Argentinien / Politik

Argentinien: "Es wäre eine Art Wunder, wenn Sergio Massa gewänne"

Die Linke müsse sich bei der Stichwahl zuallererst der Verantwortung bewusst sein, gegen die Barbarei zu stimmen ‒ meint Soziologe Lucas Rubinich

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Lucas Rubinich bei der Vorstellung von "Contra el homo resignatus" im Centro Cultural de Fiske Menuco in Roca (Mai 2023)
Lucas Rubinich bei der Vorstellung von "Contra el homo resignatus" im Centro Cultural de Fiske Menuco in Roca (Mai 2023)

Was ist seit den Paso-Wahlen1 im August passiert, wie kam es trotz anderslautender Umfragen überhaupt zum Sieg von Javier Milei?

Der Hintergrund der Wahlergebnisse ist die tiefe Krise der beiden historisch dominanten Parteien in Argentinien, Radicalismo und Peronismus. Im Fall des Radicalismo 2 kam diese mit der Präsidentschaft von Fernando de la Rua [1999-2001], beim Peronismus geschah dies noch früher, während der Amtszeit von Präsident Carlos Menem [1989-99].

Beide Präsidenten brachen mit politischen Traditionen ihrer Seite und trugen dazu bei, dass sich die historischen Parteibindungen auflösten und quasi "freie" Wählerschichten entstanden. Bis zu den 1980er Jahren waren die größten Teile der Bevölkerung parteipolitisch gebunden, das heißt sie wählten fast immer die Kandidaten ihrer Partei. Heute sind die traditionellen Parteibindungen sehr schwach und große Wählerschichten entscheiden sich bei jeder Wahl neu.

Daneben ist ein anderes wichtiges Phänomen der argentinischen Politik zu beachten: Die politische Auseinandersetzung ist bei uns, auch in ihrer Ästhetik, zu einer "TV-Talkshow-Politik" geworden, mit all ihren Folgen. Zum Beispiel die Dispute zwischen der Vizepräsidentin und dem Präsidenten, oder zwischen Regierung und Opposition im Parlament. Diese Gefechte kreisen oft um persönliche Aspekte, sie werden in vulgärer und verletzender Sprache geführt, Diffamierungen sind üblich. Das alles ähnelt den Politik-Talkshows anderer Länder, aber bei uns scheint es quasi keine Debatten mehr zu geben, die sich um Sachfragen drehen oder in denen nüchtern argumentiert wird.

Bei den Paso-Wahlen im August siegte ein extrem extravaganter Politiker, der für diese Talkshow-Politik der weitaus beste und überzeugendste Kandidat war. Es war derjenige, der großen Unsinn oder persönliche Beleidigungen mit großer Perfektion äußerte. Daher war das Ergebnis im August ein Protestvotum, mit dem viele Wähler ihren Ärger gegenüber der traditionellen Politik zum Ausdruck brachten. Denn Milei hat Recht, wenn er die traditionellen politischen Eliten als "Kaste" im negativen Sinne bezeichnet, das hat die Leute angezogen.

Zwar wird Milei oft als Querkopf oder Verrückter abgetan, dessen Aussagen keine Kohärenz besitzen. Doch sein Versprechen, "alles über Bord zu werfen", kam bei den Leuten gut an, denn es entsprach einem Wunsch nach Neuanfang. All das führte zu diesem großen Wählerzufluss vor allem aus jenen Sektoren, die sich in ihren politischen Traditionen nicht mehr geborgen und von der traditionellen Politik allein gelassen fühlen.

Aber wie konnte Massa dieses Szenario wenden und am 22. Oktober die Stimmen zurückholen?

Die Wahlen vor drei Wochen, der erste Wahlgang, waren eine ganz andere Sache. Plötzlich ging es um die Wahl eines Staatspräsidenten, das Votum musste an diesem Horizont ausgerichtet werden. Auf einmal sahen die Leute in Milei vielleicht die clowneske Avantgarde einer neuen Rechten, aber weit weniger einen guten Kandidaten für das höchste Amt im Staat.

Viele Leute gingen bei den Paso-Wahlen nicht zur Wahl oder haben den Eliten einen Denkzettel verpasst, indem sie einen Provokateur gewählt und somit gegen die mangelnde Repräsentativität der institutionellen Politik protestiert haben.

Aber danach begannen sich die Wähler zu fragen, ob man einer solchen Figur wirklich das Präsidentenamt zutraut, und viele ließen ihn fallen. Und das gilt auch für die politische Klasse selbst, denn je näher die Stichwahl kommt, desto lauter artikulieren sich die Akteure aus der gemäßigten Rechten, die Milei nicht als Präsidenten haben will.

Dazu kommt, dass Mileis Kandidatin für die Vizepräsidentschaft eine "Negationistin" ist, die die brutale Militärdiktatur [1976-1983] verherrlicht. Sie stellt sich damit gegen einen Konsens, der in Alfonsíns Präsidentschaft entstand: Eine politisch breite, klassenübergreifende und auch staatliche Verurteilung der von der Diktatur begangenen Verbrechen, und die offizielle Anerkennung, dass es sich dabei um Staatsterrorismus handelte. International gesehen sind wir eine der wenigen post-diktatorialen Gesellschaften, in denen das erreicht wurde.

Villaruel dagegen verteidigt die Diktatur quasi ohne Wenn und Aber. Jüngst forderte sie gar, die verbliebenen inhaftierten ranghohen Militärs freizulassen, da sie die "bevorstehenden Aufstände", die es mit der Machtübernahme von Milei geben würde, mit größerer Effizienz niederschlagen könnten. Angesichts dessen melden sich Akteure aus Politik, Gesellschaft und Kultur zu Wort, die erklärtermaßen Anti-Peronisten sind, aber niemals Milei wählen würden.

Ein anderer wichtiger Faktor war schließlich, dass Massa nach den Paso-Wahlen begann, wie ein Staatsmann zu reden und zu handeln. Man kann ihm vieles vorwerfen, ihm gegenüber Sympathien oder Antipathien haben. Aber man muss anerkennen, dass Massa die Dinge seriös bearbeitet, die Probleme nicht kleinredet. Er geht große, dramatische Probleme an, ohne die Nerven zu verlieren, und sagt, wie er sie mit einer von ihm geführten Regierung angehen würde, für die er nun zu einer Regierung der nationalen Einheit aufgerufen hat. Das alles war sicher die richtige Strategie, aber auch die Diskussion um den Umgang mit der Militärdiktatur hat viele Leute zu Massa zurückkommen lassen.

Was halten Sie von einer Interpretation, die der argentinische Journalist und Historiker Martín Caparrós jüngst in der spanischen Zeitung El País formuliert hat. Demnach ist es Massa gelungen, die Kluft zwischen Kirchnerismus 3und Anti-Kirchnerismus nicht nur innerhalb des Peronismus, sondern ansatzweise auch in der Gesellschaft und Politik zu überwinden.

Ja, das scheint mir sehr zutreffend zu sein. Massa versucht bisher relativ erfolgreich, ein Erneuerer und Bewahrer zugleich zu sein, also beide Seiten zu versöhnen. Er hat es geschafft, beinahe das ganze sehr fragmentierte und oft illoyale Spektrum des Peronismus hinter sich zu versammeln. Gewerkschaften wie alle peronistischen Gouverneure und Bürgermeister sind nun auf seiner Seite, obwohl einige in den Vorwahlen hinter vorgehaltener Hand einen anderen Kandidaten bevorzugt oder nur halbherzig Wahlkampf gemacht haben. Massa hat es letztlich geschafft, alle hinter sich zu vereinen und in einen Wahlkampf einzuspannen, für den er große Begeisterung entfacht hat.

Unabhängig davon, ob Massa am 19. November gewinnen wird, ist daher sein außerordentlicher Wille zu kämpfen anzuerkennen. Er steht am Steuerrad einer Titanic, die jeden Moment untergehen kann, und scheint allen Stürmen zu trotzen. Massa muss mit dem IWF verhandeln und viele Hinterlassenschaften der Vorgängerregierung richten. Und er muss bei allem Ruhe und Zuversicht bewahren, obwohl diese Titanic namens Argentinien morgen oder übermorgen untergehen kann. Unabhängig von allem anderen ist das bewundernswert.

Wird es nicht bald schon zu Problemen und Konflikten in den Reihen derer kommen, die sich nun hinter Massa sammeln, vor allem zwischen den traditionellen peronistischen Sektoren und den Radicales oder moderaten Konservativen?

Ich glaube nicht, nicht notwendigerweise. Zudem gibt es eine interessante neue Konstellation: Massa hat es geschafft, in den Verhandlungen mit dem IWF und in den Gesprächen mit dem US-Botschafter sowie mit nationalen und globalen Unternehmen ein Vertrauensverhältnis zu den Protagonisten des globalen Kapitalismus aufzubauen, ohne auf die Kritik an deren Exzessen zu verzichten.

Das nationale und internationale Establishment oder Finanzkapital, die politische Klasse der USA, sofern sie nicht radikale Trumpisten sind – sie alle stehen eher auf Massas Seite, was auch in historischer Sicht ein Novum ist. Denn die Beziehungen zwischen dem Peronismus und den USA und dem Kapitalismus waren immer komplex und oft eher feindselig. Heute aber ist der Zeitgeist anders, der globale Techno-Kapitalismus bevorzugt eine gemäßigt neoliberale Politik, die mit Massa vereinbar scheint und mit der sich auch die Gewerkschaften letztlich arrangieren können.

Massa hat es also geschafft, dass einige gegenüber dem Peronismus traditionell kritische Akteure und Milieus seinen möglichen Sieg sehr wohlwollend sehen. Und er hat es geschafft, für viele Kreise in Politik und Wirtschaft sowie im Ausland als der Kandidat zu gelten, der die "Regierbarkeit" und Stabilität des Landes am besten gewährleistet, was auch sehr bemerkenswert ist.

Natürlich wird es langfristig zu Konflikten innerhalb seiner sehr heterogenen Unterstützer kommen. Und Massa wird auch jene Wähler von seiner Politik überzeugen müssen, die ihn allein aus Angst vor Milei gewählt haben.

Wie interpretieren Sie den jüngst geschlossenen "Pakt" von Milei mit Ex-Präsident Mauricio Macri, wie wird er die Wahl beeinflussen?

Macri [2015-2019] steht für den opportunistisch-skrupellosen Teil der Rechten. Unter Einfluss seiner Berater hat sich die von ihm gegründete Partei "Propuesta Republicana" seit Jahren in einen Handelsbetrieb von Mayonnaise verwandelt, zum Schmieren von den Umständen geschuldeten politischen Emotionen – sie handelt rein opportunistisch. In jüngster Zeit ist sie zudem zu einer Art Nachbarschaftsverein des Barrio Norte geworden, denn sie wird von einer Clique aus diesem wohlhabenden Viertel in Buenos Aires dominiert.

Der sogenannte Pakt von Macri und Milei hat große Zerwürfnisse im rechten Lager hervorgebracht, die anhalten werden. De facto hat er die konservative Opposition gesprengt.

Vieles an dem Pakt ist auf die politische und persönliche Eitelkeit von Macri zurückzuführen. Er gibt sich als ein Caudillo alter Schule, der die verschiedenen liberalen, konservativen und anti-peronistischen Sektoren vereinen könne, aber das Gegenteil ist der Fall.

Die Liberalen, deren Familien oft von der Militärdiktatur verfolgt wurden, werden Milei nicht wählen und keinen Wahlkampf für ihn machen. Kurz, Macri hat mit dem Bund mit Milei die eigene Partei und das lose anti-peronistische Bündnis zerstört, was aber nicht heißt, dass es völlig chancenlos sein wird.

Dieser Pakt wurde auf Kosten vieler konservativer Akteure gemacht, auch der drittplatzierten Patricia Bullrich. Er war aufgezwungen und löscht fast alles an innerparteilicher Demokratie aus, was die Konservativen gegenüber der autoritären peronistischen Gewerkschaftsbewegung auszeichnete.

Noch während der Amtszeit von Macri hatten Viele die Illusion, dass es eine Art demokratische, republikanische Rechte mit innerparteilicher Demokratie geben könne, aber diese wurde bald von Macris eitlem Autoritarismus zerstört.

Aber schwächt der Pakt nicht auch Milei selbst, denn er widerspricht ja seiner tausendfach wiederholten Rhetorik des Anti-Establishment?

Klar, wenn du wie Milei lange gegen die politische "Kaste" wetterst und dich dann mit dieser verbündest, bist du nicht mehr glaubwürdig. Und nicht nur verbündest, sondern dich ihr teilweise unterordnest. Denn der Ex-Präsident ist ein extrem einflussreicher und mächtiger Politiker und Unternehmer, er hat unter anderem Anteile am Fernsehkanal der konservativen Tageszeitung La Nación. Viele von Mileis disruptiven Ansätzen und Elementen sind damit wieder eingefangen worden. Alle, die mit der Stimme für Milei ihre Unzufriedenheit mit der politischen Klasse zum Ausdruck bringen wollten, sehen sich nun enttäuscht.

Zusammengefasst, was ist Ihre Prognose für den zweiten Wahlgang?

Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Massa gewinnt, aber es wird kein leichter Sieg. Er ist durch sein Amt als Wirtschaftsminister sehr belastet, denn er ist für die höchste Inflation seit Jahrzehnten und für andere negative Wirtschaftszahlen verantwortlich. Obwohl er die kleinen Leute mit Ausgleichs- und Pensionszahlungen beschwichtigt hat, wäre es eine Art Wunder, wenn er gewänne.

Sein möglicher Sieg ist nur zu verstehen mit der großen Furcht, die sein grotesker Gegenkandidat Milei hervorruft. Man muss das Fernsehduell abwarten, aber große Teile der Bevölkerung werden einem Kandidaten zum Sieg verhelfen, der unter normalen Umständen nur schwer gewinnen würde.

Auch die Linke selbst muss sich bei dieser Wahl zuallererst der Verantwortung bewusst sein, gegen die Barbarei zu stimmen. Und zugleich sollte sie sich auf den Widerstand einstimmen gegen das, was danach kommen wird. Denn auch unter einem Präsidenten Massa wird es Zumutungen und Ungerechtigkeiten geben, die oft in den Auflagen des IWF begründet sind. Davon werden meist die kleinen Leute, vor allem die in informellen Beschäftigungsverhältnissen, betroffen sein. Die Linke darf daher nicht aufhören, auf die Straße zu gehen.

Lucas Rubinich aus Argentinien ist Soziologe und Lehrstuhlinhaber an der Universität von Buenos Aires. Große Beachtung fand sein jüngstes Buch "Contra el homo resignatus – Siete ensayos para reinventar la rebeldía política en un mundo invadido por el desencanto".

  • 1. Paso-Wahlen: die "offenen, gleichzeitigen und verbindlichen Vorwahlen" (Primarias, abiertas, simultáneas y obligatorias). Daran müssen alle Parteien teilnehmen, die bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen antreten wollen. Die Teilnahme ist für alle Bürger zwischen 18 und 70 Jahren verpflichtend. Es können Kandidaten jeder Partei gewählt werden, auch ohne Mitglied zu sein
  • 2. Zentristische Bewegung und Partei, unter anderen um den Ex-Präsidenten Ricardo Alfonsín, Amtszeit 1983-89
  • 3. Linke, staatsinterventionistische Strömung, benannt nach den Präsidenten Néstor Kircher (2003-2007) und Cristina Fernández de Kirchner (2007-2015)