Kultur der Vergewaltigung, Soziale Netzwerke und Massenmedien in Brasilien

Die Sozialen Netzwerke werden von Frauen in Brasilien genutzt, um gegen Machismo und Gewalt zu mobilisieren. Zugleich bilden sie einen Kontrapunkt zu den Mainstream-Medien

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Großdemonstration in São Paulo gegen Gewalt an Frauen. "Ser Mulher Sem Temer" - "Frau sein ohne Furcht zu haben" oder "Frau sein ohne Temer". Michel Temer ist der derzeitige Putschpräsident
Großdemonstration in São Paulo gegen Gewalt an Frauen. "Ser Mulher Sem Temer" - "Frau sein ohne Furcht zu haben" oder "Frau sein ohne Temer". Michel Temer ist der derzeitige Putschpräsident

Die Berichte Ende Mai von der kollektiven Vergewaltigung einer Sechzehnjährigen mit Beteiligung von über dreißig Männern in einer Favela im Ostteil von Rio de Janeiro kann man unmöglich vergessen. Dieser Vorfall wurde für immer festgehalten durch Videos, die von den Tätern selbst in den Sozialen Netzwerken verbreitet wurden, und durch die Proteste der Frauen, die in den gleichen Netzwerken die Vorfälle verdammten und Bestrafung der Beteiligten forderten. Dies führte zu einer breiten öffentlichen Debatte über die Tradition von Gewalt gegen Frauen in diesem Land.

Jedoch ebenso wie die virtuellen Welten der jungen Frau die Möglichkeit gaben, die ihr angetane Schandtat offen anzuklagen, so wird ihr virtuelles und ihr wirkliches Leben genau dort durch Diskussionen über ihre angebliche Mitverantwortung ausgebreitet und frontal angegriffen. Diskussionen, die sich aus den überkommenen, patriarchalen Traditionen der Gewalt erklären. Es ist diese Doppelrolle der virtuellen Netze, die uns veranlasst, über das Internet, wie es derzeit genutzt wird, nachzudenken.

In einem Land mit großer Reichweite der traditionellen Kommunikationsmittel (Radio und TV) ist jede Analyse der Sozialen Netzwerke unzureichend ohne gleichzeitigen Blick auf die Debatten in den traditionellen Medien. Die Art und Weise, wie die traditionellen Kanäle berichten und sich positionieren, erweist sich als wesentlich für die öffentliche Meinung in den Netzwerken und die unterschiedlichen Sichtweisen, die das Internet dominieren.

Es ist erhellend, sich daran zu erinnern, dass vor der Kundgebung tausender Frauen die führende Tageszeitung Folha de S. Paulo am 26. Mai in ihrer Rubrik "Alltag" die folgende Schlagzeile hatte: "Ich musste weinen, als ich das Video sah", sagt die Großmutter des Mädchens, das sagt, es sei vergewaltigt worden". Mit der Formulierung "...sagt, es sei vergewaltigt worden" stellt die Zeitung die Aussage des Opfers in Zweifel und das trotz klarer Nachweise der geschehenen Untat.

In einer Reportage von Globonews des gleichen Tages bestätigt der Anwalt von Raí de Souza, sein Klient sei in der Tat verantwortlich für die Filmaufnahmen der nackten und blutenden jungen Frau (die, wie die Filmaufnahmen zeigen, ohne Bewusstsein und unfähig zu jeder Reaktion war) und dass er zu denen gehört habe, die danach das Geschehene im Internet verfügbar gemacht hatten. Schon bei den von den jungen Leuten nicht bestrittenen Videoaufnahmen und deren Verbreitung handelt es sich um Verbrechen. Die in der Reportage nötigen Fragen wären gewesen: "Warum wurde mit den Festnahmen solange gewartet?" oder "Wieso wurde der Vorfall als 'zu untersuchender Verdacht' behandelt?". Aber nichts dergleichen las man, was die Gleichgültigkeit der Medien bei der Aufklärung des wirklich Wichtigen zeigt, und die Schwierigkeit, die vergewaltigte Frau als Opfer wahrzunehmen.

Es war immer die junge Frau, von der Beweise verlangt wurden, dass SIE das Opfer war, und nur von ihrer Familie, ihren Anwälte und ihrer direkten Umgebung wurde gefordert, sie gegen Unterstellungen wegen ihres Verhaltens zu verteidigen, so, als sei das der entscheidende Punkt. Keinerlei gleichgewichtige Anklage lastete auf den beschuldigten jungen Männern wegen ihrer Untat ‒ sie erschienen lachend auf den Fernsehbildern. Dies gibt Anlass, die Schuldzuweisungen gegen das Opfer und die Tradition der Gewalt gegen Frauen einander gegenüber zu stellen, wie sie hierzulande immer noch tief verwurzelt ist.

Es ist tatsächlich nötig darauf hinzuweisen, dass es sich bei Vergewaltigung gemäß brasilianischem Strafrecht (Gesetz 2848/1940) um ein Verbrechen handelt, also jemanden "mit Gewalt oder Drohungen zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, oder andere sexuelle Handlungen zu tun oder zu dulden" (Art.213).

Zweifel gegen die Opfer von Vergewaltigungen zu säen gehört zum Standard in der brasilianischen Justiz, insbesondere dann, wenn Männer die Klagen bearbeiten. Die besonderen Einrichtungen zum Schutz von Frauen wurden geschaffen, um Belastungen von den Opfern wegzunehmen, die zunächst der Gewalt und dann dem Druck angeblicher Mitverantwortung ausgesetzt sind. In ihrer Berichterstattung reproduzieren die großen Zeitungen diese Stimmung der latenten Gewalt, wie sie auch bei der brasilianischen Polizei und in den Krankenhäuser wirksam ist.

Es ist kein Zufall, dass der misstrauische Ton, der in den großen Zeitungen und im Fernsehen vorherrscht, sich auch in den Sozialen Netzwerken ausbreitet. Spekulationen über die Mitverantwortung des Opfers und sogar Details aus ihrem Leben, die in den traditionellen Medien ausgestreut wurden und die völlig irrelevant sind, tauchen auch in Internet-Postings auf, in denen Vergewaltigung relativiert und Mitschuld des Opfers suggeriert wird. Fragen wie "Aber wo war sie denn unterwegs und mit wem?" oder "Wie war sie denn angezogen?" sind typisch, dazu noch Internetsprüche (Memes), die das Opfer bloßstellen.

Vergewaltigung und deren Wiederkehr in den Medien

In Brasilien wird alle drei Stunden eine Frau vergewaltigt und dies hängt direkt mit der machistischen und patriarchalen Kultur zusammen, die Frauen zum Sexobjekt des Mannes macht. Der weibliche Körper ist nicht etwa Eigentum der Frauen, sondern wird als Besitz des Männlichen betrachtet, das von ihm Gebrauch machen kann, wann immer es ihm beliebt. Leider haben die brasilianischen Medien nicht dazu beigetragen, diese Kultur zu abzubauen. Im Gegenteil, es gibt unzählige Fälle, in denen sexualisierte Gewalt gegen Frauen in Radio- oder Fernsehprogrammen als etwas Natürliches dargestellt wird.

Am 25 Februar 2015 enthüllte der Schauspieler Alexandre Frota im Programm "Jetzt ist es zu spät" des Senders BAND, das von Rafinha Bastos moderiert wird – in amüsiertem und spöttischem Ton – , dass er Sex mit einer "Mãe de santo"1 gehabt habe, während diese bewusstlos war, in anderen Worten, dass er sie vergewaltigt hat.

Die brasilianische Menschenrechtsorganisation Intervozes alarmierte daraufhin das Institut zur Begleitung und Bewertung im Kommunikationsministeriums und das Ministério Público Federal. Die Nachlässigkeit im Hinblick auf diese Gewalt zeigte sich darin, dass es keinerlei Bestrafung in dem Fall gab. Im Gegenteil, der Schauspieler verwandelte sich in eine Figur des öffentlichen Lebens, die als würdig betrachtet wird, offiziell empfangen zu werden, um unter der aktuellen Übergangsregierung von Michel Temer Vorschläge an das Bildungsministerium in Brasília zu richten.

Es gab noch die Vergewaltigung, die im Programm Big Brother Brasilien im TV Globo passiert ist. In der Staffel von 2012 wurde Daniel, einer der Teilnehmer im Haus, hinausgeworfen, nachdem die Teilnehmerin Monique gesagt hatte: "Ich weiß nur, dass er eine sehr schlechte Person war, denn er hatte Sex mit mir, während ich geschlafen habe", ein Fall, der auch eine strafrechtliche Ermittlung nach sich zog. Und Anfang dieses Jahres gab es zahlreiche Beschwerden, nachdem eine Vergewaltigungsszene in "Gefährliche Beziehungen", einer Miniserie von TV Globo, gezeigt wurde.

Im Internet kam die Debatte über eine Kultur der Vergewaltigung Ende 2015 auf, als sich äußerst lüsterne und aggressive Kommentare in Bezug auf ein gerade Mal zwölf Jahre altes Mädchen verbreiteten, die an der Realityshow "Masterchef" teilgenommen hatte.

Die mobilisierende Kraft der Internets führt manchmal auch dazu, dass Opfer von sexualisierter Gewalt zur Schau gestellt werden. Aufgrund von fehlendem Wissen über die Funktionsweise von Sozialen Netzwerken halfen viele Personen dabei, das Ende Mai begangene Verbrechen zu verewigen, indem sie Nachrichten versendeten, auch wenn sie dabei ihre Ablehnung ausdrückten.

Obwohl die Sozialen Netzwerke die Funktion erfüllen könnten, eine Vielzahl von Diskursen herzustellen – die über das hinausreichen, was in den konventionellen Medien produziert wird – bestand ihre Funktion in diesem Fall also auch in der Verletzung von Menschenrechten, indem sie, zum zweiten Mal, das Opfer der Gewalt zur Schau stellten.

In solchen Fällen sollte nicht das Profil desjenigen, der dieses Material verbreitet, über die Timeline aufgerufen werden oder sein Inhalt weitergeleitet werden. Die Aufrufe müssen auf privatem Weg geschehen, indem die Adressen der Postings von den bestimmten Orten der Netzwerke, an denen sie publiziert wurden, kopiert werden. Es sollte daran gedacht werden, dass auch die Veröffentlichung von Fotos mit pornografischen Sexszenen, bei denen Kinder oder Jugendliche involviert sind, nach Artikel 240 der Verordnung des Kindes und des Jugendlichen (Gesetz 8060/1990) ein Verbrechen ist.

Frauen sind vielen Formen von symbolischer Gewalt ausgesetzt. Und der Versuch, diese zu verstehen, ist grundlegend, um die Herrschaftsbeziehungen zu erkennen, die historisch, kulturell und sprachlich konstruiert sind. Das Narrativ, dass diese Gewalt aufzeigt und sich ihr entgegenstellt, muss sogar noch stärker wirken, um den Diskurs zu durchbrechen, der in der Ordnung des Natürlichen, Grundlegenden, Unumstößlichen und Universellen im Zusammenspiel mit anderen Werten vorherrscht, und muss auf verschiedene Kräfte hinweisen, die diese Dynamik aufrecht erhalten.

Es ist sehr viel einfacher, mit der Tagesordnung im Gespräch zu bleiben, indem Vorurteile und Asymmetrien innerhalb von Diskursen reproduziert werden, anstatt Licht auf die Aspekte zwischen den Zeilen zu werfen. Und in den Sozialen Netzwerken lohnt es sich, daran zu denken, dass dies deshalb passiert, weil es keine neutralen Räume sind – was viele glauben. Im Gegenteil, sie sind ebenfalls von Machtbeziehungen durchzogen und können bereits vorgezeichnete Narrative (re)produzieren, die in der Auseinandersetzung dieser Machtverhältnisse wirken. Die gute Nachricht ist allerdings, dass, auch wenn einerseits der konservative Diskurs in den traditionellen Medien und Netzwerken überwältigend zu sein scheint, es von einer anderen Perspektive her äußerst bedeutend ist, auf die Kraft eines von Frauen angeführten Gegendiskurses hinzuweisen, der aus sich selbst heraus gewachsen ist und sich durchgesetzt hat und sogar die großen Medien beeinflusst.

Nach den öffentlichen Kundgebungen von tausenden Frauen im Internet und der Organisation von Aktivitäten wie dem "Blumenmarsch" wandelte sich der Ton der Presse. Selbst Folha de S. Paulo und TV Globo änderten die Berichtserstattung und behandelten den Vorfall als Verbrechen. Und die sozialen Frauenbewegungen kamen, wenn auch mit gewaltiger Verspätung, in den Berichten zu Wort, sobald der Vorfall nicht mehr unsichtbar gemacht werden konnte. In anderen Worten: Das Szenario zeigt, dass die Angriffe auf Frauen – wir sind permanent der Verurteilung durch das Patriarchat ausgesetzt – nicht überwunden werden können, ohne dass es zu einer starken Mobilisierung in den Netzwerken und auch auf den Straßen kommen wird. Die Verbrechen werden weder vergessen noch verschwiegen werden.

Camila Nobrega ist Journalistin und Gast beim Fachbereich Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin. Cinthya Paiva ist Anwältin. Beide gehören zum Coletivo Intervozes (Brasilianisches Kollektiv für soziale Kommunikation)

  • 1. Priesterin einer afro-brasilianischen Religion
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