Objekt der Begierde: Das Amazonas-Gebiet in Brasilien

Das Modell der Ausplünderung der Erde und der räuberischen Entwicklung muss durch eines ersetzt werden, das die Interessen der Gesellschaft und der Natur wahrt

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Im Vergleich zum Vorjahr hat die Abholzung im brasilianischen Amzonasgebiet im Juli 2019 um 278 Prozent zugenommen
Im Vergleich zum Vorjahr hat die Abholzung im brasilianischen Amzonasgebiet im Juli 2019 um 278 Prozent zugenommen

Die Amazonasregion steht wegen der verheerenden Waldbrände und der fragwürdigen Umweltpolitik von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die "Lunge der Welt" war immer Objekt der Begierde und des Streits seitens der großen kapitalistischen Mächte, weil sie den größten tropischen Wald, die größten Vorkommen an Mineralien und die bedeutendste biogenetische Reserve des Planten darstellt

Die Unermesslichkeit des Amazonasgebiets

Amazonien umfasst etwa 61 Prozent des brasilianischen Staatsgebiets und stellt den größten zusammenhängenden Tropenwald der Erde dar. In der Region sind 98 Prozent des indigenen Landes, 77 Prozent der Naturschutzgebiete und dazu Ländereien der afrobrasilianischen Quilombolas. Alles zusammen macht sie 32 Prozent der brasilianischen Landfläche aus.

Ihre Ausdehnung und Biodiversität beherbergt 170 indigene Völker, 357 ständige Niederlassungen von Quilombos (Quilombos sind ländliche Niederlassungen mit mehrheitlich schwarzer Bevölkerung, ursprünglich gegründet von geflüchteten Sklaven) und tausende Gemeinschaften von Kautschuksammlern, Kastaneros (Sammler getrockneter Früchte), Riberinhos (Bewohner der Flussufer), Sammler der Babacu-Kokosnüsse, die durch die Agrarreformen angesiedelt wurden. Amazonien ist das Zuhause vieler Völker, die dort seit mehr als 11.000 Jahren leben. Die Region, die ungefähr ein Fünftel des Süßwassers der Welt führt, lagert in ihren reichen Wäldern und Böden substantielle Mengen an Kohlenstoff, die sich andernfalls in der Atmosphäre anreichern und zur globalen Erwärmung beitragen würden. Außerdem ist sie Lebensraum für tausende Spezies, die für die Wissenschaft und die Menschheit von Interesse sind.

Amazonien spielt für die Integration Südamerikas eine fundamentale Rolle. Unter den fünf Ländern mit der größten Biodiversität in der Welt sind Brasilien, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela. Außerdem gehören zu diesem Biom Bolivien, Guyana und Surinam. Der Entwaldung entgegenzutreten, den Aktivitäten der Holzfäller, dem illegalen Abbrennen, der ungeordneten Expansion der Vieh- und Sojawirtschaft ebenso wie der Errichtung großer Projekte zum Mineralabbau, zur Energiegewinnung und Straßenbau entgegenzutreten ‒ welche beträchtliche Konsequenzen für den Lebensraum, die Kultur und die Überlebensfähigkeit der Amazonasbevölkerung mit sich bringen ‒ das ist ein notwendiger Kampf in Lateinamerika und für die Völker der Welt.*

Das Agrobusiness in Amazonien

Die grüne Revolution der 1970er machte die landwirtschaftliche Monokultur zu einem Motor nicht nur der Produktion von Lebensmitteln, sondern auch des Neoextraktivismus, angewendet in der landwirtschaftlichen Intensivnutzung. Die Industrie der Agrargifte entwickelte sich, von denen Brasilien selbst einer der Hauptnutzer ist. Das Ergebnis, das wir heute haben, ist verheerend vor allem in Bezug auf die Kontamination der Böden, der Wasserläufe und der Folgen für die Gesundheit der Menschen. Dieses Voranschreiten der Monokulturen in der Produktion von Getreiden (Soja, Mijo, Weizen), von Ölfrüchten (afrikanische Palme), von Eukalyptuspflanzungen bedeutet eine intensive Ausbeutung und Entnahme von Ressourcen, von Nährstoffen aus dem Boden, von Wasser und Grundwasser.

Die Abholzung in der Region intensivierte sich entsprechend dem Neubau von Straßen und der ungeordneten Errichtung von Städten an ihren Rändern. 1960 trug Amazonien 3 Prozent zur nationalen Holzproduktion bei und 1990 waren es 27 Prozent.

In den letzten 15 Jahren können wir drei Linien der kapitalistischen Ausdehnung des Agrobusiness beobachten. Erstens den Einsatz von Technologien, die von transnationalen Konzernen produziert wurden und die auf der Basis von transgenem Saatgut die grüne Revolution auf ein außergewöhnliches Niveau bringen. Ideologisch werden die genetisch veränderten Organismen als zivilisatorischer Fortschritt verkauft, als Modernisierung, die vorgeblich Brasiliens landwirtschaftliche Probleme überwinden und außerdem die Entwaldung vermindern würde.

Die zweite Linie ist eben genau das Voranschreiten der Agrarfront. Obwohl die Regierungen der Arbeiterpartei (PT) die Entwaldung in Amazonien bekämpft haben, in dem sie Systeme entwickelten, die Sozial- Umwelt- und Sicherheitspolitik verbunden und mit einem fortschrittlichen Monitoring kombiniert haben, drang die Agrarindustrie unersättlich in die brasilianischen Cerrados ein, die größte Savanne der Welt und das zweitgrößte Biom Brasiliens. Es wird geschätzt, dass in den letzten zehn Jahren ungefähr 50.000 Quadratkilometer der Cerrados entwaldet wurden. Das größte Symbol dieses Vorgangs ist die Errichtung der "Matobpiba", der im Moment größten landwirtschaftlichen Region der Welt, die 10 Millionen Hektar Cerrados in den Bundesstaaten Maranhao, Tocantins, Piaui und Bahia umfasst und wo etwa 800.000 Landarbeiterfamilien leben und produzieren.

Der brasilianische Staat ergriff eine Reihe von Maßnahmen, die die Ausdehnung der Agrarindustrie in Amazonien ermöglichten, hauptsächlich durch die Schaffung eines Gürtels, der den amazonischen Regenwald einschließt und die Bundesstaaten Maranhão, Pará, Tocantins, Mato Grosso, Amazonas, Rondônia und Acre umfasst. Die Sojaproduktion, die in der Region des Mittleren Westens begann, rückte mittels großer Investitionen und Spitzentechnologie Richtung Amazonas-Regenwald vor. 2011 wurden in der Region Amazonien 9,5 Millionen Hektar für Landwirtschaft verwendet, davon waren 68 Prozent für die Produktion von Soja bestimmt.

Die dritte und letzte und in ihrer Vorgehensweise raffinierteste Linie ist die des grünen Kapitalismus, der sich die eroberten Territorien ebenso zu unterwerfen sucht wie den Widerstand der indigenen Völker, der Quilombolas und der Landarbeiter, die die Natur mittels nachhaltiger Produktionsmethoden zu bewahren suchen. Diese Unterwerfung ergibt sich aus Mechanismen wie CO²-Kredite, REDD (Reduktion von Emissionen durch Entwaldung und Waldschädigung) und Gewährung von Umweltdienstleistungen. Diese Mechanismen sind immer an eine Logik der Finanzialisierung der Natur gebunden.

Es gibt eine starke Konzentration der Lanwirtschaft bei den transnationalen Konzernen der Agrarindustrie, die die Dynamik dessen verstärkt, was wir die erste Linie nennen. Die zehn größten Firmen in Brasilien nach den Nettoumsätzen sind: JBS (Brasilien), Raízen (Großbritannien/Niederlande/ Brasilien), COSAN (Brasilien/Großbritannien), Bunge (Niederlande), Cargil (USA.), BRF (Brasilien), Copersucar (Brasilien), Mafrig (Brasilien), Amaggi (Brasilien) und Louis Dreyfus Company (Niederlande). Die großen transnationalen Weltkonzerne, die nach Monopolen beim Getreide greifen, agieren in diesem amazonischen Territorium mit Projekten, die die Logistik für die Kommerzialisierung der Soja vorantreiben. Cargill, Bunge, ADM sind neben anderen die großen, auf den Export orienierten Monopolisten in dem Sektor. Diese Kontrolle durch wenige Firmen verwandelt die Region in einen großen Importeur von Nahrungsmitteln, weil die ganze Produktion von Soja und Vieh nach außerhalb geht.

Soja ist das drittwichtigste Produkt unter den Exporten der Nordregion, nach Eisen und Kupfer. In der Region, die die größten Sojaplantagen aufweist, der Bundesstaat Mato Grosso, gehen 43 Prozent aller Exporte auf dieses Handelsgut zurück, gefolgt von Mais mit 15,2 Prozent. Der multinationale Konzern Bunge konzentrierte 2011 in diesem Staat 20,8 Prozent der Exporte auf sich, gefolgt von ADM, Louis Dreyfus, Cargill, Amaggi, Sadia und JBS. Die Grafik oben zeigt, wie der Fokus der Agroindustrie in der Produktion wie in der Logistik in der Amazonasregion liegt.

Die Rindfleischerzeugung schreitet in dem Gebiet in derselben raffgierigen Weise voran und vermehrt die Entwaldung und Landnutzung. 2016 gab es mehr als 85 Millionen Rinder, anders gesagt, mehr als drei Rinder auf jeden Einwohner des brasilianischen Amazoniens. Dieses Wachstum geschah mit großer Unterstützung des brasilianischen Staats durch öffentliche Investitionen, wobei die JBS-Friboi ein Beispiel für die großen brasilianischen Fleischverarbeitungsunternehmen ist.

Wir sprechen nicht von Marginalien. Zur Zeit haben wir in Brasilien eine Gesamtfläche aller landwirtschaftlichen Betriebe von etwa 350 Millionen Hektar. Die Anbauflächen belegen 64 Millionen Hektar, die Viehzucht 159 Millionen Hektar, davon sind 50 Millionen bereits geschädigtes Weideland, das heißt hochgradig unproduktiv. Auf der anderen Seite haben wir etwa 100 Millionen Hektar geschützt in Naturschutzgebieten, 110 Millionen Hektar ausgewiesen oder im Prozess der Feststellung als indigene Territorien. Es handelt sich also um eine Auseinandersetzung kontinentalen Ausmaßes.

Soziale und agrarische Konflikte, einige drängende Herausforderungen

Die Leugnung der Konflikte um Land, um die Rechte der Arbeiter und um die Bewahrung der Kultur und die Organisation der Amazonienbewohner verstärkt nur diese Kämpfe und den Wunsch nach Errichtung einer anderen Gesellschaft, die diese Territorien respektiert und deren Entwicklung von ihren Subjekten reflektiert werden muss, mit gleichzeitiger Landverteilung und Bewahrung der Umwelt.

Das Fortschreiten der Entwaldung mit der Entnahme von Holz brachte schwere Konflikte zwischen den Völkern Amazoniens und den Arbeitern mit den großen Landbesitzern. 1980 wurde Wilson Pinheiro ermordet, der Vorsitzende einer Gewerkschaft der Landarbeiter. Am 22. Dezember 1988 wurde ein weiterer Gewerkschafter ermordet, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Landarbeiter von Xapuri (Confederación Nacional de Trabajadores en la Agricultura), Chico Mendes.

Es begann eine Serie von Morden und Massakern, die bis heute andauert. 1996 erlebte die Landlosenbewegung (Movimento dos Sem Terra, MST) das Massaker von Eldorado de los Carajas; die Missionarin Dorothy Stang, die den Widerstand der Arbeiter gegen das Eindringen der Holzhändler in ihre Territorien organisierte, wurde 2005 exekutiert; die Umweltschützer José Claudio Silva und María do Espiritu Santo da Silva wurden ermordet, weil sie die Entwaldung und Aneignung von Ländereien mittels manipulierter Dokumente angeklagt hatten.

Nach einer Periode, in der die Ermordungen der politischen Anführer der Landarbeiter langsam aber deutlich abgenommen hatten, kehrte der Staatsstreich von 2016 die Tendenz um. 2003, im ersten Jahr der Regierung Lula, gab es 73 Morde. Von da an bis 2015 gingen die Morde in alarmierenden Zahlen weiter, es wurden jährlich zwischen 25 und 39 Anführer durch die Bewaffneten der Landeigentümer ermordet. 2015, als das Land wegen der Vorbereitungen des Staatsstreichs bereits in Flammen stand, sprang die Zahl der Ermordeten auf 50, stieg auf 61 Personen 2016 und auf 70 getötete Kämpferinnen und Kämpfer im Jahr 2017.

Brasiliens Amazonien ist geprägt von territorialen Konflikten und befindet sich im Streit um Entwicklungsprojekte. Der Widerstand kommt von Landarbeitern, indigenen Völkern und den Gemeinschaften der Quilombolas, die ihre verfassungsmäßigen Rechte auf Land verteidigen. Volksbewegungen setzen ihren Kampf für eine umfassende Agrarreform fort. In den städtischen Gebieten bestehen die Bewegungen für Wohnraum weiter, neben den Bewegungen der LGBT, der Frauen, der Schwarzen und auch der Arbeiter der verschiedenen Firmen, die Großprojekte betreiben.

Die brasilianische Verfassung von 1988 stellt in Artikel 231 klar, dass die indigenen Völker ursprüngliche Rechte auf die Ländereien haben, die sie traditionell bewohnen. Insgesamt sind 13 Prozent des brasilianischen Territoriums als indigene Territorien anerkannt, nicht durch Zufall der am beste erhaltende Teil des Landes, kaum 2 Prozent der Entwaldung sind in diesen Gebieten festzustellen. In einigen Regionen Brasiliens gibt es diese Gebiete nur noch vereinzelt, wie Inseln der Biodiversität.

Diese Widerstandsbewegungen bilden ein politisches Lager, dessen kollektive Natur sich in die großen Themen der politischen Ökologie einreiht. Tatsächlich gibt es eine extreme Zunahme der umweltbezogenen Konflikte in allen Regionen Amazoniens in den verschiedenen Ländern. Denn ausländische, von der kolonialen Perspektive geleitete Agenten kommen mit Geld und Macht dorthin und verursachen die Verdrängung von Menschen, Projekten, Kulturen und Kenntnissen.

Ausgerichtet am neoliberalen Ideal, sucht die gegenwärtige Bundesregierung mit allen Mitteln die Überprüfung und Überprüfbarkeit der Umweltfolgen zu flexibilisieren und zu verringern. Eine Regierung, die nicht einmal die globale Erwärmung anerkennt und die die Wissenschaft ebenso disqualifiziert wie die Umweltforschung und die Arbeit der organisierten Gruppen und Kenner der Umweltprobleme, die unerbittlich tagtäglich im Land verursacht werden. Kürzlich erlebten wir die Drohung, Brasilien aus dem Übereinkommen von Paris zurückzuziehen und die Produktion von Treibhausgasen wieder zu liberalisieren, was die Perspektive der Befreiung der Waldgebiete noch verstärkt.

Das Umweltverbrechen von Vale in Brumadinho, Minas Gerais, ist ein Verbrechen, das man im Zusammenhang mit dem Modell des Neoextraktivismus sehen muss, der im großen Maßstab Mineralien erzeugt während sich die anfallenden Abfälle am Ort der Erzeugung akkumulieren. Der beste Teil der Mineralien wird exportiert und was zurück bleibt ist giftig, unbrauchbar und gefährlich. Müll, der sich zu Bergen anhäuft und Personen, Häuser, Dörfer, Felder, Flussläufe und Seen, die Träume vieler Menschen unter sich begräbt.

Die Auswirkungen der Entwicklungsmodelle können irreversibel sein, wie die Entwaldung, der Verlust an Wasserqualität und der Klimawandel – was immer mehr bewusste Personen erfordert, die bereit sind, Entscheidungen im Hinblick die kollektive Rechten zu fällen, eine Debatte, die uns alle einbezieht.

Das Wesentliche ist, die Dringlichkeit zu begreifen, dieses archaische Modell der Ausplünderung der Erde, der räuberischen Entwicklung durch ein anderes zu ersetzen, das die Interessen des Kollektivs, der Gesellschaft und der Natur wahrt, die heute dabei ist zerstört zu werden.

Der Widerstand ist Teil der Prozesse der Selbstbestimmung in dem Sinn, dass er auf ein emanzipatorischen und entkolonisierenden Modells gerichtet ist, das Ökologie und Politik zusammen denkt; der Übergang zu einem ökologischen Modell territorialer Entwicklung, vermittelt durch Tradition, Kultur und durch das harmonische Zusammenleben mit dem Regenwald.

Die Perspektive, welche die mit dem Wald verbundenen Völker einfordern, liegt im Erhalt und der Erschließung neuer Territorien, die ihre Souveränität über das Land, das Wasser und den Wald garantieren; in der Orientierung der Landwirtschaft auf die Erzeugung gesunder Nahrungsmittel und dem Aufbau eines neuen Energieprojekts auf der Grundlage der Souveränität der Arbeiter und der Achtung der Natur.**

* Quelle:

https://www.nodal.am/2019/08/la-inmensidad-de-la-region-amazonica/

**Quelle:

https://www.nodal.am/2019/08/el-agronegocio-en-la-amazonia/