"Lateinamerika ist auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Neoliberalismus"

Chile war das "Flaggschiff" des Neoliberalismus in Lateinamerika. Dieses Schiff ist gesunken, und jetzt wird ein neues Kapitel aufgeschlagen

chile_wird_das_grab_des_neoliberalismus_sein_11-2019.jpg

"Chile wird das Grab des Neoliberalismus sein" (Santiago, November 2019)
"Chile wird das Grab des Neoliberalismus sein" (Santiago, November 2019)

Um eine Bilanz der Ereignisse der letzten Monate in der Region zu ziehen und einen Blick auf die Zukunft zu werfen, führte La Época ein exklusives Interview mit dem renommierten argentinischen Intellektuellen Atilio Boron

In den letzten drei Jahren gab es in Lateinamerika und der Karibik Tendenzen des Aufstiegs, des Abflauens und der Wiederbelebung progressiver und linker Projekte. Welche Bedeutung hat das Geschehen in Bolivien für die Region?

Eine sehr wichtige, weil die Niederlage des Putschregimes von Jeanine Áñez einen Prozess des Aufschwungs progressiver Regierungen konsolidiert, der seinen ersten Ausdruck im Sieg von Andrés Manuel López Obrador [Amlo] in Mexiko gefunden hatte und sich dann als Trend im Sieg der Regierung der Frente de Todos bei den argentinischen Wahlen vom Oktober 2019 bestätigt hat.

Wie ist es zu verstehen, dass die USA mittels der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) einen Putsch gegen Evo Morales befördert haben und ein Jahr später zulassen, dass die Bewegung zum Sozialismus (MAS) an die Macht zurückkehrt? Gab es etwas Ähnliches in der Geschichte des Kontinents?

Nein, ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Ich denke, um zu verstehen, was passiert ist, sind mindestens zwei Faktoren zu berücksichtigen. Erstens, die starke Wiederbelebung der popularen Proteste und, darauf aufbauend, die rasche Reorganisation der MAS, welche die Rechte in Bolivien und ihre nordamerikanische Herren überraschte. Sie dachten, dass sich mit der blutigen Unterdrückung und mit Evo und seinem Führungsstab im Exil oder im Gefängnis die langfristige Stabilisierung des Putschprojekts erreichen ließe, und das war nicht so. Die Widersprüche innerhalb des reaktionären Blocks und die unglaubliche Borniertheit seiner Führer erleichterten die Rückeroberung der popularen Initiative.

Das andere Element war die Schwächung der Manövrierfähigkeit der USA und ihrer lokalen Akteure ‒ Figuren, die Produkte des politischen Marketings sind, aber kein reales Gewicht in der Gesellschaft haben; und ebenso der enorme Prestigeverlust der OAS durch ihre niederträchtige Beteiligung am Diebstahl des Sieges von Evo Morales bei den Wahlen 2019. Unter diesen Bedingungen wäre eine Wiederholung der Putschoption auf eine Mauer von Protesten und Widersprüchen sowohl innerhalb Boliviens als auch im internationalen System gestoßen.

Zusammenfassend: Die überwältigende aufständische Kraft, die aus den Tiefen der bolivianischen Gesellschaft kommt, die Uneinigkeit des rechten Flügels und die geringen Spielräume für eine Intervention Washingtons erzwangen ein Ergebnis zugunsten des popularen Lagers. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Moment der Schwäche des gegnerischen Lagers nun ausgenutzt wird und die entsprechenden Lehren aus der Zeit der Morales-Regierung gezogen werden.

Als Erforscher progressiver und linker Prozesse in der Region gefragt: Welchen Herausforderungen sehen sich diese derzeit gegenüber, um sich zu konsolidieren und beim Aufbau gerechterer Gesellschaften voranzukommen?

Das Wichtigste ist, sich darüber klar zu sein, dass sich die Rechte rächen wird, wenn die Veränderungsprozesse nicht vorankommen und vertieft werden; dass es das Schlimmste und der sichere Weg zu einem erneuten Scheitern wäre, wenn sie den Sirenengesänge des "praktisch Erreichbaren" nachgeben; zu glauben, dass die Opposition sich nicht mehr despotisch und brutal verhielte und dass sie nun die Tugenden des demokratischen Dialogs verstanden hätte.

Deshalb wird es notwendig sein, sich dieser Situation sehr bewusst zu sein und ohne Verzögerung in der Organisierung des popularen Lagers voranzukommen, das in Ländern wie Argentinien, Mexiko sehr unorganisiert und innerlich gespalten ist, und ich wage zu sagen: auch in Bolivien.

Darüber hinaus wird es notwendig sein, dass diese neuen fortschrittlichen Regierungen begreifen, dass sie an der Förderung der popularen Bildung arbeiten müssen – das heißt, für die Bewusstseinsbildung der popularen Massen, in Anlehnung an Paulo Freire – und dabei zu vermeiden, in den Ökonomismus der Vergangenheit zu verfallen. Während der Regierungen von Cristina [Fernández], [José] Mujica und selbst Evo [Morales] in Bolivien wurde der Fehler gemacht, anzunehmen, dass es ausreichen würde, Einkommen umzuverteilen und ein bescheidenes Maß an Wohlstand zu garantieren, damit diejenigen, die von dieser Sozialpolitik profitierten, sich von der konsumistischen und letztlich konservativen Mentalität befreien und sich den Reihen der Regierungspartei anzuschließen, was nur in geringem Umfang geschah.

Außerdem müssen diese Regierungen die entscheidende Bedeutung des Kommunikationskampfes erkennen. Eines der Hindernisse, mit denen sich eine progressive Regierungsführung in der heutigen Zeit konfrontiert sieht, ist die starke Asymmetrie, die zwischen den Medien der Rechten und des Imperialismus und denen besteht, die den popularen Interessen dienen. Wenn man nicht versucht, dieses Ungleichgewicht zumindest teilweise zu korrigieren, wird die permanente Unterminierungsarbeit der Rechten gegen die popularen Regierungen dazu führen, dass ihnen jede Fähigkeit zur transformatorischen Initiativen genommen wird.

Mexiko, Argentinien, Bolivien, und natürlich Kuba, Venezuela und Nicaragua... wie ist eine echte und konkrete regionale Integration zu erreichen, die über das Diskursive hinausgeht? Ist es wirklich möglich, so etwas durchzuführen?

Zweifelsohne ist dies möglich. Aber dazu braucht man konkrete Fachstudien, die es ermöglichen, auf den Wegen der Integration über die Ebene der Rhetorik hinaus voranzukommen. Aufgrund der Blockade und der Sanktionen gegen Nicaragua, Venezuela und Kuba wird es viele Schwierigkeiten geben, aber selbst so gibt es Möglichkeiten, punktuelle Vereinbarungen in Bezug auf bestimmte Bereiche des internationalen Handels zu treffen. Argentinien und Bolivien haben eine ziemlich solide Beziehung der wirtschaftlichen Integration aufgebaut. Mexiko war isoliert, aber es schließt sich nun Südamerika an, und das ist sehr gut für uns. Nicht nur kommerzieller, sondern auch kultureller Austausch kann mit dem Land der Azteken stattfinden, was sehr wichtig wäre.

Es gibt Bereiche, in denen es eine Zusammenarbeit auf hohem Niveau geben kann: zum Beispiel in der Biotechnologie, die in Kuba, Mexiko und Argentinien hoch entwickelt ist. Bolivien verfügt über außergewöhnliche Ressourcen an Lithium, die ihm die Möglichkeit vielfältiger Verknüpfungen in Produktionsketten nicht nur in den oben genannten Ländern, sondern in der ganzen Welt sichern. Aber dafür sind, wie für fast alles bei der Führung einer Regierung, Fachwissen und politischer Mut erforderlich. Fehlt eines der beiden, funktioniert die Sache nicht.

In Ecuador besteht die reale Möglichkeit, dass der Vertreter der Partei der Revolución Ciudadana, Andrés Arauz, gewinnen könnte. Welche Bedeutung hätte ein solcher Sieg für Ecuador und die kontinentale progressive Bewegung?

Die Möglichkeit besteht, und tatsächlich führt zum jetzigen Zeitpunkt das Bündnis UNES mit 36,5 Prozent der Wahlabsichten. [...] Wenn die politische Vernunft überwiegt, sollte ein Bündnis zwischen Arauz, Kandidat der UNES, und dem indigenen Anführer Yaku Pérez einen durchschlagenden Sieg in der ersten Runde ermöglichen. Hoffen wir, dass Ressentiments, Kleinkrämereien und Neid nicht die Vision der Genossinnen und Genossen in Ecuador trüben und dass sie gewinnen. Ihr Wahlsieg hätte eine sehr positive Auswirkung auf die gesamte Region und vor allem auf die andine Welt.

Welche Tragweite haben der soziale Aufstand in Chile und das kommende Verfassungsreferendum für den anti-neoliberalen Kampf? Was sind die möglichen Ergebnisse dieser lang anhaltenden und tiefgreifenden Revolte?

Die Bedeutung ist enorm, denn Chile war, wie wir alle wissen, das "Flaggschiff" des Neoliberalismus in Lateinamerika und sogar weltweit. Und dieses Schiff ist gesunken, hat Schiffbruch erlitt, und jetzt wird ein neues Kapitel aufgeschlagen. Natürlich wird die politische Kaste, die sich seit dem Putsch von 1973 dieses Landes bemächtigt hatte, ihre Privilegien und ihre über ein halbes Jahrhundert gefestigten Machtbefugnisse nicht so einfach aufgeben. Sie werden versuchen, den Sinn des Verfassungskonvents zu verfälschen, indem sie eine Zwei-Drittel-Sperrklausel einführen, mit der sie, da sie in der Minderheit sind, gegen jede von den Bürgern gewählte grundlegende Änderung ein Veto einlegen könnten.

Aber die Gemüter in Chile sind sehr erhitzt und die Menschen werden nicht passiv hinnehmen, wenn ihnen gesagt wird, dass ihr Kampf vergeblich war, dass es so viele Tote gegeben hat, ohne etwas zu erreichen, und dass die 500 jungen Menschen, die durch die Repression der Carabineros ihr Augenlicht verloren haben, dies umsonst taten. Ich glaube, dass eine neue und sehr turbulente Periode in Chile bevorsteht und dass eine Volksrevolte wie im Oktober 2019 bereits brodelt.

Chile, Peru, Ecuador, Kolumbien... was passiert mit dem Neoliberalismus in Lateinamerika und der Karibik? Ist er wirklich in der Krise? Wenn ja, kann er sich daraus befreien oder ist er zum Tode verurteilt?

Der Neoliberalismus ist am Ende. Er war bereits in einem schlechten Zustand, da er nicht in der Lage war, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und die Rezession zu beenden, die die Weltwirtschaft seit 2008 belastet. Der chilenische Schiffbruch ist emblematisch, ein Modellfall, so wie es, von einem anderen politischen Standpunkt aus betrachtet, die Sowjetunion war. Ihr Einsturz verursachte den Zerfall der Glaubwürdigkeit des Modells der ultrazentralisierten und verstaatlichten Planung der Wirtschaft. Auf der anderen Seite des ideologischen Quadranten übt der chilenische Fall, der später die neoliberalen Reformen von Ronald Reagan und Margaret Thatcher inspirierte, denselben Einfluss aus.

Das wirtschaftliche Desaster, das der Verräter Lenín Moreno in Ecuador angerichtet hat, ist gewaltig, ganz zu schweigen von der humanitären Katastrophe, die der langsame soziale Genozid im Kolumbien von Iván Duque bewirkt. Auf der anderen Seite hat Peru gerade 30 Jahre Fujimori-Neoliberalismus abgeschüttelt ‒ Produkt eines enormen Aufbegehrens, hauptsächlich von jungen Menschen und Frauen. All diese Länder sind auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Neoliberalismus, und sie werden ihn zweifellos finden.

Wie ist ihr Blick auf das Wahlpanorama und die Volkskämpfe, zusätzlich zur Neukonfiguration von Blöcken, auf dem lateinamerikanischen und karibischen Subkontinent?

Ich sehe ein gesellschaftliches Panorama, das es uns erlaubt, begründete Hoffnungen zu haben. Chile steuert auf eine sehr bedeutende Veränderung zu. Pinochets Verfassung so energisch abzulehnen, ist ein sehr deutliches Zeichen. Wir haben bereits gesehen, was im Hinblick auf die Wahlen am 7. Februar in Ecuador im Gange ist. Peru ist auf der Suche, und angesichts der mobilisierten Massen ist die Ablehnung des Erbes des Neoliberalismus sehr klar. In Mexiko finden Mitte des Jahres Wahlen statt, und es wird eine Bestätigung der Vormachtstellung von Amlo erwartet. Im Oktober gibt es in Argentinien Zwischenwahlen, und wenn die Pandemie eingedämmt werden kann und sich die Wirtschaft erholt (letzteres ist bereits zu beobachten), würde die Rechte eine neue Niederlage erleiden. Kurzum: ein sehr günstiges regionales Klima für Bolivien und seine neue Regierung.

Was denken Sie über die Geschehnisse in den USA mit dem Angriff auf das Kapitol? Wer ist [Joe] Biden und was können wir von ihm erwarten?

Der Angriff war ein verzweifeltes Manöver von Donald Trump, der dafür teuer bezahlen muss. Allerdings haben die Republikaner keinen anderen Anführer, der dem formidablen Demagogen, als der sich der New Yorker Magnat entpuppt hat, Einhalt gebieten könnte. Aber mit dem vom Repräsentantenhaus angeordneten Impeachment wird ein Prozess in Gang gesetzt, der in seiner Amtsenthebung enden könnte, eine Frage, die dadurch abstrakt wird, dass Trump nicht mehr Präsident ist. Aber der Senat, der genau zweigeteilt ist, könnte ihn mit einfacher Mehrheit auf Lebenszeit von öffentlichen Ämtern ausschließen, und das wäre ein tödlicher Schlag für ihn. In jedem Fall ist die Politik in den USA so sehr vom Geld bestimmt, dass es bei dieser eventuellen Abstimmung, die noch nicht entschieden ist, Überraschungen geben kann.

Was Biden betrifft, so lässt sich nur sagen, dass er im Wesentlichen einige von Trumps Politikansätzen in Bezug auf die sehr gefährliche Konfrontation mit China und Russland fortführen wird. Die Rückkehr zum Pariser Klimaabkommen ist positiv und eine gewisse Bereitschaft, ein wenig mehr zu verhandeln, ist eine nicht zu vernachlässigende Tatsache, aber im Wesentlichen wird das Imperium weiterhin seine Regeln festlegen und seine Interessen verteidigen. Vielleicht kann Kuba etwas Erleichterung von der brutalen Blockade erfahren, der Trump das Land unterworfen und die er während der Pandemie auf niederträchtige Weise verschärft hat. Und vielleicht könnte dasselbe mit Venezuela passieren, obwohl dies weniger wahrscheinlich ist. Für den Rest Lateinamerikas bedeutet der Übergang von Trump zu Biden nicht viel mehr als einen Wechsel des Stils unter Beibehaltung der gleichen Partitur. Nur dass der Pianist nicht mehr auf das Klavier einhämmert. Die Melodie bleibt die gleiche.