Argentinien / Politik

Die Gefahr, die tödliche Macht von Mauricio Macri zu bagatellisieren

Die im Wahlkampf für die Präsidentschaft in Argentinien angekündigten Veränderungen könnten zu einem Albtraum von unbestimmter Dauer werden

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Unter dem Motto "Macri, halt ein" sind Massendemonstrationen gegen die Politik des neuen Präsidenten an der Tagesordnung
Unter dem Motto "Macri, halt ein" sind Massendemonstrationen gegen die Politik des neuen Präsidenten an der Tagesordnung

Abgesehen davon, dass er ein verdienstvolles Mitglied der rechtsgerichteten lateinamerikanischen Offensive ist, weiß Mauricio Macri besser als jeder andere, dass die ersten einhundert Tage der Amtsführung grundlegend dafür sind, einen politischen Stil zu etablieren. Ähnlich wie bei den Preisen der Grundbedarfsartikel, bei denen es sehr schwierig ist, sie wieder zu senken, wenn sie erst einmal gestiegen sind, fordert Macri Einheimische wie Auswärtige mit gefährlichen Dekreten heraus. Er geht davon aus, dass nur sehr wenige dieser autoritären "Not- und Dringlichkeitsverordnungen"1durch eine eventuelle Parlamentsentscheidung wieder annulliert werden können.

Die sogenannte Parteien-Opposition hat wieder einmal die Macht unterschätzt, die sich hinter dem Macrismus versteckte – eine Pseudoideologie, die heutzutage auch unter den venezolanischen Escuálidos2und dem kolumbianischen Uribismus3 ihre Wirkung entfaltet. Diese Macht wurde bereits unterschätzt, als der aktuelle Präsident vor einigen Jahren die Regierungsgewalt über die Stadt Buenos Aires übernahm4.

Nun merken Macris Gegner, dass sich allein schon im ersten Monat überheblicher Regierungsführung die Dinge zum Schlechteren verändert haben. Dies betrifft insbesondere die von der Wirtschaftskrise am meisten betroffenen gesellschaftlichen Gruppen. Auch wenn dieser Prozess nicht erst mit Macri begonnen hat, verschärft er sich jedoch durch die Maßnahmen des neuen Präsidenten, der mit Methoden aus den schlimmsten Handbüchern des Neoliberalismus handelt.

Die Liste der Beeinträchtigungen, der provokativen Maßnahmen, des repressiven Vorgehens sowie die angekündigter Maßnahmen in der Wirtschaft, Kultur und Staatswesen, die die bestehenden Strukturen zerstören würden, ist lang. All dies ist zu einschneidend, als dass jemand noch bezweifeln könnte, dass die als Wahlslogans angekündigten Veränderungen heute allmählich zu einem Albtraum von unbestimmter Dauer werden könnten.

Wenn die Abwertung, die in den Zeiten von Macris Kandidatur noch verneint wurde, nun täglich umgesetzt werden kann, dann geschieht dies, weil der Boden dafür von der gesamten Unternehmerschaft schon bereitet wurde. Und diese Unternehmer betreiben nicht nur Spekulation, sondern steuern, genau wie in Venezuela, die Preise der Grundbedarfsgüter. Die Freigabe des US-Dollar (die so sehr gewünscht wurde von jenen, die mit dem skrupellosen Finanzsektor verbunden sind sowie von großen Teilen einer einfältigen Mittelklasse) war begleitet von anderen Initiativen wie der Aufhebung der Beschränkungen für die Landwirtschafts- und Viehzüchteroligarchie und ihre Freunde aus der Sojawirtschaft. Sie führte durchweg zu millionenschweren Geldbewegungen und einer ewigen Dankesschuld gegenüber dem Macrismus.

Im Rahmen dieser Machenschaften wurden weitere Dekrete erlassen, mit denen die Rechtmäßigkeit der Einstellung öffentlicher Angestellter während der vergangenen Jahre der Regierung Kirchner5 überprüft wird. Dabei handelt es sich um eine Maßnahme, die sich auf mehr als 60.000 Arbeiter auswirken kann.

Es ist wahr, dass alle Regierungen (auch zum Aufblähen des eigenen Funktionärsapparates) die Arbeitskapazität des Staates extrem ausnutzen, und es stimmt sicher auch, dass der Kirchnerismus in dieser Hinsicht keine Zeit verloren hat. Aber es ist nicht zulässig, dass die übermächtige Planierraupe des Macrismus jetzt auf diktatorische Weise tausende von Männern und Frauen um ihre Anstellung bringt, die im Besitz eines rechtsgültigen Vertrages waren. Ihnen müsste in Anwendung der öffentlich verkündeten Chancengleichheit künftig ein Festanstellungsvertrag aufgrund ihrer Kenntnisse und ihres Engagements im Rahmen der Tätigkeiten gegeben werden, für die sie eingestellt worden sind. Es ist paradox von "Gefälligkeitsjobs" oder "ñoquis K"6 im nationalen staatlichen Sektor zu reden – auch wenn es so etwas gibt – während die macristische Stadtregierung selbst die verschiedenen Verwaltungsbereiche mit Freunden, Familienangehörigen und Parteianhängern vollgestopft hat, die zusammen genommen ein wahres Bataillon von Inkompetenten und Bürokraten bilden.

Die Wirklichkeit ist jedenfalls, wie die Gewerkschaft der Staatsangestellten konkret berichtet, dass in den ersten zwei Wochen der neuen Regierung bereits 10.000 Entlassene verzeichnet wurden. Die Politik der Dämonisierung des öffentlichen Dienstes ist darauf gerichtet, die staatlichen Dienstleistungen abzubauen und den Staatsapparat zu verkleinern, wie dies Carlos Menem7 bereits in den verheerenden 1990er Jahren getan hatte.

Allein im Senat verlieren aufgrund einer Entscheidung der Vizepräsidentin Gabriela Michetti 2.035 Mitarbeiter ihre Jobs. Sie konnte dabei auf die beschämende Komplizenschaft des Fraktionschefs der kirchneristischen Frente para la Victoria8, Miguel Pichetto, bauen. Zu dieser Zahl müssen noch die mehr als 600 in den Ruhestand versetzten Mitarbeiter des Centro Cultural Kirchner sowie weitere Angestellte in den Büros der Bundesbehörde für Audiovisionsdienstleistungen (Afsca), im Verkehrswesen und in der nationalen Versicherungsgesellschaft Nación Seguros addiert werden.

Ein besonderer Fall, der diesen heftigen Angriff der Unternehmerseite seitens der Rechtsregierung vervollständigt, ist, was mit den Mitarbeitern geschehen ist, die in verschiedenen Gemeindeverwaltungen und Verwaltungsbezirken im Großraum Buenos Aires, wie beispielsweise Lanús, Quilmes, Chascomús, Coronel Vidal, Coronel Suárez und Adolfo Alsina tätig waren. Dort gibt es hunderte von Entlassenen sowie etwa 4.500 "gekippte" Verträge in La Plata. Die betroffenen Arbeiter haben mit einer Reihe von Massendemonstrationen begonnen und sehen sich härtesten Repressionseinsätzen der örtlichen Polizei ausgesetzt. Innerhalb der sozialen Netzwerke zirkulieren Foto- und Videoaufnahmen von Frauen und Männern, deren Rücken von Schusswunden durch polizeiliche Gummigeschosse übersät sind.

Weitere Arbeiterinnen und Arbeiter, die von Macri und seinen "Chicago Boys" aufs Korn genommen wurden, sind die Genossenschaftler. So blieben etwa 2.000 Menschen, die in der ehemaligen Militärschule ESMA9 im Rahmen von Wartungsarbeiten tätig waren ohne Arbeit. Das gleiche Schicksal droht auch den Beschäftigten anderer Einrichtungen.

Das macristische Wirtschaftsteam zögerte auch nicht lange bei der Absteckung des Terrains, auf dem sich die nächsten Lohnverhandlungen abspielen könnten. Gewerkschaftsführer sind alarmiert über die Ankündigungen, dass die paritätisch besetzten Gremien nicht nur ein strenges Limit haben werden. Die Gerwerkschafter müssten zudem "verantwortlich" handeln, damit die Unternehmer nicht in Versuchung geraten, aufgrund fehlender arbeitsbezogener "Reife" seitens der Lohnempfänger an Entlassungen zu denken. Das ist schlichtweg Erpressung.

Die im sozialen Bereich vom Macrismus angewandte Politik ist durchschaubar und kommt im Allgemeinen unter ähnlichen Regimes auf dem Kontinent im Übermaß zur Anwendung: die Erzeugung von Angst unter den Beschäftigten, indem man ein Szenarium dessen aufzeigt, wie es den neuen Arbeitslosen ergeht. Einige akzeptieren die "Bestrafung" ohne aufzumucken und andere, mit mehr Würde und Kampfesmut, widerstehen auf der Straße der unternehmerisch-polizeilichen Übermacht.

Ein weiterer Bereich, in dem sich der Macrismus mit voller Wucht entlädt, ist das Kommunikationswesen. Dies geschah einerseits durch die Auflösung der Afsca und den Eingriff in die wesentlichen Punkte des Mediengesetzes, indem diese gesamte Struktur unter die Befehlsgewalt eines Kommunikationsministeriums gestellt wurde. Andererseits wurde den Medienkonzernen unter Führung von Clarín, La Nación und Infobae in verstärktem Maße grünes Licht gegeben – diesen Vermittlern des "neuen Bildes" einer Regierung, die sich rühmt, Macht auszuüben ohne auch nur ihre Parlamentarier zu konsultieren.

In der Außenpolitik sind die Beziehungen zwischen Washington und der Macri-Regierung denkbar gut. Die US-Regierung dankte dem neuen argentinischen Präsidenten für seinen anti-chavistische Ton und seine allerengsten Beziehungen zu Leopoldo López, Henrique Capriles Radonski10 oder Álvaro Uribe. Er zeigt sein Wohlgefallen gegenüber dem Zionismus und seinen Zorn gegenüber dem Iran. Dieser Junge ist, wie John Kerry auf den Fluren des Weißen Hauses sagen würde, auf jeden Fall ein "guter Gefolgsmann".

Es sind jedoch noch weitere innige Freunde für den argentinischen Regierungschef aufgetaucht. Von Uruguay aus hat sich der bekehrte Tabaré Vázquez zu einem guten Kollegen von Macri gewandelt, er verspricht gute Beziehungen. Noch vor einigen Jahren stand Vázquez kurz davor, US-Präsident George Bush wegen des Konfliktes um die Zellstofffabrik Botnia und des Widerstandes der Bevölkerung von Gualeguaychú um militärische Unterstützung für den Krieg gegen Argentinien zu bitten11.

Diese ganze macristische Offensive kann ohne wesentliche Hindernisse umgesetzt werden. Bekanntlich hat die Frente para la Victoria eine Mehrheit im Senat und einen guten Prozentanteil an Abgeordnetensitzen. Sie zeigt aber über einige Verlautbarungen und Drohungen hinaus keine Entschlossenheit, den Kongress zu außerordentlichen Sitzungen einzuberufen. Die einen verharren däumchendrehend mitten in dem großflächigen Präriebrand, den der Macrismus entzündet hat. Die anderen lassen sich auf schamlose Weise von der Regierung einbinden und arbeiten außerdem dem ehemaligen Kirchneristen Sergio Massa zu. Er ist ein Verbündeter des Macrismus, der in unheiliger Absicht mit einigen Gouverneuren und Ex-Funktionären kungelt, die ohne rot zu werden ihren Abgang vollzogen haben.

Schließlich ist da noch die Straße. Der Kampf auf der Straße. Dort, wo für gewöhnlich die Geschicke eines Landes entschieden werden, ohne weitere Spekulationen. Und es sind nicht wenige, die sich gegen die Disziplinierungsmanöver der Regierung wehren. Davon können verschiedene Basisgewerkschaften und soziale Organisationen berichten. Noch agieren sie in Reaktion auf die repressive Agenda der Casa Rosada12. Aber andere mit mehr Weitblick werden sich darüber klar, dass wenn sie ihre Kräfte nicht bündeln und nicht eine gewisse Koordinierung ihrer Kämpfe angehen, sich diese Zeit der arroganten Dekrete ausdehnen oder auch andere Formen annehmen könnte.

Der Schlüssel dafür, dass das Gefüge eines angemessenen Widerstandes funktioniert könnte vielleicht darin liegen, die Kraft eines breiten ideologischen Spektrums zu entfalten. Das müsste von unten kommen und links vom aktuellen System verortet sein. Streitbar und auf hohem ideologischen Niveau. Ein Bogen, unter dem alle Platz haben, auch die tausende jungen Kirchneristen. Die einen wie die anderen müssten stets in aller Bescheidenheit begreifen, dass im Kampf gegen diese pro-imperialistische Rechte niemand von vorne herein die Führung hat und man verstehen muss, dass am 10. Dezember 201513eine neue Epoche begonnen hat, der man nicht unbedingt mit Ausdrücken rückwärts gewandter Wunschvorstellungen entkommen kann.

Carlos Aznárez aus Argentinien ist Journalist, Autor und Herausgeber der Zeitschrift Resumen Latinoamericano. Der Beitrag erschien am 8. Januar 2016 im Periódico 4F, Venezuela und in der digitalen Ausgabe von Resumen Latinoamericano

  • 1. Decretos de Necesidad y de Urgencia
  • 2. Abschätzige Bezeichnung für rechte Oppositionelle in Venezuela
  • 3. Nach dem kolumbianischen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe benannte rechtsgerichtete politische Strömung
  • 4. Macri war seit Dezember 2007 Oberhaupt der argentinischen Hauptstadt, die als "autonome Stadt" einer der argentinischen Gliedstaaten ist
  • 5. Cristina Fernández de Kirchner war von 2007 bis 2015 Präsidentin, ihr Ehemann, Nestór Kirchner von 2003 bis 2007 Präsident von Argentinien
  • 6. Als ñoqui wird in Argentinien ein Angestellter bezeichnet, der nichts tut und nur abkassiert; das K steht in diesem Zusammenhang für Kirchner
  • 7. Carlos Menem war von 1989 bis 1999 Präsident Argentiniens
  • 8. Die Frente para la Victoria ist ein Mitte-links Parteienbündnis und war mit Cristina Fernández und Nestor Kirchner seit 2003 an der Regierung
  • 9. Als Folterzentrum der argentinischen Militärdiktatur von 1976-1983 berüchtigte Einrichtung, die heute als Museum und Gedenkstätte dient
  • 10. Venezolanische Oppositionspolitiker. López wurde wegen seiner Rolle bei blutigen Ausschreitungen von Oppositionsgruppen im Februar 2014 zu knapp 14 Jahren Haft verurteilt. Capriles Radonski ist aktuell Gouverneur von Miranda und war zweimal Kandidat des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit bei den Präsidentschaftswahlen
  • 11. Zwischen beiden Ländern gab es jahrelang heftigen Streit um die Errichtung einer großen Zellulosefabrik in Uruguay direkt am Grenzfluss
  • 12. Name des Präsidentenpalastes
  • 13. Amtsantritt von Macri