"Noch haben wir Zeit, das Unmögliche möglich zu machen"

Resignation ist die schlimmste aller Niederlagen, sagt der argentinische Friedensnobelpreisträger Pérez Esquivel

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Partizipative Demokratie ist notwendig, damit die Völker ihre Rechte ausüben, Entscheidungen treffen und den zu gehenden Weg bestimmen können
Partizipative Demokratie ist notwendig, damit die Völker ihre Rechte ausüben, Entscheidungen treffen und den zu gehenden Weg bestimmen können

Die Völker begreifen die Notwendigkeit, Wege der Einheit in der Vielfalt zu finden, und streben danach, ein Zusammenleben und Frieden in der ständiger Dynamik der sozialen, kulturellen, politischen und spirituellen Veränderung zu erreichen.

Die Menschheit erlitt zwei Weltkriege mit Millionen von Toten und Verwundeten und der Zunahme von Marginalisierung und Armut; die Gemeinschaft der Nationen strebte danach, diese Tragödie zu überwinden und sich einen Verhaltenskodex zu geben. Dies war die Geburtsstunde der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte, ein wertvoller Beitrag. Die Gemeinschaft der Nationen kam voran bei der Schaffung von Räumen des Zusammenlebens und beim Wiederaufbau des Lebens der Völker, jedoch ohne die kapitalistischen, wirtschaftlichen und politischen Herrschaftsstrukturen zu verändern, die ihre internationale Macht behaupteten und dabei Konflikte und andere Kriege provozierten, die die Ost-West-Konfrontation, die Intoleranz, die Diskriminierung und die Konzentration ökonomischer Macht in wenigen Händen verstärkten.

Diesen Vortrag hielt ich schon vor einigen Jahren an der Katholischen Universität von Córdoba in Argentinien. Ich denke aber, dass er angesichts der aktuellen Realität weiterhin Gültigkeit besitzt, und so habe ich den Überlegungen einige Problemfelder wie die Covid-19- Pandemie – eine beispiellose Tragödie, die die gesamte Menschheit betrifft – und die andere Pandemie, und das ist der Hunger in der Welt, hinzugefügt.

Thomás Merton zeigt auf, dass kein Heer Garant für den Frieden ist; alle sind darauf ausgerichtet, mit der Macht der Waffen Gewalt auszuüben.

Die Welt erlebt Konflikte und Kriege "niedriger Intensität", hinzu kommen die alltäglichen Völkermorde durch Hunger, Armut und die Machtkonzentration bei jenen, die die Weltherrschaft ausüben.  Sie zwingen den Völkern Beherrschungsmechanismen wie "Auslandsschulden" auf und eignen sich die Güter und Ressourcen der ärmsten und schwächsten Länder an.

Heute kommt zu den Militärputschen in verschiedenen Ländern auch noch der "Lawfare", das heißt der Krieg mit juristischen Mitteln hinzu, der in Brasilien gegen Lula, in Honduras gegen Manuel Zelaya, in Bolivien mit dem Staatsstreich gegen die Regierung von Evo Morales und in Paraguay gegen Fernando Lugo entfesselt wurde; zudem die ständige Agression gegen Kuba und Venezuela, die die Herrschaftspolitik entlarvt, welche die USA Lateinamerika aufzuzwingen versuchen.

Die Menschheit muss sich Herausforderungen stellen, die in vielerlei Aspekten die bisher bekannten übersteigen; Wisenschaft und Technik haben neue Wege eröffnet, und wir müssen achtsam sein. Ich möchte einfach einige dieser uns beunruhigenden, neu aufgekommenen Aspekte aufzeigen .

Die Technologie hat die Menschheit zur Beschleunigung der Zeitabläufe geführt, was wiederum den natürlichen Rhythmus verändert hat und im menschlichen Wesen sowie in unseren Gesellschaften tiefgreifende und irreversible Veränderungen hervorgebracht hat; wie zum Beispiel die asymetrischen Rhythmen, die die sogenannten unterentwickelten Völker erleben, die nicht werden gleichziehen können mit denen, die über die technologischen und wissenschaftlichen Kenntnisse verfügen.

Die technische Zeit unterscheidet sich von der kosmischen ebenso wie von der menschlichen Zeit. Sogar noch mehr: Die Technologie verändert nicht nur die kosmische Zeit, sondern auch die menschliche "Zeitlichkeit", und deshalb hat die Technik die beeindruckende Macht, außer der menschlichen Natur schlicht und einfach die Natur an sich zu verändern – wie Raimon Panikkar aufzeigt.

Auf jeden Fall ist es eine Tatsache, dass der Mensch allein, ohne die Hilfe der Technik, nicht der Maschine folgt, sondern von ihr verschlungen wird. Andererseits müssen wir uns dessen bewußt sein, dass die Technologie gekommen ist, um zu bleiben und es daher notwendig ist, die Fähigkeit zur Herstellung des Gleichgewichtes und nicht der Abhängigkeit zu entwickeln.

Die Menschheit verfügt über technologische und wissenschaftliche Voraussetzungen, um den Hunger zu überwinden. Es reicht aus, die Berichte der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) zu lesen. Darin wird bestätigt, dass täglich weltweit mehr als 35.000 Kinder an Hunger sterben. Der Hunger ist ein chronisches Übel und die Covid-19-Pandemie hat die soziale Ungleichheit noch vertieft, man rechnet mit weltweit 821 Millionen Menschen, die Opfer des Hungers werden. Ein ökonomischer Völkermord, über den nicht gesprochen wird und der Teil des sogenannten absichtlichen Vergessens wird in einer Welt, die in der Lage ist, diese schreckliche Geißel der Menschheit zu überwinden.

Der brasilianische Arzt Josué de Castro, der Leiter der FAO war, hat in den 1960er-Jahren ein Werk veröffentlicht, dass weiterhin Gültigkeit hat: Die Geographie des Hungers. Darin weist er auf die schwerwiegende Situation der Ungleichheit zwischen den Völkern hin. Es sind die stillen Kriege, die einen großen Teil der Menschheit betreffen. Josué zeigt, dass "der Hunger die biologische Ausprägung einer soziologischen Krankheit ist".

Ich möchte an Dr. Norman Borlaug erinnern, der 1970 den Friedensnobelpreis für die sogenannte Grüne Revolution bekam; eine herausragende Persönlichkeit, mit der ich zu verschiedenen Gelegenheiten zusammentraf. Er glaubte, dass seine Arbeit verstanden und angewandt werden würde, um den Hunger in der Welt zu überwinden; er war sich völlig im Klaren über die Notwendigkeit, neue Methoden und Techniken bei der Nahrungsmittelproduktion zu finden. Jedoch wurden seine Beiträge benutzt für die Schaffung von Monokulturen und kostenintensiven Technologien mit großen Umweltauswirkungen; für die erzwungene Einführung von Pestiziden, um im Namen der Entwicklung höhere Produktionserträge zu erzielen; und für die Ausdehnung der Flächen der Monokulturen, welche die Biodiversität zerstören. Kleine und mittlere landwirtschaftliche Produzenten werden dadurch vertrieben, dem Leben und der Mutter Erde Schaden zugefügt..

Mit Norman Borlaug haben wir geredet und diskutiert über die Produktion, die Entwicklung und die Souveränität und die reichhaltige und vielfältige Nahrungsmittelkultur der Völker. Auch über die Folgen der aufgezwungenen Produktion von Monokulturen für die kleinen und mittleren ländlichen Produzenten. Und über die von Regierungen und Unternehmen, die Entwicklung mit Ausbeutung verwechseln, praktizierte Politiken, welche die Biodiversität und den Reichtum der Gemeinschaften und Völker schädigen. Und sie vertiefen die Ungleichheit für diejenigen, die nicht über die ökonomischen und technischen Ressourcen verfügen, um die Asymmetrien zu überwinden, und die unter den ökologischen und ökonomischen Folgen zu leiden haben. Sie werden aus ihren Gebieten vertrieben und ihnen werden Pestizide und die Abhängigkeit von transgenem Saatgut aufgezwungen. Zusätzlich zu diesen Wirtschaftspolitiken verursacht der Mega-Bergbau schwere Schäden an natürlichen Ressourcen wie Wasser und an der Umwelt.

Diese Politiken der Ausbeutung können nicht ohne die Zustimmung und die Komplizenschaft der Regierungen umgesetzt werden, die die aktuelle Konjunktur im Blick haben und nicht den Strukturwandel, den die Völker für ihr Leben und ihre Entwicklung brauchen.

An der Universität von Tokio hatte ich vor einigen Jahren die Gelegenheit, Vandana Shiva, eine indische Forscherin, kennenzulernen, die damals dort arbeitete und die Ursachen und Wirkungen der Landwirtschaftsproduktion, der Politiken und Konsequenzen der großen wirtschaftlichen Interessen anprangerte.

Es ist wichtig, ihre Arbeiten und einige ihrer Hauptwerke zu kennen, u.a. Biopiraterie. Kolonialismus des 21. Jahrhunderts, Geraubte Ernte – Biodiversität und Ernährungspolitik, Erd-Demokratie – Alternativen zur neoliberalen Globalisierung, wo sie die ernste Lage der Bauern in Indien wegen der Aneignung ihres von Generation zu Generation weitergegebenen Wissens und ihrer Erfahrungen durch transnationale Unternehmen darlegt; diese eignen sich das Wissen und das Saatgut der Völker an und patentieren es; und wenn diese Völker ihre Rechte einfordern, werden ihre sozialen Proteste unterdrückt, sie werden gezwungen, für das genveränderte Saatgut zu bezahlen; dazu noch werden Antiterror-Gesetze gegen sie angewandt, das Recht der Völker wird von den Regierungen verletzt.

Wie Fritjof Capra aufzeigt, ist es notwendig, die Schwerpunkte unserer Analysen zu verändern: "Die neuen Konzepte der Physik haben zu einem tiefgreifenden Wandel in unserer Vision von der Welt geführt. Sie haben den Schritt von der Newtonschen mechanistischen Konzeption hin zu einer ganzheitlichen und ökologischen bestimmt. Es geht um die Suche nach Werten und Ethik in unseren Gesellschaften, Universitäten und Schulen und darum, die gesellschaftliche Teilhabe zu fördern und die Mutter Erde zu schützen."

Das vorrangige Anliegen der Völker ist es, die natürlichen Ressourcen, das Wasser und die Biodiversität zu bewahren, die heute durch die Verwüstungen und die Gefräßigkeit jener in Gefahr sind , die das Finanzkapital gegenüber dem Leben der Völker priorisieren; sie vergessen dabei, dass Preis und Wert nicht dasselbe sind. Es gibt diejengen, die meinen, dass man den "Kapitalismus humanisieren" müsse; ich glaube nicht, dass das möglich ist, denn er wurde ohne Herz geboren. Der Kapitalismus ist die Entmenschlichung, die das Gesicht und Bewußtsein der Menschheit verloren hat.

Der technische Fortschritt hat viel Licht und Schatten; einerseits hat die Wissenschaft das Leben der Menschen verlängert, die Entfernungen zwischen den Völkern beseitigt, sie hat die Lebensdauer bis zu einem noch vor Kurzem in der Welt nicht vermuteten Grad erhöht; und andererseits müssen wir uns bewußt machen, dass die Maschine sich nicht mehr an den Menschen anpaßt, sondern dass es der Mensch ist, der sich dem Rhythmus der Maschine anpassen muß. Das, was man sich vergegenwärtigen muß, ist die Beschleunigung; das Leben des menschlichen Wesens und die Technik haben uns dazu gebracht, uns zu fragen, wohin wir gehen und wofür.

Ich möchte kurz darlegen, was wir unter Menschenrechten verstehen. Obwohl deren Prinzipien in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen auf den Grundlagen und Werten der Religionen und Denkern aus verschiedenen Zeiten und Epochen fußen, ist es doch grundlegend, klarzustellen, von wo aus man eine korrekte Annäherung vornehmen muss, um nicht den Grenzen und der Ermüdung der Menschenrechtspolitik zu verfallen.

Die Menschenrechte sind umfassend und gehören schon an sich zum Leben der Personen und der Völker. Heute sind es die Gemeinschaften, die an dem Fehlen von Garantien für ihre volle Entfaltung in der Demokratie leiden, deshalb sind Menschenrechte und Demokratie untrennbare Werte; sie werden im tagtäglichen Handeln geschaffen, in der sozialen, kulturellen und politischen Teilhabe. Daher müssen wir die Menschenrechte in ihrer Gesamtheit verstehen und das Gleichgewicht zwischen dem menschlichen Wesen und der Mutter Erde wieder herstellen und die Schöpfung und ihre Evolution bewahren.

Es ist dringend nötig, das Leben auf dem Planeten zu schützen, bevor es zu spät ist; den Blick und die Gedanken darauf zu richten, das Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen des menschlichen Wesens und der Mutter Erde – unserem gemeinsamen Haus – wieder herzustellen. Es gibt Wege, die man gehen kann, wenn man das planetarische Leben im Auge behält, die Enzykliken von Papst Franziskus, Laudato Si und Fratelli Tuti sind ein Aufruf an den Verstand und an das Herz. Andere Denker, Theologen, Wissenschaftler rufen dazu auf, neue Wege für das Leben zu finden.

Es ist nötig, neue Paradigmen hin zur Schaffung eines "Neuen Sozialpaktes" zu finden, sonst werden die großen wirtschaftlichen Interessen fortfahren, das Gemeinsame Haus zu zerstören. Die Rebellion der Völker in der gegenwärtigen Situation besteht darin, das Gleichgewicht zwischen ihren Bedürfnissen und der Achtung vor der Mutter Erde wieder herzustellen, bevor es zu spät ist. Die gegenwärtigen repräsentativen Demokratien entsprechen nicht den Bedürfnissen der Völker, und der Aufbau von partizipativen Demokratien ist notwendig, wo sie ihre Rechte ausüben, Entscheidungen treffen und den zu gehenden Weg bestimmen können und nicht die ganze Macht an ihre Regierungen abgeben.

Einige Möglichkeiten und Ansätze, um alternative Wege zu finden: Die Akademie für Umweltwissenschaften in Venedig hat eine Kampagne gestartet für die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs für Umweltverbrechen, denen die Menschheit weltweit ausgesetzt ist, wie zum Beispiel die Verwüstung und die Vergiftung, die Brände und die Abholzung. Vorgeschlagen wird die Reform des Artikels 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs und die Einbeziehung von Verbrechen gegen die Mutter Erde als Verbrechen gegen die Menschheit wegen des Schadens, den Unternehmen verursachen, die unter totaler Straffreiheit und in Komplizenschaft mit vielen Regierungen agieren, etwa bei der Zerstörung der Produktionskapazitäten der kleinen und mittleren Produzenten.

Wenn wir die Zeit betrachten, die seit dem Gipfel von Río bis Rio+20 vergangen ist, müssen wir darauf hinweisen, dass bei Río+20 die Möglichkeiten, voranzukommen, das Gegenteil von dem waren, was angekündigt wurde; dass sich die Vernichtung der Wälder und der Biovielfalt weiter verschärft hat und in vielen Ländern Ausmaße an Vergiftung und Vernichtung natürlicher Ressourcen wie Wasser erreicht wurden, die zu irreparablen Umweltschäden führten.

Die Kampagne der FAO hat zum Ziel, bis zum Jahr 2030 den Hunger in der Welt zu überwinden, aber ich glaube nicht, dass dieses Ziel in der gegenwärtigen weltweiten Situation von Ausbeutung und Abhängigkeit erreicht wird.

Angesichts der Covid-19-Pandemie, die die Menschheit erleidet, ist es dringend, dass die Impfstoffe alle sozialen Gruppen erreichen und dass sie ein freies und kostenloses Gut für die gesamte Menschheit sind. Die Impfungen werden helfen, aber sie werden das tödliche Virus Covid-19 nicht beseitigen; das Problem besteht darin, das Gleichgewicht mit der Mutter Erde wieder herzustellen. Man muss lernen zu leben.

Es ist dringend notwendig, ein kritisches Bewußtsein und Wertvorstellungen zu entwickeln und zu verstehen, dass wir Teil und nicht Besitzer der Mutter Erde sind. Wir müssen die cartesianische Denkstruktur ändern und das ganzheitliche Denken verstehen, das es uns ermöglichen wird, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, Identität und Werten, das heißt das Gleichgewicht der Schöpfung wiederzuerlangen.

Es sind viele Herausforderungen, vor denen wir in unseren Ländern und der Welt stehen, und wir müssen in unserem Inneren die Kraft der Spiritualität suchen und die Liebe in Aktion umsetzen. Wir müssen das kritische Denken und die Werte in Gang bringen, die es uns emöglichen, einen "Neuen Sozialpakt" zu entwickeln und aufzubauen, um die Schöpfung zu bewahren und nicht in Defätismus zu verfallen, wo es keinen Ausweg heraus aus dem herrschenden System und aus den Beherrschungsmechanismen gibt, unter deren erdrückender Last heute zwei Drittel der Menschheit leiden. Die schlimmste aller Niederlagen ist die Resignation.

Wir müssen die Hoffnung stärken, dass eine andere Welt möglich ist, nicht die Medikamente, die den Schmerz mildern, aber nichts ändert sich. Es ist notwendig, die Herausforderungen anzunehmen, der Widerstand und das Erwachen der Völker sind notwendig; damit aufhören, Zuschauer zu sein, sich selbst als Subjekte und Erbauer der eigenen Geschichte zu begreifen, bevor es zu spät ist für das Leben auf diesem Planeten.

Dieser Beitrag von Adolfo Pérez Esquivel erschien zuerst am 18. Januar bei Agencia Paco Urondo und wurde von anderen alternativen lateinamerikanischen Medien weit verbreitet