Remesas gelten als erheblicher Beitrag zur Ernährungssicherheit und wichtige Quelle für Resilienz in Zeiten steigender Preise und hoher Inflation. Als sozialer Schutzfaktor stabilisieren sie das herrschende System und federn Krisen ab. Jeder siebte Mensch weltweit ist als Sendende:r oder Empfangende:r Teil der remesa-Ökonomie.
Am von Palmen gesäumten Strand der afroindigenen Garífuna-Gemeinde San Juan in Honduras ist es ruhig an diesem Morgen. Drei oder vier Kanus rotten im Sand vor sich hin, ein paar magere Hunde schnüffeln am Seegras, Pelikane kreisen über den gemächlich anrollenden Karibikwellen. Am Horizont ist nur ein Fischerboot zu sehen. "Die Fischerei lohnt sich nicht mehr", sagt Don Wilfredo, ein graugelockter Mittsechziger: "Es ist mühsam und gefährlich aufs offene Meer rauszufahren - und dann bringt man kaum einen Fang nachhause. Da verlieren die Jungen natürlich das Interesse und gehen weg. Früher konnten wir auch noch in der Lagune fischen, aber da holzen die Reichen und Mächtigen aus der Stadt jetzt die Mangroven ab und schütten Kies für ihre Ferienhäuser auf." "Wovon leben denn dann die Einheimischen hier?" fragen wir, eine kleine Delegation von Journalist:innen aus Deutschland. "Fast alle, die noch da sind", antwortet Don Wilfredo, "leben davon, was ihre Verwandten ihnen aus den USA schicken. Von den remesas. Damit kaufen sie Essen im Supermarkt und wir verlieren unsere traditionelle Ernährung und unsere Kultur."
Die interamerikanische Entwicklungsbank (BID) hat eine ganz andere Sicht auf die privaten Geldtransfers von Migrant:innen (remesas, remittances oder Remissen) und wird, sonst eher unüblich für Finanzinstitutionen, dabei fast ein bisschen pathetisch: "Geldüberweisungen sind viel mehr als nur ein Transfer von Geld von einem Land in ein anderes. Sie sind ein emotionales und finanzielles Bindeglied, das die migrantischen Arbeiter:innen mit ihrer Heimat und ihren Familien in den Herkunftsländern verbindet. Für die Empfängerfamilien sind Geldüberweisungen eine Quelle der Hoffnung und Sicherheit und haben einen erheblichen Einfluss auf ihre Lebensqualität."1
Private Geldsendungen stellen einen wichtigen sozialen Schutzfaktor dar
Und die Bank hat in der Tat Zahlen, Statistiken und die tägliche Erfahrung von Millionen Menschen auf ihrer Seite: Ihre jüngste Studie für die zentralamerikanischen Länder El Salvador, Guatemala und Honduras sowie Mexiko und die Dominikanische Republik zeigt, dass die privaten Überweisungen die Armut in diesen Ländern um zwei Prozentpunkte reduzieren, den Gini-Index, der Ungleichheit misst, um ein Prozent. 2,2 Millionen Menschen wurden im Zeitraum 2017-2019 durch die Geldsendungen ihrer emigrierten Familienmitglieder vor Armut bewahrt, so die BID. Besonders auffällig ist der Effekt für das kleine Land El Salvador, wo die Reduktion von Armut sogar 6 Prozent betrug. Dabei profitierten offenbar in allen fünf Ländern die ärmeren Familien am stärksten. In den zentralamerikanischen Staaten bestritten die Empfänger:innen durchschnittlich 88 Prozent ihrer Lebensmitteleinkäufe aus remesas, 45 Prozent ihrer Ausgaben für Gesundheit, 38 Prozent ihres Budgets für Dienstleistungen (wie etwa Strom, Wasser, Internet) und 9 Prozent ihrer Ausgaben für Bildung2.
Was für Don Wilfredo in Honduras und viele indigene Aktivist:innen weltweit ein Anlass zur Sorge ist und zu Beginn der 2000er Jahre auch in akademischen Kreisen noch als problematisch, da nicht strukturverändernd, kritisiert wurde3, scheint heute auf dem internationalen Parkett fast unumstritten als ein erheblicher Beitrag zur Ernährungssicherheit und eine wichtige Quelle für Resilienz in Zeiten steigender Preise und hoher Inflation zu gelten. Während der COVID-Pandemie zeigte sich besonders deutlich, dass die privaten Geldsendungen generell stabil bleiben und in Krisenzeiten sogar anwachsen. Laut BID stellen sie einen wichtigen sozialen Schutzfaktor dar, der viel stärker wirkt als die Sozialsysteme der betreffenden Länder und hilft, Risiken wie Arbeitsplatzverlust oder die Folgen von Klimakrise und Umweltkatastrophen abzufedern.
Auch der internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung der Vereinten Nationen (IFAD) betont die positiven Seiten der Geldtransfers. So heisst es in einer Mitteilung zum 16. Juni, dem Internationalen Tag der familiären Geldtransfers, aus dem Jahr 2023: In den letzten 20 Jahren habe sich der Wert der Rücküberweisungen verfünffacht. "Es ist beachtenswert, dass eine Milliarde Menschen – jeder siebte Mensch auf der Welt – an den Überweisungen beteiligt ist, als Sendende (200 Millionen migrantische Arbeiter:innen) oder Empfangende (durchschnittlich jeweils eine vierköpfige Familie). Jeder neunte Mensch auf der Welt (insgesamt etwa 800 Millionen) profitiert von diesen Geldströmen." Mehr als 70 Länder weltweit, so der IFAD, sind mit über 4 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes von Rücküberweisungen abhängig. Migrantische Arbeitnehmer:innen schickten durchschnittlich alle ein bis zwei Monate 200 bis 300 US-Dollar in ihr Herkunftsland. Das seien nur 15 Prozent ihres Einkommens, denn der Rest verbleibe in den Aufnahmeländern. Die überwiesenen Beträge könnten jedoch bis zu 60 Prozent des gesamten Haushaltseinkommens ausmachen und sicherten den Lebensunterhalt von Millionen von Familien."4
Nach Angaben der Weltbank sind private Rücküberweisungen von Migrant:innen seit 2015 die größte Quelle externer Finanzströme in Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen (LMICs) mit Ausnahme von China. Sie sind etwa drei mal so hoch wie die staatliche Entwicklungshilfe und übersteigen auch die ausländischen Direktinvestitionen erheblich5. Für das Jahr 2023 werden Rücksendungen in LMICs auf 669 Milliarden US-Dollar (von 860 Milliarden US-Dollar insgesamt) geschätzt6. 2023 waren die fünf wichtigsten Empfängerländer für Rücküberweisungen unter den LMICs Indien (125 Milliarden US-Dollar), Mexiko (67 Milliarden), China (50 Milliarden), die Philippinen (40 Milliarden) und Ägypten (24 Milliarden)7.
Die Bedeutung von remeas wird in den nächsten Jahren weiter wachsen
Zu den Volkswirtschaften, in denen die Rücküberweisungen einen enormen Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachen, gehören Tadschikistan (48 Prozent des BIP), Tonga (41 Prozent), Samoa (32 Prozent), Libanon (28 Prozent) und Nicaragua (27 Prozent)8. Die weiteren zentralamerikanischen Staaten folgen mit Anteilen jeweils um die 25 Prozent.
Aus den USA werden weitaus am meisten familiäre Geldtransfers getätigt, gefolgt von den Golfstaaten (vor allem Saudi Arabien und den Arabischen Emiraten) sowie Russland, von wo aus viele remittances nach Zentralasien fließen9.
"Während der Krisen haben die Migrant:innen die Risiken gemeistert und ihre Widerstandsfähigkeit bewiesen, um ihren Familien in der Heimat zu helfen. Die hohe Inflation und das gedämpfte globale Wachstum beeinträchtigen jedoch den Geldbetrag, den sie zurückschicken können", konstatiert Iffath Sharif, Direktorin der Weltbank für sozialen Schutz und Arbeitsfragen zum Jahresende 2023: "Die Arbeitsmärkte und die Sozialpolitik der Aufnahmeländer müssen die Migrant:innen einbeziehen, deren Rücküberweisungen eine wichtige Lebensader für die Entwicklungsländer sind."10. Was hier angedeutet wird, kann im Klartext auch so weitergelesen werden: Im globalen Kapitalismus ist der Export billiger und leicht auszubeutender, wenig geschützter Arbeitskraft zu einem Schlüsselelement geworden. Er fördert die Konzentration von Kapital und lässt die Ungleichheiten zwischen Staaten wachsen, ermöglicht jedoch auch ganzen Staaten zu überleben, indem ihre verarmte Bevölkerung ihre Grundbedürfnisse aus privaten Rücksendungen ihrer Familienmitglieder befriedigt.11. Die Staaten, in die viele remesas fließen, profitieren zusätzlich auch davon, dass die ausländischen Devisen ihre Haushaltsdefizite verringern, Zahlungsbilanzen verbessern und weder verzinst, noch zurückgezahlt werden müssen. Den Preis für dieses Modell entrichten die Migrant:innen auf den immer teurer und gefährlicher werdenden Migrationsrouten. Oftmals bezahlen sie mit ihrer Gesundheit oder sogar dem Leben.
Ein rundum gutes Geschäft sind zumindest die offiziellen privaten Geldtransfers hingegen für Banken und wenige spezialisierte Unternehmen, die eine Art Kartell bilden und hohe Gebühren kassieren.12. Die Globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG 10) fordern eine Senkung dieser Überweisungsgebühren auf 3 Prozent der transferierten Summe bis zum Jahr 2030. Davon ist man derzeit noch weit entfernt. 2023 betrugen die Transferkosten für 200 US-Dollar noch durchschnittlich 6 Prozent. Die Gebühren sind meist umso höher, je kleiner die transferierte Summe ist.13. Mit einer wirklich nachhaltigen Entwicklung, die von den Gemeinden, ihren autonomen Entscheidungen, Territorien und Strukturen ausgehen müsste, hat dieses SDG, das ganz dem neoliberalen Konzept folgt, aber ohnehin nicht viel zu tun.
Die Bedeutung der remesas wird auch in den nächsten Jahren weiter wachsen, wobei ein neuer Trend sichtbar wird: Die Abschottungspolitik der USA und Europas und strengere Grenzkontrollen führen dazu, dass immer mehr Migrant:innen in früheren Transitländern wie Mexiko oder Guatemala bzw. Marokko, Tunesien und der Türkei festsitzen. Auch sie bekommen zunehmend Geldsendungen von ihren Verwandten, die "es geschafft" haben. Weltbankexperte Ratha meint dazu: "Diese Geldströme wirken sich positiv auf die Wirtschaft der Aufnahmeländer aus."14
Dieser Beitrag erschien (ohne Fußnoten) in der Zeitschrift Hinterland #56 /2024, S.57ff.
- 1. https://blogs.iadb.org/migracion/es/el-papel-de-las-remesas-en-centroamerica-mexico-y-republica-dominicana-en-el-alivio-a-la-pobreza/
- 2. Ebd. Eine aktuelle Studie des staatlichen Statistikinstituts zu Honduras nennt 78 Prozent für Lebensmittel, 31,4 Prozent für Gesundheit, 30,1 Prozent für Dienstleistungen https://ine.gob.hn/v4/wp-content/uploads/2023/12/ENMR-2023-Honduras.pdf
- 3. Vgl. https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/57401/rueckueberweisungen-brueckenschlag-zwischen-migration-und-entwicklung/
- 4. https://www.ifad.org/es/web/latest/-/sending-money-home-ten-reasons-why-remittances-matter-now-more-than-ever Migrant:innen erwirtschafteten 2021 eine Wertschöpfung von weltweit neun Billionen Euro. Bis zum Jahr 2050 werde sich dieser Wert auf rund 20 Billionen Euro mindestens verdoppeln, so eine Untersuchung des Beratungsunternehmens BCG für die Vereinten Nationen. https://www.businessinsider.de/wirtschaft/zuwanderung-migration-chance-fuer-unternehmen-und-staaten-studie-un-bcg/#:~:text=Das%20w%C3%A4ren%20etwa%201%2C7,Wertsch%C3%B6pfung%20von%20neun%20Billionen%20Euro
- 5. https://www.imf.org/en/Publications/fandd/issues/2023/09/B2B-resilient-remittances-dilip-ratha, https://www.bancomundial.org/es/news/press-release/2023/12/18/remittance-flows-grow-2023-slower-pace-migration-development-brief
- 6. Sämtliche Zahlen zu den privaten Rücksendungen sind immer nur grobe Schätzungen, da es unter anderem keine einheitliche Erhebung in den einzelnen Staaten gibt und ein beachtlicher Teil auch auf nicht offiziellen Wegen in bar oder über das hawala-System gesendet wird. Zur kritischen Diskussion der Zahlen siehe z.B. https://migrantmoney.uncdf.org/wp-content/uploads/2023/02/Migrant-Money-Note-7-FINAL-1.pdf
- 7. Kurzzusammenfassung zu den Daten: https://www.migrationdataportal.org/themes/remittances#:~:text=In%202023%2C%20remittance%20flows%20to,et%20al.%2C%202023a Ausführliche Datensammlung und Analyse in: https://www.knomad.org/publication/migration-and-development-brief-39)
- 8. https://www.bancomundial.org/es/news/press-release/2023/12/18/remittance-flows-grow-2023-slower-pace-migration-development-brief
- 9. https://www.imf.org/en/Publications/fandd/issues/2023/09/B2B-resilient-remittances-dilip-ratha
- 10. siehe 8
- 11. Vgl. Carolina Stefoni, « Migración, remesas y desarrollo », Polis 30, 2011 https://journals.openedition.org/polis/2389
- 12. https://www.imf.org/en/Publications/fandd/issues/2023/09/B2B-resilient-remittances-dilip-ratha
- 13. https://www.ifad.org/es/web/latest/-/sending-money-home-ten-reasons-why-remittances-matter-now-more-than-ever
- 14. https://www.imf.org/en/Publications/fandd/issues/