Regierung Chávez, als die Regierung noch nicht die nationale Ölgesellschaft (PDSVA) kontrollierte, war in der Tat eine große wirtschaftliche Instabilität zu verzeichnen. Diese gipfelte im Militärputsch vom April 2002 und dem darauffolgenden, wirtschaftlich lähmenden Ölstreik (Dezember 2002 bis Februar 2003). Dieser Streik führte zu einer ausgesprochen starken Rezession mit einem 29-prozentigen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Selbst nach dessen Beilegung prognostizierten Analysten ein düsteres Zukunftsbild, geprägt von einem langsamen, schwierigen Aufschwung. Vorhersagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) unterschätzten wiederholt das Wachstum des BIPs für die Jahre 2004 bis 2006 um 10,6, 6,8 und 5,8 Prozentpunkte.1 Stattdessen ging der Aufschwung schnell voran und die Wirtschaft wuchs über die nächsten fünf Jahre in Rekordgeschwindigkeit, bei der sich das reale Bruttoinlandsprodukt seit dem Ende des Ölstreiks (erstes Quartal 2003) bis zum vierten Quartal 2008 nahezu verdoppelte.

Als die Ölpreise im vierten Quartal 2008 zusammenbrachen, mutmaßten etliche Analysten, Venezuelas Tag der Abrechnung stünde kurz bevor. Im ersten Quartal 2009 setzte eine Rezession ein. Weit über den beginnenden Aufschwung im zweiten Quartal 2010 hinaus blieben die Prognosen sehr negativ. Mit einem Wachstum von 4,2 Prozent für 2011 und 5,6 für die erste Hälfte 2012 trotzte die venezolanische Wirtschaft den Vorhersagen.

Trotzdem bleibt die Mehrzahl der Prognosen düster. Hierbei wird Venezuelas derzeitiges Wachstum überwiegend als nicht nachhaltig beschrieben; zahlreiche Szenarien, einschließlich Schuldenspirale, Inflation und Zahlungsbilanzkrise werden herangezogen. Dennoch lagen diese pessimistischen Vorhersagen für die meiste Zeit des vergangenen Jahrzehnts weit ab von der Realität. Dieser Bericht greift auf verfügbare, wirtschaftliche Kennzahlen zurück, um zu erörtern, ob Venezuela weiterhin einen Wirtschaftsaufschwung verzeichnen und ob dieser sogar beschleunigt werden kann. Wir sind der Auffassung, dass eben dieser Aufschwung nachhaltig ist und auf dem jetzigen Niveau oder gar einem höheren weitere Jahre fortgeführt werden kann.

Im ersten Quartal 2009, trat die venezolanische Wirtschaft in eine Rezession ein; diese setzte sich über fünf Quartale, bis zum zweiten Quartal 2010 fort. Die internationalen Ölpreise fielen 2008 um 50 Prozent (von 118 auf 58 US-Dollar pro Barrel) schroff ab. Auf den ersten Blick schien die ökonomische Talfahrt Teil eines unvermeidbarer Ölbooms und folgenden Schocks gewesen zu sein, was allerdings nicht der Fall war. Auch wenn viele westliche Länder im Zuge der Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 in eine Rezession eintraten, blieben etliche andere verschont, zumal die Möglichkeit bestand, die Rezession mithilfe antizyklischer Wirtschaftspolitik zu dämpfen oder gar zu vermeiden. Aufgrund der geringen Staatsverschuldung (und noch wichtiger: derjenigen im Ausland), war Venezuela in der Lage, eine solche Politik zu verfolgen. Als die Ölpreise fielen, hätte der Staat Kredite aufnehmen und genügend Geld ausgeben können, um das Wirtschaftswachstum aufrecht zu erhalten.

Aber während sich die Wirtschaftskonjunktur abschwächte und folglich in die Rezession eintrat, waren die Staatsausgaben prozyklisch; selbst innerhalb der Rezession. Erst im zweiten Quartal 2010, als sich die Wirtschaft von der Rezession erholte, wurden die Staatsausgaben erhöht. Ebenso vermehrten sich die Ausgaben 2011 und konsolidierten somit den Aufschwung.

Die venezolanische Wirtschaft wächst nun seit neun Quartalen in Folge; beginnend mit dem zweiten Quartal 2010 bis zum jetzigen, welches Ende September mit einem positiven Wachstum abschließen wird. Obwohl dieser Aufschwung durch erhöhte Staatsausgaben beschleunigt wurde, war er auf einer relativ breit angelegten Basis innerhalb verschiedener Sektoren angelegt. 2011 wuchsen öffentliche Einrichtungen, Bau, Transport, Handel und Reparatur, Kommunikation, Finanzsektor und Versicherungswesen, dazu Bergbau schneller als das Gesamt-BIP von 4,2 Prozent. Die verarbeitende Industrie, die bis zu 14 Prozent des BIP ausmacht, wuchs mit 3,8 Prozent etwas weniger stark.

Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum betrug das Wirtschaftswachstum für das erste Quartal 2012 5,6 Prozent. Angeführt wurde es vom Bauwesen, das sein Wachstum gegenüber der erste Hälfte 2011 auf 22,5 Prozent steigern konnte. Zurückzuführend ist dieser Anstieg auf das staatliche Wohnungsbauprogramm zur Verringerung der Wohnungsknappheit. 2011 wurden hierdurch 147.000 Einheiten fertiggestellt. Darunter entfielen etwa zwei Drittel auf die öffentliche Hand, der Rest ist auf den privaten Sektor zurückzuführen. Für dieses Jahr sind 200.000 weitere Wohneinheiten geplant, von denen bis September dieses Jahres die Hälfte fertiggestellt wurde.2 Im Verhältnis zu Venezuelas Bevölkerung ist dies eine beachtenswerte Leistung; ein ähnliches Projekt würde in den USA mehr als 1,6 Millionen Eigenheimen entsprechen oder etwa zweieinhalb mal so viel, wie Häuser in den USA im Jahr 2011 errichtet wurden.

Die Schuldenlast Venezuelas fällt relativ gering aus. Gewöhnlich beschreibt diese Kennzahl das Verhältnis zwischen Schulden und dem Bruttoinlandsprodukt (BIP).3 Der Internationale Währungsfonds (IWF) beziffert die öffentlichen Schulden Venezuelas für 2011 demnach auf 45,5 Prozent des BIPs.4 Allerdings belaufen sich die Schulden der Zentralregierung lediglich auf 25,1 Prozent des BIPs; der vom IWF angegebene Wert umfasst ebenso die Schulden anderer öffentlicher Institutionen, allen voran des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA. Dennoch ist dies ein relativ geringer Wert – die EU verzeichnet beispielsweise Schulden in Höhe von 82,5 Prozent des BIPs.

Als Kennziffer ist die Zinslast allerdings von weitaus größerer Bedeutung; Staaten die geringere Zinsen zahlen, können sich offensichtlich einen höheren Schuldenstand leisten.5 Ebenso wichtig ist die Differenzierung zwischen Inlands- und Auslandsschulden: Schulden innerhalb der eigenen Währung können immer beglichen werden, im anderen Fall trifft dies jedoch nicht zu.

Die Exporte des Staates bestehen zu 95 Prozent aus Öl; der Erdölsektor ist in Besitz der öffentlichen Hand. Hierdurch bezieht die venezolanische Regierung direkte Einkünfte in Dollar. Darauf aufbauend sollte man die in- und ausländischen Schulden getrennt voneinander betrachten und deren Zinslast mit unterschiedlichen Maßstäben beurteilen.

Daher ist der bedeutendste Maßstab für die externen öffentlichen Schulden das Verhältnis zwischen externem Schuldendienst und öffentlichen Exporten, also Erdöl und Erdölerzeugnissen. Da Kapitalien verlängert werden können (siehe hierzu weiter unten), ist die wichtigste Maßeinheit der prozentuale Anteil der Zinszahlungen an den Exporterlösen.

Im Jahr 2011 lagen die Zinszahlungen der Zentralregierung für Auslandsschulden bei 3,4 Prozent der Exporterlöse; für 2012 soll der Anteil auf 4,1 Prozent steigen, um in der Folge wieder zu sinken. Somit fällt der Prozentsatz des Schuldendienstes in Bezug auf die öffentlichen Exporterlöse gering aus, wodurch keine offensichtlichen Schwierigkeiten für die Nachhaltigkeit externer Schulden resultieren. Falls die Regierung sich dazu entschließt, ihre Ausgaben via Kreditaufnahme zu erhöhen, so wird sie dies hauptsächlich in der Landeswährung tätigen und bräuchte dadurch keine weiteren Auslandsschulden anzuhäufen. Diesen Projektionen liegt allerdings die konservative Annahme zugrunde, dass Einnahmen auf dem Niveau von 2011 verharren. Vielmehr besteht die Wahrscheinlichkeit einer Erhöhung dieser Einnahmen und somit einer geringeren Zinslast.

Ferner ist der staatliche Ölkonzern PDVSA in der Lage, Schulden aufzunehmen; hauptsächlich wird dies im Ausland getätigt. 2011 machten dessen Zinszahlungen 1,5 Prozent an den Exporteinnahmen aus; 2012 soll der Anteil bis auf 3,1 Prozent steigen. Obwohl der Konzern eine unabhängige Institution darstellt und dessen Schulden nicht ohne Weiteres dem Zentralstaat zuzuschreiben sind, beträgt der Gesamtanteil an den Exporterlösen unter der Hinzunahme dessen Schuldendienstes 7,2 Prozent, der 2017 auf 5,7 Prozent fallen wird. Damit ändert der Schuldendienst der PDVSA nichts an der Nachhaltigkeit venezolanischer Schulden.

Die beiden wesentlichen Maßstäbe für öffentliche Inlandsschulden stellen einerseits das Verhältnis zwischen Schuldenstand und Bruttoinlandsprodukt (BIP) dar, und andererseits der Anteil der Zinszahlungen am BIP. Beides fällt für Venezuela sehr gering aus: 2011 betrug ersterer lediglich 11,4 Prozent; die Zinszahlungen in Relation zum BIP beliefen sich auf 1,4 Prozent. Daher verfügt die Regierung über genügend Spielraum bei der inländischen Kreditaufnahme, um etwa öffentliche Investitionen zu tätigen, oder bei einem Rückgang der Nachfrage ein Konjunkturprogramm aufzulegen.

Innerhalb der vergangenen 13 Jahre erlebte Venezuela zwei Rezessionen. Die erste lässt sich auf einen Streik in der Ölindustrie zurückführen, die zweite, verursacht durch die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise 2009, hätte vermutlich durch genügend antizyklische Maßnahmen verhindert werden können. Die Vermutungen über einen wirtschaftlichen Zusammenbruch, Zahlungsbilanz- oder Schuldenkrisen und andere zwielichtige Voraussagen, als auch ökonomische Prognosen entpuppten sich fortwährend als falsch.

Die enorme Rückgang der Inflation innerhalb des letzten Jahres – bei zeitgleicher Steigerung der Wirtschaftsleistung - weist darauf hin, dass die Regierung in der Lage ist, die Inflation unter Beibehalt des Wirtschaftsaufschwungs im Griff zu halten. Venezuelas interne Schuldenlast fällt sehr gering aus, die externe ist mäßig. Selbst wenn die Ölpreise schlagartig fallen würden, hätte der Staat genügend Kapazitäten, Kredite aufzunehmen um einem Rückgang der Nachfrage entgegenzuwirken. Der vorherige Wirtschaftsaufschwung veranschaulichte, dass private Investitionen, wie bei einem Wachstum der Wirtschaft zu erwarten, getätigt wurden. Gleichwohl könnte der Staat fehlende private Investitionen durch öffentliche ersetzen. Derartige Investitionen in Infrastruktur, einschließlich Wasserversorgung, Transport, Energieversorgung, Straßen, Brücken, Häfen, Kommunikation (Internet einbegriffen), Krankenhäuser und Elektrizität werden dringend benötigt.

Aufgrund des beträchtlichen Außenhandelsüberschusses sind Zahlungsbilanzkrisen in absehbarer Zukunft eher unwahrscheinlich, dementsprechend bedarf es auch keiner Abwertung der Währung. Würde eine solche dennoch vorgenommen, wäre eine mäßige Inflation höchstwahrscheinlich die Folge. Die größte Abwertung unter Chávez ereignete sich im Januar 2010 und zog keinerlei Anstieg der inflationären Kernrate mit sich. Es kam lediglich zu einem zeitweisen Anstieg des Preisindexes. Seither sank die Inflation innerhalb des letzten Quartals auf eine Jahresrate von 13,7 Prozent, der niedrigsten seit mehr als vier Jahren.

Auf lange Sicht mag die Regierung andere Währungsordnungen in Betracht ziehen, insbesondere um die Wettbewerbsfähigkeit industriell gefertigter Produkte und Handelswaren zu steigern, doch gibt es keinen ersichtlichen Anlass warum das jetzige System nicht aufrecht erhalten werden kann. Aus diesen Gründen ist der derzeitige Wirtschaftsaufschwung nachhaltig.

Eine nicht nachhaltige Wirtschaftsentwicklung bedeutet, dass bei einer solchen Ungleichgewichte vorherrschen, die nicht länger beibehalten werden können. Beispiele hierfür wären etwa die US-Wirtschaft von 2006 oder eine Anzahl weiterer Volkswirtschaften (z.B. Spanien, Großbritannien, Irland), welche riesige Immobilienblasen aufwiesen, die unausweichlich platzen mussten und einen Abschwung zur Folge hatten. Volkswirtschaften mit unbezahlbarem Schuldendienst oder hohen Leistungsbilanzdefiziten stehen meist vor unvermeidbaren Anpassungen. Selbst in diesen Fällen, einschließlich jener mit Spekulationsblasen, sind generell mögliche Alternativen zu Rezessionen oder zumindest zu starken oder lang anhaltenden Rezessionen, vorhanden. Doch steht Venezuela nicht vor einer solchen unvermeidbaren, harten Neujustierung, welche die Wirtschaft in eine Rezession führen würde.

Betrachtet man die Wirtschaft Venezuelas historisch, im Zeitrahmen 1980 bis 1998, sank das Bruttoinlandsprodukt sogar um 14 Prozent. Dies war eine der miserabelsten Wirtschaftsleistungen innerhalb einer Region, die, langfristig gesehen, ihren größten Misserfolg bezüglich des Wachstums in einem Jahrhundert verbuchte.

Seit 1998 verzeichnete die Wirtschaft einen mäßigen Zuwachs des BIP pro Kopf. Nach der Wiederherstellung politischer Stabilität und der Verstaatlichung der Ölindustrie lag dieser Zuwachs wesentlich höher. Wird ab 2004 gemessen, als die Wirtschaft ihren Höhepunkt von vor der Rezession erreichte, nahm das BIP pro Kopf jährlich um durchschnittlich 2,5 Prozent zu. Dieser Anstieg führte einerseits zu einer erheblichen Reduzierung der Armut und der extremen Armut. Andererseits wurden durch erhöhte Sozialausgaben Erfolge im Gesundheits- und Bildungswesen verzeichnet. Egal wie hoch die jährliche Inflationsrate von 22 Prozent (seit 1998) auch sein mag; in den Jahren vor Chávez lag sie mit 34 Prozent ungleich höher.

Schätzungen des United States Geological Survey zufolge verfügt Venezuela mit etwa 500 Milliarden Barrel Erdöl über das weltweit größte Vorkommen. Die bislang nachgewiesenen Reserven betragen ca. 300 Milliarden Barrel. Davon werden derzeit ungefähr eine Milliarde pro Jahr genutzt. Solange politische Stabilität vorherrscht, und das tut sie seit der Verstaatlichung der Erdölindustrie, wird Venezuela in der Lage sein, mit vernünftiger Wirtschaftspolitik stabile wirtschaftliche Wachstumsraten vorzuweisen.

Einführung

In den vergangenen 13 Jahren wurde im Gespräch über Venezuelas Wirtschaft häufig unterstellt, dass dieser ein Zusammenbruch bevorsteht. Während der ersten vier Jahre der Regierung Chávez, als die Regierung noch nicht die nationale Ölgesellschaft (PDSVA) kontrollierte, war in der Tat eine große wirtschaftliche Instabilität zu verzeichnen. Diese gipfelte im Militärputsch vom April 2002 und dem darauffolgenden, wirtschaftlich lähmenden Ölstreik (Dezember 2002 bis Februar 2003). Dieser Streik führte zu einer ausgesprochen starken Rezession mit einem 29-prozentigen Rückgang des BIP. Selbst nach dessen Beilegung prognostizierten Analysten ein düsteres Zukunftsbild mit einem langsamen, schwierigen Aufschwung. Vorhersagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) unterschätzten mehrmalig das Wachstum des BIPs, welches für die Jahre 2004 bis 2006 mit 10,6, und 6,8 sowie 5,8 Prozent weit über den IWF-Schätzungen lag.6 Stattdessen ging der Aufschwung schnell voran und die Wirtschaft wuchs über die nächsten fünf Jahre mit einer Rekordgeschwindigkeit, bei der sich das reale Bruttoinlandsprodukt seit dem Ende des Ölstreiks (erstes Quartal 2003) bis zum vierten Quartal 2008 nahezu verdoppelte.

Als die Ölpreise im vierten Quartal 2008 zusammenbrachen, vermuteten etliche Analysten, Venezuelas Tag der Abrechnung stehe kurz bevor. Im ersten Quartal 2009 setzte eine Rezession ein. Weit über den beginnenden Aufschwung im zweiten Quartal 2010 hinaus blieben die Prognosen düster. Mit einem Wachstum von 4,2 Prozent für 2011 und 5,6 für die erste Hälfte 2012 trotzte die venezolanische Wirtschaft den Vorhersagen.

Trotzdem bleibt die Mehrzahl der Prognosen düster. Hierbei wird Venezuelas derzeitiges Wachstum überwiegend als nicht nachhaltig beschrieben. Manchen Szenarien zufolge wird die Regierung nach den Wahlen Ausgaben kürzen müssen und dadurch die Wirtschaft in den Ruin treiben. Andere vermuten, dass die Inflation, welche innerhalb der letzten drei Monate unter eine Jahresrate von 13,7 Prozent gesunken ist, unvermeidbar zunehmen wird, was auf den Wirkungsverlust der Preiskontrollen und der darauffolgenden Abwertung der Währung zurückzuführen sei.7 Die üblichen pessimistische Szenarien wiederum sehen eine auf Inflation folgende Abwertung vorher, die ihrerseits erneut zu einem Anstieg der Inflation führen werde, was eine erhöhte Kapitalflucht und dadurch eine Zahlungsbilanzkrise zur Folge hätte.8 Andere Analysten kommen unter Vorhersage katastrophaler Zustände der öffentlichen Verschuldung zu ähnlichen Ergebnissen. Aus diesen und weiteren Gründen wird dem venezolanischen Wirtschaftsaufschwung keine Nachhaltigkeit zugeschrieben.

Dennoch lagen diese pessimistischen Vorhersagen für die meiste Zeit des vergangenen Jahrzehnts weit ab von der Realität. Dieser Bericht greift auf verfügbare, wirtschaftliche Kennzahlen zurück, um zu erörtern, ob Venezuela weiterhin einen Wirtschaftsaufschwung verzeichnen und ob dieses sogar beschleunigt werden kann. Wir sind der Auffassung, dass eben dieser Aufschwung nachhaltig ist und auf dem jetzigen Niveau oder gar einem höheren weitere Jahre fortgeführt werden kann.

Rezession und Aufschwung

Im ersten Quartal 2009 trat die Wirtschaft Venezuelas in eine Rezession ein, welche bis zum zweiten Quartal 2010 währen sollte. Dies veranschaulicht Abbildung 1, anhand derer das reale, saisonbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro Quartal in Milliarden Bolívares seit 1997 dargestellt wird. Insgesamt hielt die Rezession, von der Spitze der Kurve bis zu deren Tiefpunkt, fünf Quartale an.

Im letzten Quartal 2008 fielen die internationalen Ölpreise stark um 50 Prozent (von 118 US-Dollar auf 58 US-Dollar pro Barrel). Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, brach das private BIP ein. 2007 wuchs es um 7,7 Prozent, und fiel 2008 auf 0,4 Prozent ab. Dieser Rückgang begann wohl früher; vermutlich infolge gekürzter Staatsausgaben im Jahr 2007 (siehe hierzu unten), ebenso datiert der Anfang der US-Rezession auf Dezember desselben Jahres. Möglicherweise verleitete der Ölpreiskollaps Investoren und Konsumenten zur Annahme einer bevorstehenden Rezession, wie sie Venezuela in der Vergangenheit erleben musste, als Ölpreise in den Keller fielen. Die Zunahme beim privaten Verbrauch sank von 16,9 Prozent für 2007 auf 6,3 Prozent für 2008 und entwickelte sich auch 2009 mit -2,9 Prozent rückläufig. Die Vermögensbildung verringerte sich früher und sank wesentlich stärker: 2007 verbuchte sie ein Wachstum um 25,6 Prozent, 2008 wuchs sie lediglich um 2,4 Prozent und war 2009 mit -8,3 Prozent rückläufig.

Abbildung 1: Reales BIP Venezuelas, saisonbereinigt

Auf den ersten Blick schien die ökonomische Talfahrt Teil eines unvermeidbaren Ölbooms und des darauffolgenden Schocks gewesen zu sein, was allerdings nicht der Fall war. Auch wenn viele westliche Länder im Zuge der Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 in eine Rezession eintraten, blieben etliche andere verschont, zumal die Möglichkeit bestand, die Rezession mithilfe antizyklischer Wirtschaftspolitik zu dämpfen oder gar zu vermeiden. Aufgrund der geringen Staatsverschuldung (auch derjenigen im Ausland), wäre Venezuela in der Lage gewesen, eine solche Politik zu verfolgen. Als die Ölpreise fielen, hätte der Staat Kredite aufnehmen und genügend Geld ausgeben können, um das Wirtschaftswachstum aufrecht zu erhalten. Wie wir weiter unten feststellen werden, verzeichnet Venezuela trotz der Erhöhung der öffentlichen Verschuldung zur Zeit der Rezession eine relativ gering ausfallende Schuldenlast.

Bedauerlicherweise führte Venezuela die Kürzung öffentlicher Ausgaben zu Rezessionsbeginn fort. Dies demonstriert Tabelle 2. Der obere Teil veranschaulicht die venezolanischen Ausgaben der Zentralregierung, welche im Haushaltsplan mit einbegriffen sind und vom Kongress gebilligt wurden. Doch beinhalten diese nicht alle Staatsausgaben. Ein signifikanter Betrag dieser Ausgaben, unter anderem Sozialausgaben, werden direkt vom staatlichen Ölkonzern PDVSA und dem Fonds für nationale Entwicklung (FONDEN) getätigt. Diese Mittel müssen ebenso berücksichtigt werden, um die Entwicklung der Staatsausgaben beurteilen zu können. Es ist jedoch keine korrekte Vorgehensweise vorhanden, um aus den vorhandenen Daten die öffentlichen Ausgaben der PDVSA und FONDEN von den einkalkulierten Ausgaben der Zentralregierung zu trennen.

Daher sind in Tabelle 2 die gesamten staatlichen Sozialausgaben und die öffentlichen Investitionen zusammengefasst. Dies beinhaltet die Ausgaben der PDVSA, des FONDEN und der Regierungen (zentralstaatliche und lokale). Die untere Hälfte der Tabelle 2 veranschaulicht dies. Selbstverständlich bestehen zwischen diesen beiden Summen große Überlagerungen, da der untere Teil sämtliche staatlichen Sozialausgaben und öffentliche Investitionsausgaben umfasst. Deshalb können sie nicht einfach addiert werden, um die gesamtstaatlichen Ausgaben zu erhalten. Ungeachtet dessen vermitteln beide Tabellen zusammen einen Eindruck, was mit den Staatsausgaben vor, während und nach der Rezession geschah.

Wie Tabelle 2 illustriert, fand eine enorme Erhöhung der zentralstaatlichen Ausgaben im Verhältnis zur Wirtschaft statt. Diese lagen 1999, das Jahr, in dem Chávez an die Macht gelang, bei 19,8 Prozent des BIPs und kletterten bis 2006 auf 29,8 Prozent. 2007 fielen sie steil auf 26,1 Prozent des BIPs ab. Zweifellos trug dies zur Verlangsamung des Wirtschaftswachstums 2008 bei. Im selben Jahr blieben sie mit 26,1 Prozent konstant, obwohl antizyklische Maßnahmen erforderlich gewesen wären, als die Wirtschaft im letzten Quartal jenes Jahres in eine Rezession eintrat. 2009 stiegen die Ausgaben leicht auf 26,7 Prozent des BIPs, doch durch den Wirtschaftsrückgang bedingt, sanken sie in absoluten Zahlen, obwohl eine enorme Ankurbelung durch den öffentlichen Sektor angesichts des Zusammenbruchs privater Ausgaben nötig war. Darauf fielen sie 2010 um fast vier Prozentpunkte auf 22,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und trugen somit zur Verlängerung des Abschwungs im ersten Quartal des Jahres bei. Für 2011 stiegen die Staatsausgaben schließlich auf 26,5 Prozent bedeutend an, womit ein stabiler Aufschwung auf den Weg gebracht wurde.

Die Kennzahlen der Sozialausgaben und öffentlichen Investitionen in der unteren Hälfte der Tabelle sprechen dieselbe, wenn auch weitaus deutlichere Sprache. 2006 erreichten diese ihren Höhepunkt mit 40 Prozent des BIPs (zum Vergleich: 1999 lag der Anteil bei lediglich 24,5 Prozent) und fielen ein Jahr darauf um mehr als fünf Prozentpunkte auf 34,9 Prozent. Innerhalb der Rezession sanken die Ausgaben weiterhin steil ab; 2008 auf 32,5 Prozent ; 2009 ein weiterer, enormer Rückgang auf 28,3 Prozent, als die Rezession im Gange war und eine zusätzliche Abnahme um fünf Prozentpunkte auf 23,9 Prozent für 2010. Darauf, im Jahr 2011, stiegen sie sprunghaft auf 29,3 Prozent des BIPs an.

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Staatsausgaben während des gebremsten Wirtschaftswachstums, des Eintritts in die Rezession und innerhalb dieser prozyklisch ausfielen. 2011 lässt sich eine Erhöhung dieser Ausgaben und somit eine Konsolidierung des Aufschwungs feststellen, obwohl die Quartalszahlen ebenso einen zeitweisen Anstieg im zweiten Quartal 2010, gegen Rezessionsende, aufweisen.

Die venezolanische Wirtschaft wächst nun seit neun Quartalen in Folge; beginnend mit dem zweiten Quartal 2010 bis zum jetzigen Quartal, welches Ende September mit einem positiven Wachstum abschließen wird. Tabelle 1 veranschaulicht, dass der Aufschwung, trotz der Ankurbelung durch erhöhte Staatsausgaben, über mehrere Sektoren hinweg relativ breit angelegt war. 2011 wuchsen öffentliche Einrichtungen, Bau, Transport, Handel und Reparatur, Kommunikation, Finanzsektor und Versicherungswesen, dazu Bergbau schneller als das Gesamt-BIP von 4,2 Prozent. Die verarbeitende Industrie, die bis zu 14 Prozent des BIP ausmacht, wuchs mit 3,8 Prozent etwas weniger stark.

Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum betrug das Wirtschaftswachstum für das erste Quartal 2012 5,6 Prozent. 2011 wurde es angeführt vom Bauwesen, das sein Wachstum über das erste Quartal auf 22,5 Prozent steigern konnte. Dies ist auf das staatliche Wohnungsbauprogramm (siehe weiter unten) zurückzuführen. Finanz- und Versicherungswesen, die innerhalb des vergangenen Jahrzehnts die am schnellsten wachsenden Sektoren darstellen, wuchsen sogar noch rapider (31,8 Prozent). Handel und Reparatur, Transportwesen und Kommunikation expandierten stärker als die Gesamtwirtschaft; die verarbeitende Industrie lag jedoch nur um 0,7 Prozent zu.

Das Wohnungsprogramm, welches letztes Jahr zur Verringerung der Wohnungsknappheit initiiert wurde, war ein wesentlicher Bestandteil der staatlichen Konjunkturhilfe. 2011 wurden hierdurch 147.000 Wohnhäuser fertiggestellt. Darunter entfielen etwa zwei Drittel auf die öffentliche Hand, der Rest ist auf den privaten Sektor zurückzuführen. Für dieses Jahr sind 200.000 weitere Wohneinheiten geplant, von denen bis September dieses Jahres die Hälfte fertiggestellt wurde.9 Im Verhältnis zu Venezuelas Bevölkerung ist dies eine beachtenswerte Leistung. Ein ähnliches Projekt würde in den USA mehr als 1,6 Millionen Eigenheimen entsprechen oder etwa zweieinhalb mal so viel, wie Häuser in den USA im Jahr 2011 errichtet wurden. Da verwundert es kaum, dass das Baugewerbe, wie oben beschrieben, einen signifikanten Beitrag zum Aufschwung leistete.

Tabelle 1: Venezolanische Realwirtschaft 2000-2012, reale, jährliche prozentuale Änderung

Tabelle 2: Zentralstaatliche Ausgaben und öffentliche Gesamtinvestitionen

Abbildung 2 verdeutlicht das Wirtschaftswachstum im Kontext der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte. Wie zu sehen ist, fand von 1998 bis 2002 ein Rückgang der Wirtschaft statt, welcher auf politische Turbulenzen (einschließlich Militärputsch und weiteren Unruhen) als auch auf fehlende staatliche Kontrolle über die Ölindustrie zurückzuführen ist. Danach fiel die Wirtschaft infolge des Ölstreiks um 29 Prozent. Ab dem zweiten Quartal 2003, als die Regierung schließlich Kontrolle über die Ölindustrie erlangt hatte und sich die politische Instabilität legte, verbuchte die Wirtschaft ein rasantes Wachstum. Sie legte in realen (inflationsbereinigten) Zahlen um 96 Prozent zu und verdoppelte nahezu ihr Volumen in den fast sechs darauffolgenden Jahren, bis schließlich die Rezession im ersten Quartal 2009 einsetzte.

Abbildung 2: Reales BIP Venezuelas, saisonbereinigt

Nach fünf Quartalen Abschwung begann die Wirtschaft im zweiten Quartal 2010 erneut zu expandieren. Fast zwei Jahre danach, im ersten Quartal 2012, überschritt die Wirtschaft das Niveau des realen Bruttoinlandsprodukts, welches es vor der jüngsten Rezession besessen hatte.

Finanzen und Verschuldung

Wie oben bereits erwähnt, verfügte die Regierung über genügend Kapazitäten, um der Rezession entgegenzuwirken; von denen sie 2011 letztendlich entschieden Gebrauch machte. Um dies zu erkennen und um festzustellen, wie viel Raum die Regierung hat, um Wachstum zu stimulieren und Entwicklung voranzutreiben, müssen die derzeitigen Finanzen, Einkünfte, Schulden und Schuldendienst betrachtet werden.

Es gibt unzählige Vorgehensweisen, die derzeitige staatliche Schuldenlast zu messen. Die geläufigste Maßzahl innerhalb der Presse ist das Verhältnis zwischen Schulden und BIP (sog. Schuldenquote [A.d.Ü.]).10 Der Internationale Währungsfonds (IWF) beziffert die öffentlichen Schulden Venezuelas für 2011 demnach auf 45,5 Prozent des BIP.11 Allerdings belaufen sich die Schulden der Zentralregierung lediglich auf 25,1 Prozent des BIP; der vom IWF angegebene Wert umfasst ebenso die Schulden anderer öffentlicher Institutionen, allen voran diejenigen des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA. Dennoch ist dies ein relativ geringer Wert – die EU verzeichnet beispielsweise Schulden in Höhe von 82,5 Prozent des BIP.

Als Kennziffer ist die Zinslast allerdings von weitaus größerer Bedeutung. Staaten die geringere Zinsen zahlen, können sich offensichtlich einen höheren Schuldenstand leisten.5Diese Zinszahlungen würden für das Jahr 2012 ungefähr 0,5 bis 0,7 Prozent an den öffentlichen Exporteinnahmen ausmachen. Selbst mit weiteren 2 Milliarden US-Dollar pro Jahr zur Tilgung ergäbe sich keine allzu hohe Vergrößerung der Schuldenlast. Zweifellos kann Venezuela jedoch mehr chinesische Kredite aufnehmen und die Kapitalien praktisch bei Bedarf verlängern. Die Kreditbeschaffung aus China, mit dem die venezolanische Regierung eine strategische Partnerschaft einging, ist vielleicht am bedeutendsten, zumal ein wichtiger Zugang zu nicht marktüblichen Krediten und Niedrigzinskrediten entsteht, derer die Regierung in kritischen Situation eventuell bedarf.

Finanzierung, Devisenmarkt und Grenzen der Zahlungsbilanz

Durch das niedrige Niveau des venezolanischen Schuldendienstes entstehen große Spielräume zur Finanzierung erhöhter öffentlicher Ausgaben, ohne dass dies Probleme der Schuldennachhaltigkeit mit sich führen würde. Selbst wenn sich der Anteil der internen Schulden der Zentralregierung am Bruttoinlandsprodukt auf 22 Prozent verdoppeln würde, ergäbe sich immer noch ein niedriges Inlandsschuldenniveau. Wenn diese noch zusätzlich zu niedrigen Zinssätzen unter der derzeitigen Inflationsrate finanziert werden könnten – was momentan der Fall zu sein scheint – dann würde sich die niedrig ausfallende Zinslast interner Regierungsschulden (aktuell bei 1,1 Prozent des BIPs) wesentlich langsamer erhöhen als der Anstieg der Kreditaufnahme.

In Bezug auf die Auslandsschulden der Regierung hätten öffentliche Investitionen und andere Ausgabenprogramme, die durch die Eigenwährung finanziert werden, kaum eine Auswirkung.

Allerdings sind der Zahlungsbilanz Grenzen gesetzt: Wenn die Wirtschaft schneller wachsen sollte, wird ein Anstieg der Importe erwartet. Um der Gesamtwirtschaft diesen erhöhten Bedarf zu ermöglichen, muss die Regierung ausreichend Devisenreserven vorhalten. Die Regierung jedoch verzeichnet derzeit ein Außenhandels- und Leistungsbilanzüberschuss. Dies wird in Abbildung 7 verdeutlicht. Zu erkennen ist, dass Venezuela lediglich für zwei Quartale, infolge des Ölpreiskollapses des letzten Quartals 2008, ein Außenhandelsdefizit einfuhr. Im Hinblick auf die aktuellsten Zahlen erzielte Venezuela für den Jahreszeitraum bis zum Ende des zweiten Quartals 2012, einen beachtenswerten Leistungsbilanzüberschuss in Höhe von 22,1 Milliarden US-Dollar, oder ca. 6,6 Prozent des BIPs. Obwohl die Importe, wie zu erwarten, mit dem Aufschwung wieder zunahmen, stiegen die Erlöse aus dem Export stärker an.

Abbildung 7: Leistungsbilanz nach Bereich

Die Währungsreserven der Zentralbank belaufen sich derzeit auf 24,6 Milliarden Dollar. Dies genügt, um Importe für fünf Monate sicherzustellen. Gewöhnlich gelten Reserven, die Importe für drei Monate decken können, als angemessen.12

Aufgrund des venezolanischen Außenhandels- und Leistungsbilanzüberschusses sollten die Währungsreserven der Zentralbank natürlich höher ausfallen und sich schnell angehäuft haben. Im letzten Jahr ging jedoch der Großteil, wenn nicht sogar die Gesamtheit des Leistungsbilanzüberschusses ans Ausland verloren. Einen Anteil dazu trägt Kapitalflucht bei, obwohl nicht genau gesagt werden kann, in welchem Ausmaß dies stattfand. Jene Kapitalflucht droht allerdings nicht, eine Zahlungsbilanzkrise zu verursachen, zumal das Land über angemessene Währungsreserven verfügt. Dennoch wäre es aus einer Anzahl von Gründen vorteilig, wenn die Regierung den Betrag des Geldes, welches ins Ausland abfließt, reduzieren könnte. Teilweise könnte dies durch wirksamere Devisenkontrollen erreicht werden, viele Länder verfügen über effektivere Kapitalverkehrskontrollen als Venezuela.

Theoretisch sollten Devisenkontrollen in Venezuela mit geringerem Aufwand zu handhaben sein als in anderen Staaten, da auf die Regierung mehr als 90 Prozent der Einkünfte aus dem Devisengeschäft entfallen. Zum Teil ist dies ein administratives Problem: Eine Regierung muss unter verschiedenen Akteuren, darunter Steuer- und Zollbehörde, sowie der Zentralbank, koordinieren und Kapazitäten aufbauen, um sicherzustellen, dass Personen, die sich Devisen aneignen, dies aus berechtigten Gründen tun, etwa für Importe, und nicht, um Geld außer Landes zu schaffen. Der größte Teil des Problems ist politischer Natur: Personen und Institutionen sind in der Lage aus politischen Gründen, Geld ins Ausland zu bringen. Dies ist typisch für Staaten, die sich in einem polarisierten politischem Klima befinden. Diejenigen Personen, die über den größten Wohlstand und das höchste Einkommen des Landes verfügen – dazu zählt auch die Mehrzahl der Medien – sind häufig oppositionell gegenüber der Regierung eingestellt. Es ist nicht schwer, der Regierung abgeneigte und misstrauische Menschen davon zu überzeugen, ihr Geld ins Ausland zu verfrachten, besonders wenn die meisten Medien eine solche Auffassung befördern. (Die Regierung besitzt zwar einige Fernsehsender, doch liegt deren Zuschaueranteil lediglich bei fünf bis acht Prozent und höchstwahrscheinlich sind diese Zuschauer nicht den oberen Einkommensgruppen hinzuzurechnen).13 Sofern Haushalte und Unternehmen, die den Großteil der heimischen Ersparnisse besitzen, aus politischen Gründen oder aus Besorgnis aus der Inlandswährung flüchten wollen und dies auch tun können, werden etliche Dollar das Land verlassen.

Für Privatpersonen und Unternehmen, die den Großteil der inländischen Ersparnisse besitzen, gibt es jedoch keine ökonomisch überzeugenden Gründe, ihr Geld außer Landes zu bringen, solange profitable Investitionsmöglichkeiten innerhalb der eigenen Landesgrenzen vorhanden sind. Wie weiter unten zu sehen ist, nahmen Privatinvestitionen während des letzten Aufschwungs überaus deutlich zu. Es ist wichtig, zwischen der derzeitigen Situation und derjenigen eines Staates mit z.B. chronischem Außenhandelsdefizit und der daraus resultierenden Verschuldung zur Gewährleistung von Importen zu unterscheiden. Wie oben bereits erwähnt wurde, verbuchte Venezuela infolge des Ölpreiskollapses lediglich für zwei Quartale ein Außenhandelsdefizit und stand selbst damals vor keiner Zahlungsbilanzkrise. Wäre die Kapitalflucht nicht vorhanden, so würde Venezuela Unmengen an Währungsreserven anhäufen.

Die Regierung wird mehr von diesen Devisen innerhalb der Grenzen halten wollen, hierfür gibt es eine Reihe durchführbarer Möglichkeiten. Eine davon wäre natürlich, eine Abwertung der Währung vorzunehmen. Wenn die Währung auf einen niedrigeren Wert sinkt, sowohl innerhalb der offiziellen Wechsel- als auch der Schwarzmarktkurse, käme dies praktisch einer Steuer auf Kapitalflucht gleich. Dadurch müssten Personen, die Geld Richtung Ausland schaffen wollen, mehr dafür bezahlen. Wie oben erwähnt, gibt es außer Abwertung jedoch effektivere Methoden, Privatpersonen oder Unternehmen dazu zu verleiten, ihr Geld innerhalb des Landes zu lassen.

Wichtig ist, dass sich die Situation Venezuelas deutlich von derjenigen anderer Ländern unterscheidet, welche kontinuierlich Außenhandelsdefizite einfahren oder in denen Menschen aus anderen Gründen eine unausweichliche Abwertung der Währung fürchten müssen (wie etwa Brasilien oder Argentinien in den späten 90er Jahren, als diese Staaten feste, überbewertete Währungskurse besaßen, die nicht beibehalten werden konnten). Venezuela exportiert Öl, welches in Dollar abgesetzt wird, und bedarf keiner Abwertung, um Ölexporte wettbewerbsfähig zu gestalten.

Im engeren Sinne ist die venezolanische Währung daher nicht überbewertet. Dies erkennt man an den Daten des Internationalen Währungsfonds zur Kaufkraftparität (KKP) des Bruttoinlandsprodukts. Dieses Maß beschreibt das Bruttoinlandsprodukt eines Landes, welches das BIP an das Preisniveau anpasst. Ein Land, dessen Währung in Bezug auf dieses Maß überbewertet ist, weist zumindest in Relation zu anderen Ländern, ein höheres KKP-BIP als ihr BIP in US-Dollar auf. Somit kann man den Kurs der Kaufkraftparität mit dem US-Dollar-Kurs vergleichen, um Unter- oder Überbewertung festzustellen.

Abbildung 8 zeigt das Maß zur Unter-/Überbewertung für 183 Länder 2011.14 Obwohl die große Mehrheit der Entwicklungsländer mit diesem Maßstab aus technischen Gründen unterbewertete Währungen zu haben scheint,15 können wir Venezuela immer noch mit diversen Ländern vergleichen. Zu erkennen ist, dass Venezuela in Relation zu Ländern mit vergleichbarem Entwicklungsstand in Bezug auf Währungsüberbewertung überhaupt nicht aus der Masse sticht. Man beachte, dass Brasiliens Währung unter Berücksichtigung der Kaufkraftparität weitaus überbewerteter ausfällt als diejenige Venezuelas. Zudem hatte Brasilien nicht mit der Problematik der Kapitalflucht zu kämpfen. Ganz im Gegenteil: Letztes Jahr versuchte der Staat Kapitalzuflüsse zu begrenzen, um gegen eine weitere Aufwertung der Währung vorzugehen.

Ebenso ist hervorzuheben, dass der Kurswert der venezolanischen Kaufkraftparität, so wie er vom IWF eingeschätzt wird, mit den realen Ölpreisen steigt. Seit 2000 stieg der reale Ölpreis um 180 Prozent an. Die venezolanische Währung, angegeben durch die KKP-Maßzahl des IWF, hat sich verdoppelt. Trotz dieses großen Anstiegs erschien die venezolanische Währung für 2011, im Vergleich zu anderen Währungen, nicht extrem überbewertet zu sein.16

Kaufkraftparität-Schätzwerte sind eine weitere Möglichkeit, zu sehen, dass Venezuelas Währung nicht in einem grundsätzlichen Sinne überbewertet ist, d.h. im Hinblick auf ihre internationale Kaufkraft im Vergleich zu anderen Währungen. Das Problem ist vor allem, dass viele Venezolaner zur Überzeugung gelangt sind, dass sie abgewertet werden wird, oder aber sie wollen ihr Geld aus anderen Gründen außer Landes bringen. Dies unterscheidet sich davon, eine grundsätzlich überbewertete Währung oder chronische Leistungsbilanzdefizite zu haben.

Von einer niedriger bewerteten Währung würden Produzenten von Handelsgüter profitieren, indem Importe teurer und Nicht-Erdöl-Exporte billiger ausfallen. Dies würde die Wettbewerbsfähigkeit der venezolanischen Fabrikation und Industrie gegenüber Importen verbessern und ebenso die Nicht-Erdöl-Exporte erhöhen. Zu 95 Prozent bestehen die Exporte Venezuelas aus Öl und Ölprodukten; acht Jahre zuvor betrug dieser Anteil 81 Prozent. Potenziell könnte der Anteil der verarbeitenden Industrie an der Wirtschaft steigen, was innerhalb des letzten Jahrzehnts nicht geschah.

Abbildung 8: Relativer Währungswert mittels impliziter KKP-Kurse, 2011

Doch ist dies eine politische Frage auf lange Sicht und unterscheidet sich von der Frage, ob Venezuela angesichts der Exporteinnahmen den aktuellen Wechselkurs beibehalten kann. In Anbetracht des venezolanischen Handelsbilanz- und Leistungsbilanzüberschusses könnte der Staat den derzeitigen Wechselkurs beibehalten.

Ein Problem, oder zumindest eine Sorge, einen wettbewerbsfähigeren Wechselkurs zu erreichen – was Argentinien nach seiner Abwertung 2001 erfolgreich bewältigt hat – ist die Angst vor einer stärkeren Inflation. Obwohl die Inflation innerhalb des letzten Jahrzehnts wesentlich niedriger war als in den Jahren vor Chávez' Regierungsantritt, beträgt die durchschnittliche Jahresrate seit 2003 22 Prozent. In Abbildung 9 wird der Verbraucherpreisindex dargestellt. Kürzlich, während des derzeitigen Aufschwungs, ging die Inflation zurück, selbst als sich das Wachstum beschleunigte und die Regierung die Ausgaben drastisch erhöhte. Wie Abbildung 9 zeigt, gipfelte die gegenüber dem Vorjahr dargestellte Inflation bei 39 Prozent, genau als im September 2008 die Rezession eintrat. Von da an fiel sie um mehr als die Hälfte auf 18,6 Prozent. Den stärksten Rückgang erfuhr sie innerhalb der beiden Jahre nach Rezessionsende. Über das letzte Quartal hinweg stieg der Verbraucherpreisindex auf eine Jahresrate von 13,7 Prozent an, der niedrigsten Wert seit vier Jahren, in denen die Staatsausgaben kontinuierlich stiegen und sich die monetäre Politik expansiv gestaltete. Möglicherweise trug die Einführung von Preiskontrollen auf Grundnahrungsmittel und Haushaltsgegenständen im November 2011 und April 2012 einen Anteil zu einer niedrigeren Inflation bei und erhöhte die Devisenzuteilung für Importe (insbesondere Nahrung).

Offensichtlich wird Venezuelas Inflation nicht richtig verstanden, zumindest nicht von den meisten Wirtschaftswissenschaftlern und Analysten, die darüber schreiben. Die Grafik demonstriert, dass der stärkste Inflationsrückgang von Februar 2003 bis Mai 2006 stattfand. In diesem Zeitraum wuchs die Wirtschaft rasend schnell, die Inflation fiel von 38,6 Prozent auf 10,4 Prozent, während das reale BIP um 66,4 Prozent bzw. um eine Jahresrate von 17 Prozent anstieg. Gewiss war ein Abschnitt dieses Wachstums Teil des Aufschwungs nach einer tiefen Rezession, doch im dritten Quartal 2004 erreichte die Wirtschaft ihren Höchststand vor der Rezession, wobei die Inflation für weitere zwei Jahre, von 22 Prozent auf deren Tiefpunkt von 10,4 Prozent, sank. Die mehrfach zitierten Erklärungen, die Inflation werde durch eine überhöhte Nachfrage oder einer Erhöhung der Geldmenge verursacht, scheinen nicht mit den Kennzahlen Venezuelas übereinzustimmen. Die Tatsache, dass die Inflation während eines raschen Wirtschaftswachstums derart schnell sinkt, beweist, dass Inflation in Venezuela weitgehend auf ein geringeres Angebot zurückzuführen ist.

Abbildung 9: Verbraucherpreisindex Caracas jeweils zum Vorjahr

Das Verhältnis zwischen Inflation und Wechselkurs scheint ebenso wenig verstanden zu werden. Als die Regierung die Währung von 2,15 Bolívares Fuertes in ein duales System von 2,6 und 4,3 abwertete, mutmaßten Analysten, dass die Inflation für das Jahr auf 60 Prozent in die Höhe schießen würde.17 Stattdessen stieg sie für vier Monate (mit einer jährlichen Inflation von 26,9 Prozent im Januar bis zu ihrem Höhepunkt im Mai mit 32 Prozent) und fiel in der Folge bis zur Gegenwart ab. Die Kerninflation (unter Ausschluss von Nahrung und Kleidung) ging nach der Abwertung sogar zurück und setzte ihren Rückgang bis zur Gegenwart fort. Das begrenzte Ergebnis der Abwertung könnte zum Teil darauf zurückgeführt werden, dass zu diesem Zeitpunkt Einfuhrpreise bereits weitgehend durch den Schwarzmarktkurs festgelegt waren.

Unabhängig von der tatsächlich zugrundeliegenden Dynamik der Inflation in Venezuela, sind Ängste vor einer Inflationsspirale als Antwort auf Änderungen der Politik unbegründet. Der aktuelle feste Wechselkurs beträgt 4,3, ebenso hat die Regierung den Wechselkurs des SITME (Transaktionssystem für Wertpapiere in Fremdwährung) von 5,3 eingeführt, welcher der Wechselkurs vieler Importeure ist. Selbst wenn die Regierung den aktuellen Wechselkurs von 4,3 BF / Dollar auf 7 abwerteten sollte, würde dies erwartungsgemäß keinen allzu hohen Inflationsanstieg mit sich führen. Wie oben erwähnt, fand die letzte Abwertung in dieser Größenordnung statt und zog lediglich einen kurzen, zeitweisen Anstieg der Inflation und keine Erhöhung der Kernrate nach sich.

Wie oben erwähnt, besteht bei dem derzeitigen Wechselkurssystem kein Bedarf an einer Abwertung. Auf lange Sicht sind mehrere politische Optionen vorhanden, um Unternehmen und Privatpersonen mit Ersparnissen dazu zu ermutigen, ihr Geld innerhalb des Landes zu behalten und es ist wahrscheinlich, dass die Regierung diese ergreift. Zum Beispiel veröffentlichte sie am 19. Juli 2012 in der Official Gazette ein neues Reglement, welches einigen Firmen und Personen zum ersten Mal seit fast zehn Jahren ermöglicht, Lokalbankkonten in ausländischer Währung zu unterhalten.18

Häufig wird behauptet, dass die Regierung eine Abwertung vornehmen muss, um über mehr Bolívares für jeden Dollar aus Devisengeschäften zum Ausgeben zu verfügen. Aber das ist nicht wahr. Wie oben erwähnt, können Ausgaben im Inland durch inländische Kreditaufnahme finanziert werden, ebenso können diese durch Kredite von der Zentralbank finanziert werden, solange das Land keiner steigenden Inflationsrate aufgrund von zu hoher Nachfrage gegenübersteht. Aber in jedem Fall hängen die inländischen Ausgaben nicht von den Dollar-Exporteinnahmen des öffentlichen Sektors ab. Die Devisen-Einschränkung der venezolanischen Wirtschaft ist, dass es genug Dollar besitzen muss, um Importe zu decken, zuzüglich eines angemessenen Reservebetrags.

Auf längere Sicht wäre es von Vorteil, wenn Venezuela eine Devisenordnung schafft, welche die Spekulation gegen die Währung als auch den Schwarzmarkt stark eindämmt oder ganz beseitigt. Dies sollte in einem Staat, dessen Deviseneinnahmen fast in der Gänze auf den öffentlichen Sektor entfallen und dessen Wirtschaft fast ständig Leistungsbilanzüberschüsse einfährt, nicht allzu schwierig sein. Vorrangig ist dies eine Frage der administrativen Kapazitäten und der Wahl eines geeigneten Wechselkurssystems. Doch selbst mit dem jetzigen muss keine Abwertung vorgenommen werden; selbst wenn die Leistungsbilanz zeitweise negativ ausfällt, wie während den zwei Quartalen 2008/09 als die Ölpreise zusammenbrachen, besäße die Regierung mehr als ausreichend Kapazitäten zur ausländischen Kreditaufnahme, um damit den Wechselkurs auf dem gewünschten Niveau beizubehalten.

Ölpreise

Ein periodisch wiederkehrendes, pessimistisches Szenario basiert auf einem Einbruch der Ölpreise, die etwa 95 Prozent der Einkünfte aus dem Devisengeschäft Venezuelas ausmachen. Genau das geschah im vierten Quartal 2008, obwohl ein Großteil des Preisrückgangs innerhalb von sechs Monaten wieder ausgeglichen wurde.

Wie oben erwähnt, hatte Venezuela die Kapazität, Kredite aufzunehmen, um antizyklische Ausgaben während des Zusammenbruchs der Ölpreise zu tätigen. Falls diese wieder zeitweise sinken würden, wäre der Staat aufgrund seiner recht gering ausfallenden Zinslast in der Lage, derart zu handeln, um eine erneute Rezession zu vermeiden.

Ein größeres Problem würde ein lang anhaltender Rückgang der Ölpreise darstellen, obwohl die venezolanische Kreditaufnahmekapazität der Regierung die Mittel verschaffen würde, einer derartige Veränderung über längere Zeit hinweg entgegenzuwirken. Dennoch ist ein solcher lang anhaltender Preisrückgang sehr unwahrscheinlich. Tabelle 3 zeigt verschiedene Prognosen zu den zukünftigen realen Ölpreisen des Annual Energy Outlook der U.S. Energy Information Administration. Fast alle weisen höhere Ölpreise für die kommenden Jahre und Jahrzehnte auf.

Tabelle 3: Prognosen der Ölpreise 2015-2035 in Dollar (2010) pro Barrel

Investment

Abbildung 10 zeigt staatliche und private Bruttoanlageinvestitionen anteilig am Bruttoinlandsprodukt seit 1999. Private Kapitalanlagen gingen während der politischen Unruhen 1999-2003 zurück. Sie fielen von 16 Prozent des BIPs auf ihren Tiefpunkt von acht Prozent des BIPs im Jahr 2003. Nachdem die Regierung jedoch Kontrolle über die Ölindustrie gewann, stiegen sie während des rasanten Aufschwungs 2003- 2007 rapide an und machten 2007 12,9 Prozent des BIPs aus. Mit der Rezession setzte deren Rückgang ein. Während dieser Periode nahmen Privatinvestitionen stärker zu als die öffentlichen.

Dies ist von Bedeutung, da es zeigt, dass private Investoren in die venezolanische Wirtschaft investieren werden, sobald sie wächst und deren Wachstum weiterhin erwartet wird. Auch wenn viel über die Auswirkungen von Verstaatlichungen auf das Investitionsklima geschrieben wurde, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelnes Unternehmen verstaatlicht wird, sehr gering. Ferner stellen für Investoren Unsicherheiten in Bezug auf zukünftige Preise und Nachfrage ein größeres Risiko dar. Daher ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass mit der derzeitigen wirtschaftlichen Erholung die Privatinvestitionen wieder zunehmen werden. Abbildung 10 kann man entnehmen, dass auch öffentliche Investitionen während des Aufschwungs schnell zunahmen (von 7,5 Prozent des BIPs 2003 auf 12,1 Prozent des BIPs 2007, bei gleichzeitiger Zunahme des BIPs).

Abbildung 11 veranschaulicht die gesamten Bruttoanlageinvestitionen in realen (inflationsbereinigten) Zahlen bis zur ersten Hälfte dieses Jahres (die Daten von Abbildung 10, welche Kapitalanlagen in öffentliche und private aufteilt, gehen lediglich bis 2010). Wie zu erkennen, gingen die Gesamtinvestitionen während der beiden Rezessionen zurück und legten in der Folge wieder zu. Die gesamten Bruttoanlageinvestitionen lagen in der ersten Hälfte 2012 bei ca. 33 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Für diese Region ist das eine relativ hohe Investitionsrate; entsprechende Ziffern für Brasilien und Mexiko belaufen sich jeweils auf etwa 20 und 23 Prozent.19 Allerdings besteht ein Bedarf an erhöhten öffentlichen Investitionen in Infrastruktur, einschließlich Wasserversorgung, Transportwesen, Energieversorgung, Straßen, Brücken, Häfen, Kommunikation (Internet einbegriffen), Krankenhäuser und Elektrizität. Falls die Investitionen des privaten Sektors innerhalb dieses Aufschwungs einige Zeit benötigen, um ein ausreichendes Niveau zu erlangen, könnte dies der Staat mit erhöhten öffentlichen Investitionen kompensieren – wie etwa mit dem erfolgreichen Impuls durch das Wohnungsbauprogramm im letzten Jahr. Solche öffentlichen Investitionen werden jedenfalls dringend gebraucht und können in den nächsten Jahren die Hauptquelle für Wachstum und Entwicklung sein.

Abbildung 10: Private und öffentliche Bruttoanlageinvestitionen in Venezuela

Abbildung 11: Reale Bruttoanlageinvestitionen in Venezuela, saisonbereinigt

Armut

Es sei hier darauf hingewiesen, dass sowohl Armut als auch extreme Armut innerhalb der vergangenen 13 Jahren einen starken Rückgang in Venezuela verzeichnet haben. Dies kann man an Tabelle 4 erkennen. Gemessen wird, auch wenn die Regierung innerhalb der ersten vier Jahre nicht viel ausrichten konnte, seit 1999. Seitdem ging die Armut von 42,8 Prozent der Haushalte auf 26,7 Prozent zurück, was einem Rückgang von 37,6 Prozent der Armutsrate entspricht. Wird ab 2004 gemessen, dem Jahr, in dem politische Stabilität wiederhergestellt wurde und die Regierung die Leitung über Erdölindustrie erlangte, beträgt der Rückgang 49,7 Prozent. Wie Tabelle 4 zu entnehmen ist, stieg die Armutsrate während der Rezession 2009 leicht an.

Extreme Armut ging von 16,6 auf 7,0 Prozent für 1999 bis 2011 noch stärker zurück. Dies entspricht einer Verringerung der Armutsrate von 57,8 Prozent; wird ab 2004 gemessen, beträgt jene 70 Prozent.

Allerdings beinhalten diese Ziffern nicht das seit Dezember 2011 laufende Programm, welches Familien in extremer Armut für jedes Kind und Schwangerschaft monatlich 430 BF (100Dollar) ausbezahlt. Hierdurch wird eine Halbierung der extremen Armutsrate auf 3,5 Prozent erwartet.20

Man muss hinzufügen, dass die Armutsrate nur bares Einkommen berücksichtigt. Sie beinhaltet nicht den verbesserten Zugang zur Bildung. Seit 2004 haben sich z.B. Einschreibungen an Hochschulen, an denen viele Studenten kostenfrei studieren können, verdoppelt. Ebenso wenig beinhaltet sie den für Millionen von Menschen verbesserte Zugang zum Gesundheitssystem.

Tabelle 4: Armut und Ungleichheit in Venezuela

Schlussfolgerung

Innerhalb der vergangenen 13 Jahre erlebte Venezuela zwei Rezessionen. Die erste lässt sich auf einen Streik in der Ölindustrie zurückführen, die zweite, verursacht durch die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise 2009, hätte vermutlich durch genügend antizyklische Maßnahmen verhindert werden können. Die Vermutungen über einen wirtschaftlichen Zusammenbruch, Zahlungsbilanz- oder Schuldenkrisen und andere zwielichtige Voraussagen, als auch ökonomische Prognosen entpuppten sich fortwährend als falsch.

Die enorme Rückgang der Inflation innerhalb des letzten Jahres – bei zeitgleicher Steigerung der Wirtschaftsleistung - weist darauf hin, dass die Regierung in der Lage ist, die Inflation im Griff zu halten unter Beibehalt des Wirtschaftsaufschwungs. Es wurde deutlich, dass Venezuelas interne Schuldenlast sehr gering ausfällt und die externe mäßig. Selbst wenn die Ölpreise wie 2008/09 schlagartig fallen würden, hätte der Staat genügend Kapazitäten, Krediten aufzunehmen um einem Rückgang der Nachfrage entgegenzuwirken. Der vorherige Wirtschaftsaufschwung veranschaulichte, dass private Investitionen, wie bei einem Wachstum der Wirtschaft zu erwarten, getätigt wurden. Gleichwohl könnte der Staat fehlende private Investitionen durch öffentliche ersetzen. Derartige Investitionen werden zur Produktivitätssteigerung der Wirtschaft dringend gebraucht.

Aufgrund des beträchtlichen Außenhandelsüberschusses sind Zahlungsbilanzkrisen in absehbarer Zukunft eher unwahrscheinlich, dementsprechend bedarf es auch keiner Abwertung der Währung. Auf lange Sicht mag die Regierung andere Währungsordnungen in Betracht ziehen, doch gibt es keinen ersichtlichen Anlass warum das jetzige System nicht aufrecht erhalten werden kann. Aus diesen Gründen ist der derzeitige Wirtschaftsaufschwung nachhaltig.

Eine nicht nachhaltige Wirtschaftsentwicklung bedeutet, dass bei einer solchen Ungleichgewichte vorherrschen, die nicht länger beibehalten werden können. Beispiele hierfür wären etwa die US-Wirtschaft von 2006 oder eine Anzahl weiterer Volkswirtschaften (z.B. Spanien, Großbritannien, Irland), welche riesige Immobilienblasen aufwiesen, die unausweichlich platzen mussten. Volkswirtschaften mit unbezahlbarem Schuldendienst oder hohen Leistungsbilanzdefiziten stehen meist vor unvermeidbaren Anpassungen. Generell sind selbst in diesen Fällen mögliche Alternativen zu Rezessionen, oder zumindest zu starken oder lang anhaltenden Rezessionen, vorhanden. Doch steht Venezuela nicht vor einer solchen unvermeidbaren, harten Neujustierung, welche die Wirtschaft in eine Rezession führen würde.

Betrachtet man Abbildung 12, so sank das Bruttoinlandsprodukt von 1980 – 1998 sogar um 14 Prozent. Dies war eine der miserabelsten Wirtschaftsleistungen innerhalb einer Region, die, langfristig gesehen, ihren größten Misserfolg bezüglich des Wachstums in einem Jahrhundert verbuchte.

Seit 1998 verzeichnete die Wirtschaft einen mäßigen Zuwachs des BIP/pro Kopf. Nach der Wiederherstellung politischer Stabilität und der Verstaatlichung der Ölindustrie lag dieser Zuwachs wesentlich höher. Wird ab 2004 gemessen, als die Wirtschaft ihren Höhepunkt von vor der Rezession erreichte, nahm das BIP pro Kopf jährlich um durchschnittlich 2,5 Prozent zu. Dieser Anstieg führte einerseits zu einer erheblichen Reduzierung der Armut und der extremen Armut. Andererseits wurden durch erhöhte Sozialausgaben Erfolge im Gesundheits- und Bildungswesen verzeichnet. Und, wie Abbildung 13 zeigt, egal wie hoch die jährliche Inflationsrate von 22 Prozent (seit 1998) auch sein mag; in den Jahren vor Chávez lag sie mit 34 Prozent ungleich höher.

Schätzungen des United States Geological Survey zufolge verfügt Venezuela mit etwa 500 Milliarden Barrel Erdöl über das weltweit größte Vorkommen. Die bislang nachgewiesenen Reserven betragen ca. 300 Milliarden Barrel. Davon werden derzeit ungefähr eine Milliarde pro Jahr genutzt. Solange politische Stabilität vorherrscht, und das tut sie seit der Verstaatlichung der Erdölindustrie, wird Venezuela in der Lage sein, mit vernünftiger Wirtschaftspolitik stabile wirtschaftliche Wachstumsraten vorzuweisen.

Abbildung 12: Venezolanisches BIP pro Kopf, vor und nach Chávez

Abbildung 13: Venezolanische Inflation, vor und nach Chávez (Die Daten für 2012, welche zum Vorjahr verglichen werden, sind vom August 2012)


Literatur

  • 1. Siehe Rosnick und Weisbrot (2007) und Forero (2003).
  • 2. Ministerio del Poder Popular Para la Comunicación y la Información (2012).
  • 3. In erster Linie ist die Bruttoverschuldung die gewöhnliche Maßeinheit; die Nettoverschuldung ist wesentlich relevanter, ist jedoch nicht immer ohne weiteres den offiziellen Daten zu entnehmen. Die verwendeten Zahlen stellen die Bruttoverschuldung dar.
  • 4. Die Zahlen des IWF sind um 3,5 Prozent des BIPs höher als das, was aus Regierungsangaben errechnet werden kann. Der IWF berichtet von 45,5 Prozent; wohingegen sich die Regierungsangaben auf 42 Prozent des BIPs belaufen.
  • 5. a. b. Abgesehen von politischer Debatten über das Problem der öffentlichen Verschuldung; in den USA, z.B. bezahlt der Staat zur Zeit weniger als ein Prozent des BIP an Nettozinsen für die föderalen öffentlichen Schulden.
  • 6. Siehe Rosnick und Weisbrot (2007) und Forero (2003).
  • 7. Siehe z.B., Chinea (2012).
  • 8. Siehe z.B., Cancel (2012).
  • 9. Ministerio del Poder Popular Para la Comunicación y la Información (2012).
  • 10. In erster Linie ist die Bruttoverschuldung die gewöhnliche Maßeinheit; die Nettoverschuldung ist wesentlich relevanter, jedoch nicht immer ohne weiteres den offiziellen Daten zu entnehmen. Die verwendeten Zahlen stellen die Bruttoverschuldung dar.
  • 11. Die Zahlen des IWF sind um 3,5 Prozent des BIPs höher als die Zahl, die aus Regierungsangaben entnommen kann. Der IWF berichtet von 45,5 Prozent, wohingegen sich die Regierungsangaben auf 42 Prozent des BIPs belaufen.
  • 12. Um eine Auswertung der Literatur über die Angemessenheit der Reserven zu erhalten; siehe Wijnholds und Kapteyn (2001).
  • 13. Ruttenberg und Weisbrot (2010).
  • 14. Jahr der Studie zur Kaufkraftparität. Andere Jahre sind Schätzungen, die auf BIP-Deflatoren beruhen.
  • 15. Wegen der Preise nicht-handelbarer Güter und Dienstleistungen, die dazu neigen, in Entwicklungsländern vergleichsweise niedriger auszufallen, und wegen der Überwertung des US-Dollars. Zum Teil ist diese allgemeine Unterbewertung der Währungen einer Überbewertung des Dollars zuzuschreiben – der Währung, mit der alle anderen verglichen werden. Wenn der Dollar fällt, muss es – per Definition – zu einer allgemeinen Aufwertung anderer Währungen kommen. Siehe Taylor und Taylor (2004) für weitere Informationen über KKP- Messungen.
  • 16. Das letzte Jahr, bevor der IWF eine Abwertung vermutete.
  • 17. Siehe z.B., Forero (2010) und Jaramillo (2010).
  • 18. Banco Central de Venezuela (2012b).
  • 19. Daten zählen für das erste Quartal 2012.
  • 20. Agencia Venezolana de Noticias (2012).