Der erste Mythos: Der Indigene als wild und ursprünglich natürlich und aus diesem Grund im perfekten Gleichgewicht mit der Natur. Er würde sich demnach nicht nach kulturellen, sondern natürlichen Kriterien richten. Als wäre er in einer Art biologischer Siesta angesichts der Natur, in einer perfekten passiven Anpassung an die Rythmen und die Logik der Natur.
Die Ökologisierung der Indigenen ist das Ergebnis einer urbanen Vorstellung, die müde ist vom Exzess aus Technifizierung und der Entnaturalisierung des Lebens.
Was wir sagen können ist, dass die amazonischen Indigenen Menschen sind wie alle anderen auch und dass sie als solche immer in Interaktion mit ihrem Umfeld stehen. Mehr und mehr zeigt die Forschung das Zusammespiel dieses Austauschs zwischen Indigenen und Umwelt. Sie bedingen sich gegenseitig. Die Beziehungen sind nicht "natürlich", sondern kulturell, so wie die unseren, in einem breiten Netz aus Wechselwirkungen. Vielleicht haben die Indigenen in diesem Sinn etwas Einzigartiges, anders als der moderne Mensch: Sie empfinden und sehen die Natur als Teil ihrer Gesellschaft und Kultur, als Verlängerung des persönlichen und sozialen Körpers. Sie ist nicht, so wie für die Modernen, nur ein stummes und neutrales Objekt. Die Natur spricht und der Indigene versteht ihre Stimme und ihre Botschaft. Die Natur gehört zur Gesellschaft und die Gesellschaft zur Natur. Sie gleichen sich an in einem Prozess der gegenseitigen Anpassung. Deswegen sind sie sehr viel integrierter als wir. Wir müssen viel lernen von dieser Beziehung, die sie mit der Natur unterhalten.
Der zweite Mythos: Amazonien ist die Lunge der Welt. Die Spezialisten bestätigen, dass der amazonische Regenwald sich auf einem Höhepunkt befindet. Das heißt, er befindet sich in einem optimalen Zustand des Lebens, in einem dynamischen Gleichgewicht, in dem alles genutzt wird und so alles im Gleichgewicht ist. So wird die von den Pflanzen freigesetzte Energie über Interaktionen der Nahrungskette komplett verwertet. Der Sauerstoff, der über den Tag durch die Fotosynthese der Blätter freigesetzt wird, wird von den eigenen Pflanzen und den anderen lebenden Organismen nachts verbraucht. Aus diesem Grund ist Amazonien nicht die Lunge der ganzen Welt.
Aber sie funktioniert als eine Art großer Filter für Kohlendioxid. In dem Prozess der Fotosynthese wird ein große Menge an Kohlenstoff absorbiert. Nun ist der Kohlenstoff der hauptsächliche Verursacher des Treibhauseffekts, der unsere Erde erwärmt (in den letzten 100 Jahren hat er um 25 Prozent zugenommen). In dem Fall, dass eines Tages Amazonien komplett abgeholzt sein würde, würden an die Atmosphäre etwa 50 Milliarden Tonnen Kohlenstoff pro Jahr freigesetzt. Es gäbe ein Massensterben von lebenden Organismen.
Der dritte Mythos: Amazonien als Getreidespeicher der Welt. So dachten sich das die ersten Entdecker wie Humboldt und Bonpland sowie die brasilianischen Planer zur Zeit der Militärdiktatur (1964-1983). So ist es aber nicht. Die Wissenschaft hat gezeigt, dass „der Regenwald von sich selbst lebt“ und zum Großteil "für sich selbst"1. Er ist üppig, aber der Boden hat nicht viel Humus. Das scheint ein Paradox zu sein. Der Fachmann Harald Siolo, der sich auf den Amazonas spezialisiert hat, erklärt: "Der Regenwald wächst, in der Tat, über dem Boden und nicht aus dem Boden" 2. Und er erläutert das: Der Boden ist nur der physische Träger von einem verzweigten Netz aus Wurzeln. Die Pflanzen verflechten sich miteinander über die Wurzeln und unterstützen sich gegenseitig über dem Untergrund. So entsteht eine immense ausgeglichene und ryhtmische Balance. Der ganze Wald bewegt sich und tanzt. Wenn also ein Element umgeworfen wird, reißt es verschiedene andere mit sich.
Der Wald konserviert seinen üppigen Charakter, weil es eine geschlossene Kette von Nährstoffen gibt. Es gibt die Materialien auf dem Boden im Prozess der Zersetzung – der Streu, das sind Blätter, Früchte, kleine Wurzeln, Ausscheidungen von wilden Tieren. Sie werden angereichert mit dem Wasser, das von den Blättern tropft und aus den Stämmen kommt. Es ist nicht der Boden, der die Bäume ernährt. Es sind die Bäume, die den Boden nähren. Diese zwei Arten von Wasser waschen und tragen die Exkremente von Baumbewohnern und anderen Tieren größerer Arten mit sich wie die von Vögeln, Affen, Nasenbären, Faultieren und anderen, genauso wie unzählbaren Insekten, die sich in den Baumkronen eingenistet haben. Es gibt zudem eine enorme Menge an Pilzen und anderen Mikroorganismen die gemeinsam mit den Nährstoffen die Wurzeln mit Nachschub versorgen. Und über die Wurzeln läuft die Nährsubstanz zu den Pflanzen und garantiert so den erstaunlichen Reichtum des amazonischen Regenwaldes. Aber es handelt sich um ein geschlossenes System mit einem komplexen und anfälligen Gleichgewicht. Jede noch so kleine Abweichung kann zerstörerische Auswirkungen mit sich bringen. Die Humuserde erreicht normalerweise nicht mehr als 30 bis 40 Zentimeter an Dichte. Die reißenden Regenfälle tragen sie ab. In kurzer Zeit taucht dann schon Sand auf. Das Amazonasgebiet ohne Wald kann sich in eine unermessliche Savanne oder sogar in ein Wüste verwandeln. Deswegen wird Amazonien niemals der Getreidespeicher der Welt sein können. Aber es wird weiterhin der Tempel der größten Biodiversität sein.
Der Amazonas-Experte Shelton A. Davis stellte schon 1978 fest, was auch für 2019 gilt: "In diesem Moment wird eine stiller Krieg gegen die ursprünglichen Völker, gegen unschuldige Bauern und gegen das Ökosystem des Waldes im Amazonasbecken geführt."3. Bis 1968 war der Wald praktisch intakt. Seitdem – und mit dem Beginn der großen Projekte der Wasserkraftwerke und des Agrarbusiness und heute unter dem Anti-Ökologismus der Regierung Bolsonaro – geht die Gewalttätigkeit und Verwüstung im Amazonasgebiets weiter.
Der brasilianische Theologe Leonardo Boff ist einer der Hauptvertreter der Befreiungstheologie