The West against the Rest (III)

Brasilianischer Experte wirft dem Westen "Arroganz" und Ignoranz gegenüber dem Globalen Süden vor. Dieser strebt eine Welt ohne westliche Dominanz an

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Lula besuchte am 13. April das Forschungs- und Entwicklungszentrum von Huawei in Shanghai
Lula besuchte am 13. April das Forschungs- und Entwicklungszentrum von Huawei in Shanghai

"Europäische Spitzenpolitiker und Meinungsmacher" haben "nicht den Hauch einer Vorstellung ... von den Sichtweisen und Erwartungen der nicht-westlichen Welt":

Zu diesem Urteil kommt ein brasilianischer Politikwissenschaftler und Ex-Berater von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva nach dessen Besuch in China mit Blick auf die negativen bis verächtlichen westlichen Reaktionen darauf.

Und mit Blick darauf, dass Kanzler Olaf Scholz bei seinem Brasilien-Besuch Ende Januar Lula zu Munitionslieferungen an die Ukraine aufforderte, erklärt Giorgio Romano Schutte, auch Berlin gebe sich "nicht die geringste Mühe", "Brasiliens Haltung zu verstehen und zu respektieren".

Die herbe Kritik am Umgang des transatlantischen Westens mit dem Globalen Süden erfolgt angesichts der Tatsache, dass in der nichtwestlichen Welt gänzlich andere Auffassungen zum Ukraine-Krieg, zu Russland und zur künftigen Weltordnung dominieren. Bereits im Februar zeigte eine Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR), dass dort Russland weithin als Verbündeter oder zumindest strategischer Kooperationspartner gilt und eine multipolare Weltordnung angestrebt wird – ohne die bisherige westliche Dominanz.

Divergierende Positionen zum Krieg

Im Februar hatte eine Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) bestätigt, dass sich die Positionen westlicher und nichtwestlicher Länder zum Ukraine-Krieg wie auch zu Russland allgemein diametral unterscheiden – dies nicht nur auf der Ebene der Regierungspolitik, sondern auch auf der Ebene der Bevölkerungen. Die Umfrage wurde einerseits in diversen EU-Staaten, Großbritannien und den USA, andererseits in Russland, China, Indien und der Türkei durchgeführt. In den westlichen Ländern sprachen sich jeweils klare Mehrheiten für die Forderung aus, die Ukraine solle auch dann alle ihre Territorien zurückgewinnen können, wenn dies eine längere Kriegsdauer und mehr ukrainische Todesopfer mit sich bringe.

In der nichtwestlichen Welt wünschten klare Mehrheiten jedoch ein schnellstmögliches Kriegsende, selbst wenn die Ukraine dafür Gebiete abtreten müsse. Die Ansicht, es gehe dem Westen bei seiner Unterstützung für die Ukraine vor allem darum, seine globale Dominanz zu verteidigen, stieß in der Türkei auf deutliche Zustimmung und wurde in Russland und in China sogar von einer relativen Mehrheit vertreten. Im Westen dominierte die Überzeugung, Russland werde aus dem Krieg deutlich geschwächt, jenseits des Westens, es werde aus ihm deutlich gestärkt hervorgehen.1

Jenseits der westlichen Dominanz

Klare Unterschiede zeigten sich auch bei den Bündnisoptionen und in den Perspektiven auf die künftige Weltordnung. Im Westen stufte mehr als die Hälfte der Bevölkerung Russland als Gegner ein; zählte man diejenigen hinzu, die das Land als Rivalen bezeichneten, ergaben sich Mehrheiten von zwei Dritteln (EU) oder mehr (Großbritannien, USA).

Jenseits des Westens sahen 70 Prozent (Türkei) oder sogar 80 Prozent (China, Indien) Russland als Verbündeten an oder doch zumindest als einen Kooperationspartner, auf den man nicht verzichten könne; Ersteres überwog klar in Indien, Letzteres in China und in der Türkei.2

Im Westen ging eine relative Mehrheit davon aus, es ziehe – wie einst im Kalten Krieg – eine bipolare Welt herauf, in der der US-geführte Westen und China gegeneinander kämpften; entsprechend müsse der Westen versuchen, Staaten wie Indien sowie die Türkei fest auf seine Seite zu ziehen.

Jenseits des Westens rechnete die Mehrheit jeweils damit, dass künftig entweder eine nichtwestliche Macht wie China dominieren oder – wahrscheinlicher – eine multipolare Welt entstehen werde. Weder in Indien noch in der Türkei war Bereitschaft dafür erkennbar, sich prinzipiell auf die Seite des Westens zu schlagen. Die Länder des Westens müssten sich wohl daran gewöhnen, dass der Rest der Welt nicht mehr "einfach tun wird, was sie wünschen", konstatierte der ECFR.

"Die globale Geopolitik ausbalancieren"

Dass die nichtwestliche Welt nicht mehr bereit ist, sich dem Westen unterzuordnen, hat kürzlich Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bekräftigt, als er bei einer Reise nach China nicht nur demonstrativ der US-Sanktionspolitik trotzte – mit einem Besuch bei Huawei – und die USA wie auch die EU aufforderte, sich im Ukraine-Krieg endlich auf eine Verhandlungslösung einzulassen. Lula teilte darüber hinaus ausdrücklich mit, sein Land wolle "die globale Geopolitik ausbalancieren" (german-foreign-policy.com berichtete).

Wenige Tage später empfing Lula in Brasília Russlands Außenminister Sergej Lawrow. Hatte es in Berichten schon während seines Besuches in China abfällig geheißen, Lula sage dort, weil er sich Investitionen chinesischer Konzerne erhoffe, bloß, "was China hören" wolle3, so wurde nun zuweilen suggeriert, Brasilien breche die Beziehungen zu Russland nur deshalb nicht ab, weil es von dessen Düngemittellieferungen abhängig sei. Lula sei dabei, "seinen Bonus im Westen zu verspielen", hieß es drohend.4

Umgekehrt wurde es begrüßt, dass Lula während seines Besuches in Portugal erklärte: "Wir verurteilen die territoriale Verletzung der Ukraine und glauben an eine internationale Ordnung, die auf Recht und der Achtung nationaler Souveränität basiert".5 Dies schien westliche Positionen zu bestätigen.

Westliche Arroganz

Mit Blick auf die westliche Einschätzung etwa der Politik Brasiliens, aber auch der Politik anderer nichtwestlicher Staaten kommen außereuropäische Beobachter inzwischen zu harten Urteilen. So schreibt etwa Giorgio Romano Schutte, Associate Professor für Internationale Beziehungen und Wirtschaft an der Universidade Federal do ABC in São Paulo über die Reaktionen auf Lulas Besuch in China:

"Europäische Spitzenpolitiker und Meinungsmacher beweisen, dass sie nicht den Hauch einer Vorstellung haben von den Sichtweisen und Erwartungen der nicht-westlichen Welt". Dass Staaten "wie Brasilien, Südafrika und Indien" heute "den Narrativen und der Politik der Nato-Staaten und ihrer Verbündeten nicht blind folgen", dürfe "niemanden überraschen", erklärt Schutte, ein früherer Lula-Berater. Aus ihrer Ablehnung der westlichen Kriegspolitik sei nicht zu schließen, "dass sie den russischen Einmarsch in die Ukraine gutheißen".6 Vielmehr entzünde sich im Globalen Süden Unmut daran, dass der Westen "die berechtigten Klagen und sicherheitspolitischen Sorgen Russlands" nicht anerkenne und "andere Meinungen und Lösungsversuche mit Arroganz quittiert". Dass Bundeskanzler Olaf Scholz während seines Besuchs in Brasilien Ende Januar gar Munitionslieferungen an die Ukraine gefordert habe, zeige, dass Berlin sich "nicht die geringste Mühe" gebe, "Brasiliens Haltung zu verstehen und zu respektieren".

Das Ende der eurozentrischen Welt

Schutte verweist außerdem darauf, dass auch die politische Doppelmoral des Westens im Globalen Süden auf Ablehnung stößt. Der brasilianische Wissenschaftler erinnert daran, dass weder der Krieg gegen Jugoslawien im Jahr 1999 noch diejenigen gegen den Irak im Jahr 2003 und gegen Libyen im Jahr 2011 völkerrechtskonform gewesen seien.7 In Afghanistan seien "Billionen von US-Dollar investiert" worden, "um das Land zu ruinieren" und es "am Ende doch wieder den Taliban zu überlassen".

Auch der ungleiche Umgang mit Flüchtlingen aus der Ukraine und aus Staaten außerhalb Europas spreche Bände. "Die Behauptung, die Nato-Staaten und ihre Verbündeten seien ‘die Stimme der internationalen Staatengemeinschaft, die eine regelbasierte Ordnung respektiert‘", sei "schlicht und einfach unzutreffend", schreibt Schutte. "Europa mag steif und fest behaupten, dass Russland sich selbst isoliert – aus der Perspektive des Globalen Südens stellt sich das ganz anders dar." All dies stärke "im Globalen Süden das Bewusstsein dafür, dass er intensiver kooperieren ... muss".

Schutte ist davon überzeugt: "Die eurozentrische Welt geht ihrem Ende entgegen, die Vormachtstellung der USA wird infrage gestellt. Diese Entwicklung wird sich auch durch mehr Waffenlieferungen an die Ukraine nicht aufhalten lassen."

  • 1. Timothy Garton Ash, Ivan Krastev, Mark Leonard: United West, divided from the rest: Global public opinion one year into Russia’s war on Ukraine. ecfr.eu 22.02.2023.
  • 2. S. 1.
  • 3. Tjerk Brühwiller: Lula sagt, was Peking hören will. faz.net 13.04.2023.
  • 4. Alexander Busch: Lula empfängt Lawrow – und brüskiert die USA und Europa. handelsblatt.com 18.04.2023.
  • 5. Lula kritisiert Russlands Angriff auf Ukraine. morgenpost.de 25.04.2023.
  • 6. Giorgio Romano Schutte: Das Ende des Westens. ipg-journal.de 18.04.2023.
  • 7. S. 7.