Kolumbien: "Wir stehen vor der Herausforderung, den Aufstand der Bevölkerung zu organisieren"

Andrea Rincón Acevedo, soziale Aktivistin und Sprecherin von Ciudad en Movimiento, über die aktuelle Mobilisierung in Kolumbien

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Andrea Rincón Acevedo, soziale Aktivistin und Sprecherin von  Ciudad en Movimiento
Andrea Rincón Acevedo, soziale Aktivistin und Sprecherin von Ciudad en Movimiento

Seit dem 21. November besetzen tausende Personen Tag für Tag die Straßen und Plätze Kolumbiens. Es ist ein umfassender und massiver landesweiter Streik, der eine breite Palette von Forderungen enthält (wie die Ablehnung der Arbeits- und Rentenreformen oder die Empörung über die tagtäglichen Morde an Indigenen und Führungspersönlichkeiten sozialer Organisationen). Alles in allem scheint der Streik jedoch den Überdruss an der Umsetzung des neoliberalen Modells und den Ungleichheiten anzuzeigen, die es produziert. Andrea Rincón Acevedo, Sprecherin der Organisation Ciudad en Movimento (Stadt in Bewegung), die zum Congreso de los Pueblos (Kongress der Völker) gehört, sagt: "Die Menschen auf den Straßen sind über die Gründe für diesen Streikaufruf hinausgegangen, und was sie ganz eindeutig sagen, ist: Weg mit Duque.“

Was passiert in diesen Augenblicken auf den Straßen Kolumbiens? Was ist das tatsächliche Ausmaß der Proteste?

Wir erleben einen der wichtigsten Momente für die Menschen meiner Generation. Ich bin 29 Jahre alt und das, was derzeit im Land passiert, habe ich nie zuvor gesehen. Wir erleben eine Situation des großen Aufruhrs mit ungewissem Ausgang. Die Regierung von Iván Duque ist ein neoliberales, autoritäres Regime, das zwei grundlegende Methoden hat, um unsere Stimmen zum Schweigen zu bringen: Einerseits setzt es Repression ein, wie bei dem Mord an dem 18-jährigen Dilan (Cruz)1, andererseits versucht es, uns zu beruhigen, und erfindet Scheinlösungen, die an den Problemen, die wir auf den Straßen tatsächlich anprangern, vorbeigehen.

Was sind die zentralen Forderungen des Streiks?

Die Mobilisierung begann mit einem 24-stündigen Streik, zu dem die Gewerkschaften für Donnerstag, den 21. November, aufgerufen hatten. Die genauen Forderungen hingen mit der Ablehnung eines Vorhabens zusammen, das wir "el paquetazo" nennen: ein neoliberales Maßnahmenpaket, das die vorherigen Regierungen umgesetzt haben und das Duque weiter vertieft. Es ist darauf ausgelegt, die Vorgaben des Internationalen Währungsfonds und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu befolgen. Diese Maßnahmen haben in erster Linie mit Arbeits- und Rentenreformen zu tun. Es ist so, dass die aktuelle Regierung weder Führungsqualitäten noch Legitimität besitzt, nicht einmal über eine Mehrheit verfügt, um den Kongress zu steuern; also hat sie keine rechtsverbindlichen Dokumente zu diesen Reformen vorgelegt und ihre erste Stellungnahme dazu lautete, dass die Reformen gar nicht existieren würden. Es ist offensichtlich, dass diese Reformen in verschiedenen Initiativen der Regierung versteckt und verschleiert werden, wie zum Beispiel im Nationalen Entwicklungsplan und in anderen Gesetzesprojekten.

Welchen Folgen hätten diese Reformen für das Leben der Arbeiterinnen und Arbeiter?

Die Reformen sind für sie in vielen Aspekten äußerst schwerwiegend. Zum Beispiel die Arbeit und die Sozialversicherungsbeiträge nach Stunden, wodurch wir jungen Menschen niemals in Rente gehen könnten. Maßnahmen der Prekarisierung und der Flexibilisierung der Arbeit: Die Regierung hat das Dekret 21/11 verabschiedet und damit die Finanzholding für staatliche Unternehmen geschaffen, was nichts anderes ist als ein Konstrukt, um 16 staatliche Firmen zu privatisieren. Dabei werden sie alle zu einem einzigen Unternehmen zusammengelegt, um sie zu privatisieren. Dies hat nicht nur schädliche Konsequenzen für den öffentlichen Besitz, sondern auch für die Arbeitsregelung von tausenden staatlichen Angestellten, die von nun an für Konzerne arbeiten werden, die gemischt oder privatwirtschaftlich aufgebaut sind. Dies sind Arbeits- und Rentenreformen, von denen die Regierung behauptet, sie würde sie nicht durchführen. Doch sie setzt sie durch Dekrete um, durch Gesetzesprojekte, durch den Nationalen Entwicklungsplan. Auf diese Weise demontiert sie das gesamte System der sozialen Sicherheit, das die Arbeiterinnen und Arbeiter über Jahre hinweg mit ihren Forderungen errungen haben.

Auch die seitens der Regierung nicht eingehaltenen Vereinbarungen spielen eine Rolle, wie das Friedensabkommen mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo, Farc-EP).

Ja, es gibt starken Protest gegen die Nichteinhaltung des Friedensabkommens sowie die Forderung, den Dialog mit der Nationalen Befreiungsarmee (Ejército de Liberación Nacional, ELN) wieder aufzunehmen. Darüber hinaus hat die Regierung hunderte von Vereinbarungen nicht eingehalten, die sie in früheren Streiks mit sozialen Organisationen unterzeichnet hatte, nicht erfüllte Abkommen mit den Kleinbauern, den Arbeitenden, den Studierenden. Daher haben wir uns dieses Mal entschieden, solange auf den Straßen zu bleiben, bis diese Vereinbarungen in reale staatlichen Maßnahmen umgesetzt wurden.

Folgendes ist passiert: Die Gesellschaft, die Menschen auf den Straßen, haben die Gründe für diesen Boykottaufruf überschritten, und was die Menschen heute mit Nachdruck fordern, ist: "Weg mit Duque", weg mit diesem faschistischen Regime, und die Menschen fordern die Auflösung der Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung, Esmad.

Wie schätzt du den Fortgang dieser Protestbewegung ein? Glaubst du, dass sie weiterhin anwachsen und sich in eine Rebellion der Bevölkerung im Stile Chiles verwandeln könnte?

Wir als soziale Organisationen stehen vor dieser Herausforderung. Aus diesem Grund treiben wir die Durchführung von kommunalen und nachbarschaftlichen Volksversammlungen voran, um uns organisieren zu können. Wir wissen, dass wir diese Regierung nicht allein mit Töpfe-Schlagen (Cacerolas) und unserer Präsenz auf den Straßen verändern können. Wir stehen vor der Herausforderung, diesen Aufstand der Bevölkerung zu organisieren. Das Volk auf den Straßen leistet Widerstand. Wir als Organisationen müssen in diesen Zeiten die größten Anstrengungen unternehmen: das Streikkomitee stärken, damit nicht nur die Gewerkschaften vertreten sind, aber auch die Initiativen der Volksversammlungen; die Partizipation der Bevölkerung stärken und diesem Aufstand sein organisatorisches Fundament geben.

Das Interview wurde für das Radioprogramm "Al sur del Río Bravo" geführt und ist hier zu hören

  • 1. Am Abend des 25. November starb Dilan Cruz nach drei Tagen auf der Intensivstation. Der 18-jährige Schüler war bei friedlichen Protesten im Zentrum Bogotás von einem Mitglied der Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung Esmad durch ein abgefeuertes Projektil schwer am Kopf verletzt worden