Venezuela / Politik

Keine Niederlage, aber auch kein großartiger Sieg

Analyse des Politikwissenschaftlers Dario Azzellini zur Parlamentswahl in Venezuela

Am 26. September 2010 fanden in Venezuela Wahlen zur Nationalversammlung statt. Die sozialistische Regierungspartei PSUV von Präsident Hugo Chávez gewann gemeinsam mit kleineren Bündnispartnern 98 der 165 Sitze, das breite Oppositionsbündnis MUD (Mesa de la Unidad Democrática) errang 65 Sitze und die Anfang 2010 aus der Regierungskoalition ausgescherte PPT zwei Sitze.

In Wählerstimmen ist das Wahlergebnis allerdings viel knapper, so dass kaum von einem großartigen Sieg die Rede sein kann - allerdings auch nicht von einer Niederlage, wie viele Medien auch international titelten. Die PSUV und Partner erhielten 5.423.324 Stimmen (48,13 Prozent), die MUD 5.320.364 Stimmen (47,22 Prozent). Die PPT, die Anfang des Jahres aus der Regierung ausgeschert war und für eine "Entpolarisierung" eintrat, erhielt 353.979 Stimmen (3,14 Prozent) und gewann zwei Direktmandate im südlichen Bundesstaat Amazonas. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 66,45 Prozent sehr hoch für eine Parlamentswahl in Venezuela. Die Opposition behauptete noch vor Veröffentlichung der offiziellen Zahlen, sie habe 52 Prozent der Stimmen erhalten, aber aufgrund der von der Regierung ungleich zugeschnittenen Wahlkreise nur eine Minderheit der Stimmen erhalten. Die Meldung wurde ungeprüft von den meisten Medien weltweit übernommen.

In Venezuela werden 60 Prozent der Abgeordneten direkt in Wahlkreisen gewählt und 40 Prozent über Landesliste. So wie auch in anderen Ländern der Welt, bestehen Unterschiede in der Größe der Wahlkreise. Würden alle gleich groß sein, könnten einige dünner besiedelte und abgelegene Gebiete auf keine Vertretung mehr zählen. Allerdings erfolgt seit 2009 kein proportionaler Ausgleich mehr mit den Landeslisten. Das führt zu den Ungleichgewichten in der Repräsentation und erschwert die Repräsentation von kleinen Parteien. Das ist ungerecht, aber nicht ungewöhnlich für parlamentarische Demokratien, in Ländern wie Großbritannien oder Frankreich werden sogar alle Abgeordneten direkt über Wahlkreise gewählt. Die große Mehrheit der PSUV resultiert daraus, dass sie viel mehr Direktwahlmandate gewonnen hat, da ihre Stimmen gleichmäßiger über das Land verteilt sind (sie gewannen in 16 von 23 Bundesstaaten die Mehrheit der Abgeordneten und erzielten in zwei einen Gleichstand). Aber auch die MUD profitierte von der Regelung und bekam beispielsweise im westlichen Bundesstaat Zulia mit knapp 54,8 Prozent der Stimmen zwölf der 15 Sitze und die PSUV mit 44,44 Prozent nur drei. Die PPT profitierte von der Wahlkreisaufteilung indem sie ihre zwei Mandate in kleinen Wahlkreisen im Amazonas gewann.

Sozialisten verfehlten Zweidrittelmehrheit

Die PSUV verfehlte ihr selbst gestecktes Ziel einer Zweidrittelmehrheit. Diese ist notwendig, um z.B. verfassungsableitende Gesetze zu verabschieden oder zu annullieren, Verfassungsreformen zu bestätigen, die Angehörigen des Obersten Gerichtshofes und Wahlrates, den Ombudsmann und Generalstaatsanwalt zu berufen oder zu entlassen, um eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen und um ständige Kommissionen der Nationalversammlung einzurichten oder aufzulösen. Die PSUV hat auch (um einen Abgeordneten) die Drei-Fünftel-Mehrheit verfehlt, die sie z.B. benötigt um den Präsidenten mit gesetzgebenden Vollmachten auszustatten.

Mit der einfachen Mehrheit kann die PSUV immer noch notwendige Gesetze durchbringen und Entscheidungen treffen. Eine Zweidrittelmehrheit wird allerdings benötigt, um weitergehende gesetzliche Grundlagen zu beschließen und um die Richter des Obersten Gerichtshofes und des Nationalen Wahlrates zu ernennen. In der Legislaturperiode von 2000 bis 2005 - die Wahlen für die Periode 2006 bis 2011 wurden von der Opposition boykottiert - verfügten die Parteien, die Chávez unterstützten, allerdings sogar nur über schwankende 83 bis 92 Abgeordnete.

Ein Blick auf die Ergebnisse früherer Wahlen zeigt, dass die Wahlen zur Nationalversammlung so schlecht für die PSUV und Verbündete verliefen, weil viele der Wahl fernblieben, die beim Referendum im Jahr 2009 über die Möglichkeit mehrerer Amtszeiten für Bürgermeister, Gouverneure und den Präsidenten noch für das Regierungslager gestimmt hatten. Stimmten 2009 noch 6,31 Millionen Menschen für die von der Regierung vorgeschlagene Verfassungsänderung und 5,195 Millionen dagegen, verloren PSUV und Verbündete fast 900.000 Stimmen, während die MUD und die PPT etwa 470.000 hinzugewannen.

Fazit

Einerseits geht ein schwieriges Jahr zuneige. Bis vor kurzem war aufgrund einer durch das Wetterphänomen El Niño verursachten zweijährigen Trockenheitsperiode (und wegen des in zehn Jahren um 50 Prozent angestiegenen Energiebedarfs und Fehlern der öffentlichen Unternehmen, die auch von den Arbeitern moniert wurden), Strom und Wasser knapp. Es kam immer wieder zu Rationierungen und Ausfällen (Venezuela generiert 70 Prozent seines Strombedarfs über Wasserkraft). Die stark gefallenen Ölpreise ab Ende 2008 und die Weltwirtschaftskrise setzten Venezuela stark zu und die Inflation stieg wieder an. Angesichts dieser Umstände, ist das Ergebnis als durchaus gut zu bezeichnen. Der ehemalige argentinische Präsident und UNASUR-Sekretär Nestor Kirchner gratulierte Chávez nach den Wahlen und äußerte erstaunt: "Wenn wir in Argentinien kein Gas und keinen Strom haben, die Aufzüge nicht funktionieren... dann bekommen wir vier Prozent der Stimmen und müssten auf der Straße vor unseren Verfolgern fliehen“ (Noticias24.com, 27.9.2010)

Andererseits blieben auch viele der Basis des bolivarianischen Prozesses der Wahl fern, da sie die weiter bestehende Korruption und Ineffizienz vieler Institutionen abstrafen wollten und die von der PSUV aufgestellten Kandidaten ablehnten. Zwar hatte es in der PSUV Primärwahlen um die  Direktwahlmandate gegeben, dennoch setzten sich vielerorts die Kandidaten der Gouverneure, Minister und sonstiger einflussreicher Politiker durch, die ihre Propagandamaschine in Gang setzten. Und die Listenplätze wurden wieder von oben bestimmt. In Catia, einem großen und kämpferischen popularen Viertel von Caracas, hatte es bereits im Vorfeld großen Unmut gegeben und zahlreiche Basisorganisation hatten die Kandidaten der PSUV offen abgelehnt. Hochrangige Delegationen der PSUV und der Regierung kamen zu Gesprächen ins Viertel. Die breite Basis konnten sie offensichtlich nicht überzeugen. Ebenso gingen in dem bolivarianisch regierten Bundesstaat Anzoátegui alle Direktmandate an die Opposition. Es steht also eine umfassende Analyse, Kritik und Kurskorrektur an. Noch ist nichts verloren, aber ein Sieg offensichtlich auch nicht mehr automatisch.